Nein, ich lebe nicht falsch — deswegen indes nicht notwendigerweise richtig.

Eine Kommentierung zur philosophischen Provokation „Du lebst falsch!“ von Wilhelm Reichart.

Mit dem klei­nen Büch­lein schickt sich je­mand an, sich ein­mi­schen zu wol­len — was auf ein we­nig Er­wi­de­rungs­lust des hier Kom­men­tie­ren­den stößt, der sich nun durch­aus pro­vo­ziert fühlt, zu ei­ni­gen Sät­zen des Au­tors, mit­hin dem Text als sol­chem, ein paar Ge­dan­ken in Wor­te und al­so Sät­ze zu pa­cken.

Wer die Phi­lo­so­phie an die Uni­ver­si­tät ver­bannt, ver­kennt ih­ren An­spruch auf All­ge­mein­gül­tig­keit.
S. 25

Mei­ne kon­tra-Aka­de­mik-Re­de seit lan­gem. „Ver­bannt“ er­scheint nun al­ler­dings et­was schwie­rig, denn ich den­ke nicht, dass es die nicht-Akademiker·n sind (hier nun auch je­ne aka­de­misch gra­du­ier­ten, die nicht an ei­ner Uni­ver­si­tät als For­schen­de und/oder Leh­ren­de ar­bei­ten, ge­meint), die die Phi­lo­so­phie an die Uni ver­ban­nen und so aus dem All­tags­le­ben aus­schlie­ßen. Ich den­ke eher, dass die Aka­de­mie im Gro­ßen und Gan­zen da­zu ten­diert, ei­ne Kul­tur des Phi­lo­so­phi­schen nur für sich zu ze­le­brie­ren, so dann das Phi­lo­so­phi­sche an In­sti­tu­ten ein­sperrt, auch um sich ei­ner Wis­sen­schaft­lich­keit zu rüh­men und sich mit­hin als au­to­ri­tä­re „Mut­ter al­ler Wis­sen­schaf­ten“ zu ge­rie­ren, ih­re Au­to­ri­tät als re­le­van­te Grö­ße in le­bens­prak­ti­scher Hin­sicht da­bei preis­ge­bend. Wer sich da ’raus wagt (wie ein Pe­ter Bie­ri, bei­spiels­wei­se, viel­leicht auch ein Ri­chard Ror­ty), muss da­mit rech­nen, von sei­nes- wie ih­res­glei­chen nicht mehr ernst ge­nom­men zu wer­den. Aus­ge­nom­men sind da wohl je­ne Berufsphilosoph·n, die sich ne­ben der aka­de­mi­schen Tä­tig­keit in die Nie­de­run­gen der (mehr oder we­ni­ger po­pu­lä­ren) Pu­bli­zis­tik be­ge­ben: Hier ist Neid auf Be­ach­tungs­er­folg bei den we­ni­ger öf­fent­lich Agie­ren­den dann wohl nicht aus­ge­schlos­sen. (Der Kom­men­ta­tor be­ruft sich bei die­ser The­se dar­auf, dass Mut­ma­ßen ja wohl nicht ver­bo­ten ist.) Von öko­no­mi­schem Er­folg, wie ihn ein Wil­helm Schmid wohl rea­li­sie­ren konn­te, ganz zu schwei­gen. Gut, es gibt auch Ver­tre­ter und ‑in­nen wie ei­nen R. D. Precht, bei­spiels­wei­se, der sich, mit mei­nen Au­gen be­schaut, vor al­lem da­mit aus­zeich­net, sich präch­tig dar­stel­len zu kön­nen (was nichts über dar­ge­stell­te In­hal­te sagt). Den­noch sind auch sol­che Re­prä­sen­tan­ten ‚ge­mei­ner‘ – in die­sem Sin­ne: po­li­ti­scher, all­täg­li­cher – Kul­tur des Phi­lo­so­phi­schen Mög­lich­kei­ten für ei­nen be­lie­bi­gen Men­schen, das Phi­lo­so­phi­sche in sein oder ihr Le­ben zu las­sen und die­ser wie die­se es so wa­gen könn­te, sich sei­ne und ih­re Art und Wei­se da­von zu kul­ti­vie­ren.

Sie in­ter­pre­tie­ren die For­de­rung, auf Wohl­stand zu ver­zich­ten, als At­ta­cke auf ihr Selbst­be­stim­mungs­recht.
S. 38

Das le­se ich als Kern­punkt des Tex­tes her­aus, der Kon­nex von Wohl­stand und Selbst­be­stim­mungs­recht. Ein Ver­such der Über­set­zung vor psy­cho­lo­gi­schem Hin­ter­grund­rau­schen: Der Wohl­stand wird als ein, viel­leicht gar das, Sym­ptom der Selbst­wirk­sam­keit ver­stan­den. Mehr soll da­zu hier nicht plat­ziert wer­den. Wo der Text recht hat, hat er ein­fach recht. Da gibt’s nicht mehr zu kom­men­tie­ren, au­ßer man will Text­zei­len fül­len, da­mit ein Ab­satz nicht gar so dünn da­her­kommt.

Doch die von den po­li­ti­schen Geg­nern re­gel­mä­ßig auf­ge­stell­te Be­haup­tung, ra­di­ka­ler Um­welt­schutz sei ideo­lo­gi­sie­rend, ent­kommt in ih­rem Au­to­ma­tis­mus nur schwer dem Ver­dacht, selbst ideo­lo­gi­sie­rend zu sein.
S. 41

Hier ver­merkt der Text in der Tat ein Zeit­phä­no­men, wel­ches nun al­ler­dings wohl zu al­len Zei­ten gilt: Je kom­ple­xer die La­ge, je un­be­stimm­ter die Zu­kunft, um­so mehr ha­ben Ideo­lo­gien, ganz all­ge­mein, Hoch­kon­junk­tur. Ob nun ei­ne Ideo­lo­gie der/des Rech­ten, der/des Lin­ken, der Mit­te, des Ka­pi­tals, des So­zia­len, des Glau­bens, der Macht, der De­mo­kra­tie, des Au­to­ri­ta­ris­mus, des Den­kens, des Han­delns, der In­di­vi­dua­li­tät, der Ra­tio­na­li­tät, …, das ist letzt­lich völ­lig be­lie­big. Ideo­lo­gien ver­schaf­fen Grün­de in ei­nem va­gen, ne­bu­lö­sen Um­feld, so, dass man sich auf fes­tem Bo­den glaubt und sich al­so ori­en­tiert fühlt, zu­min­dest in der Ver­ti­ka­len: Wer Grund hat, kann auf­recht ste­hen. Und dass die­se kul­tür­li­chen Grün­de dann als na­tür­li­che Ur­sa­chen in­ter­pre­tiert wer­den, kann dann mit dem Punkt auf S. 38 re­la­tio­niert wer­den. Und auch der Punkt auf S. 25 ist hier an­ge­spro­chen: Ge­ra­de die aka­de­mi­sche Kul­tur des Phi­lo­so­phi­schen ist doch oft­mals sehr dar­in be­müht, Grün­de wie Ur­sa­chen zu be­han­deln und so zu Vor­her­sa­gen zu kom­men, oder nicht? Wo­zu sonst soll­te man Wis­sen schaf­fen, wenn nicht um in die Zu­kunft zu schau­en und die dort hau­sen­de Un­be­stimmt­heit zu re­du­zie­ren und/oder uni­ver­sel­le ethi­sche Wahr­hei­ten zu pro­du­zie­ren à la Gra­vi­ta­ti­on oder »der be­stirn­te Him­mel« über ei­nem (was ja letzt­lich Ver­hal­ten von In­di­vi­du­en vor­her­sag­ba­rer macht; al­so das Uni­ver­sel­le, nicht die Gra­vi­ta­ti­on oder die Ster­ne …)? Es ist ei­ne sehr zu kri­ti­sie­ren­de An­ma­ßung mo­der­nen, auf­ge­klär­ten, Den­kens, der Na­tur „Ge­set­ze“ ge­ben zu wol­len. Na­tür­lich rhyth­mi­sie­ren­de Re­gel­mä­ßig­kei­ten sind es, die wir Takt-Men­schen be­ob­ach­ten kön­nen und so soll­ten sie dann auch be­nannt wer­den. Statt das Wort „Ge­setz“ ins Spiel zu brin­gen, was ein will­kür­li­cher Akt, ei­ne kul­tür­lich ge­setz­te, ver­ein­bar­te, Re­gel­mä­ßig­keit dar­stellt … der Ge­dan­ke muss hier jetzt ver­si­ckern, ich schweif­te ab, sor­ry …

Der Zweck von In­for­ma­ti­ons­wis­sen be­steht dar­in, pro­ba­te Mit­tel zu Er­halt und Stei­ge­rung der mensch­li­chen Le­bens­tüch­tig­keit be­reit zu stel­len. […] Re­fle­xi­ons­wis­sen ist eher im geis­tes­wis­sen­schaft­li­chen Be­reich an­ge­sie­delt und führt auf­grund sei­ner be­grenz­ten prag­ma­ti­schen An­wend­bar­keit zu­neh­mend ei­ne Rand­exis­tenz.
S. 49

Hier wird, „walk in my shoes“, et­was mit­ein­an­der in Be­zie­hung ge­bracht, ver­gli­chen, was in­des wohl nicht so recht pas­sen möch­te. Das vom »In­for­ma­ti­ons­wis­sen« („Fak­ten­wis­sen“) un­ter­schie­de­ne »Re­fle­xi­ons­wis­sen« ist doch, recht ei­gent­lich, kein Wis­sen — von da­her wird da ver­sucht, in bild­li­che Spra­che ge­setzt, nicht ei­nen Ap­fel mit ei­ner Bir­ne, son­dern ei­nen Ap­fel mit ei­nem Stein in Be­zie­hung zu set­zen. Kann ge­macht wer­den, doch so recht stim­mig wird das dann nicht. Re­fle­xi­on kann kein Wis­sen ver­schaf­fen, wohl in­des ei­ne Mei­nung, die es dann zu prü­fen gilt, in­wie­weit sie Wirk­lich­keit re­prä­sen­tie­ren kann oder ei­ne ‚ei­gen­ge­mei­ne‘ und/oder all­ge­mei­ne wün­schens­wer­te Wirk­lich­keit {er-|ver-}schaffen kann. Und ei­ne Mei­nung ist nichts an­de­res, so sei es hier re­flek­tiert, als ein ‚Hen­kel‘ zur Wirk­lich­keit. Ein In­stru­ment, um sich zur Wirk­lich­keit ver­hal­ten zu kön­nen, in ei­ne Re­la­ti­on mit ihr zu tre­ten, auf sie be­zo­gen zu sein. Ob die Mei­nung „wahr“ ist oder nicht – in die­sem Sin­ne: ra­tio­nal – spielt hier­bei letzt­lich kei­ne Rol­le, denn es geht zu­nächst um ir­gend­ei­ne Art der Hand­hab­bar­keit, »Zu­han­den­heit«, so­zu­sa­gen. Wer in der Welt agie­ren will, hat sich mit ihr in ein Ver­hält­nis zu set­zen. Und steht Mensch Phä­no­me­nen wie dem Kli­ma­wan­del, Krie­gen und sons­ti­gen – lu­xe­riö­sen oder exis­ten­zi­el­len — Kri­sen ge­gen­über, neigt er da­zu, die­ser sich durch Fak­ten­wis­sen, „Wahr­heit“, zu er­mäch­ti­gen, um die­se kon­trol­lie­ren zu kön­nen. Doch mit zu­neh­men­der Kom­ple­xi­tät wer­den die so der Wirk­lich­keit ab­ring­ba­ren Wahr­hei­ten für ein In­di­vi­du­um ste­tig dün­ner und im­mer mehr Men­schen sind mehr und mehr auf Mei­nung an­ge­wie­sen, um nicht völ­lig ta­ten­los zu­se­hen zu müs­sen, was pas­siert, so in ei­ne Re­si­gna­ti­on zu fal­len und sich als Op­fer zu in­sze­nie­ren. Der Aus­weg aus ei­ner Kom­ple­xi­täts­in­fla­ti­on durch die Eta­blie­rung ei­ner Ex­per­to­kra­tie, in der nur Wis­sen zählt und Mei­nung sich gänz­lich er­üb­rigt hat, be­dient wohl ei­ne Skla­ven­mo­ral des Men­schen im All­ge­mei­nen und ei­ne falsch ver­stan­de­ne Her­ren­mo­ral ei­ni­ger we­ni­ger Wis­sen­den.

Wie auch im­mer.
S. 53

Der Text, der in to­to wohl nach ei­ner neu­en Ge­sell­schafts­theo­rie ruft, um nicht zu sa­gen: sie for­dert – de­ren Grund­zü­ge sich für mich aus dem Text nicht grif­fig er­ga­ben, von For­de­run­gen nach Be­schrän­kung und Ver­zicht ab­ge­se­hen, doch das ist ja nun nicht theo­re­tisch, son­dern höchst prak­tisch –, hin­ter­lässt beim Kom­men­ta­tor am En­de den Ein­druck der Re­si­gna­ti­on und es bleibt dem Text nur noch der – nun et­was ma­ger er­schei­nen­de, Ver­zweif­lung kund­tuen­de – Auf­ruf zur Pro­vo­ka­ti­on. Doch Pro­vo­ka­tio­nen ha­ben mei­nem Er­ach­ten nach die Welt noch nie ver­än­dert, eher schaf­fen sie Wi­der­stand und sor­gen so für ei­ne Er­här­tung des Be­stehen­den (Lem­ma: Ideo­lo­gie), was als Ver­än­de­rung wahr­ge­nom­men wer­den kann. Die Kunst ei­ner leh­ren­den, bil­den­den, Kul­tur des Phi­lo­so­phi­schen soll­te dar­in be­stehen, von der lust­voll-au­to­ri­tä­ren Pro­vo­ka­ti­on zur ver­schmitzt-edi­fi­ka­ti­ven Evo­ka­ti­on zu rei­fen: In Men­schen den Ge­dan­ken evo­zie­ren zu las­sen, statt ihn di­rekt pro­vo­zie­ren zu wol­len, dass am ei­ge­nen Le­ben durch­aus et­was ver­än­dert wer­den kann. Und man auch da­zu frei ist und ganz ne­ben­her, idea­li­ter: un­be­wusst, die Be­din­gun­gen des ei­ge­nen na­tu­rel­len wie kul­tu­rel­len Ha­bi­tats auch für al­le an­de­ren ver­bes­sern kann. Man könn­te viel­leicht sa­gen: Die Welt re­pa­rie­ren kann, oh­ne sie ver­bes­sern zu wol­len. Wor­in dann ein über­ra­schen­der Ge­winn liegt! Iro­nie der Frei­heit, so­zu­sa­gen: Na­tür­li­che, selbst­ver­ständ­li­che Selbst­wirk­sam­keit, die als sol­che über­haupt nicht mehr ins Be­wusst­sein zu tre­ten braucht — man muss sich sei­ner Wirk­lich­keit nicht ver­ge­wis­sern, weil man nicht an ihr zu zwei­feln braucht. Wo­mit die Ver­zweif­lung ver­schwin­det und nicht ei­ner be­stimm­ten Hoff­nung, ei­nem an­vi­sier­ten Ide­al – ent­stan­den aus tra­dier­ten Über­zeu­gun­gen –, da­für in­des der Fä­hig­keit zur Iden­ti­fi­ka­ti­on und Rea­li­sie­rung ei­ner un­ter vie­len an­de­ren noch un­be­stimm­ten Mög­lich­kei­ten für ei­ne an­de­re Wirk­lich­keit hier und jetzt Fak­ti­zi­täts­po­ten­ti­al ver­schafft — um nicht zu sa­gen: sich da­zu über­re­den lässt.

Da­mit ge­nug der Kom­men­tie­rung, es gä­be noch ei­ni­ges zu zei­gen, es sei nun da­mit be­wen­det, ist schon um­fang­reich ge­nug. Wem Ana­ly­tik liegt und sich von pro­vo­kan­ten, viel­leicht ver­stö­ren­den, Ver­zichts­for­de­run­gen nicht ab­schre­cken lässt, für je­ne könn­te sich die Lek­tü­re loh­nen. An­de­ren In­ter­es­sier­ten sei sie an­emp­foh­len, um sich zur Übung ver­lei­ten zu las­sen, ei­ge­ne Mei­nung zu evo­zie­ren, oh­ne sie gleich als Wis­sen zu de­kla­rie­ren, son­dern sie im Dia­log da­zu rei­fen zu las­sen oder als Wind­ei zu ent­lar­ven. Trifft dann wo­mög­lich nicht ganz die In­ten­ti­on des Tex­tes, doch man könn­te dis­ku­ta­ble Punk­te fin­den, wo­mit ja schon viel ge­won­nen ist, nicht wahr? Und viel­leicht, nach­dem man sich der im Text dar­ge­bo­te­nen »Pro­ble­ma­tik ei­ner evo­lu­tio­nä­ren Welt­sicht« ge­wid­met hat, für sich die Fra­ge be­ant­wor­ten, in­wie­weit die Pro­vo­ka­ti­on tat­säch­lich ei­ne phi­lo­so­phi­sche ist — und nicht viel­mehr ei­ne so­zio­lo­gisch-po­li­ti­sche.

Reich­art, Wil­helm:
Du lebst falsch!
Ei­ne phi­lo­so­phi­sche Pro­vo­ka­ti­on.

Books on De­mand, 2023.
56 S., Ta­schen­buch, 7,90€;
e‑Book 5,99€.

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Kunst und Kultur der Doxa

Christian Bermes: Meinungskrise und Meinungsbildung. Ein Lektüreeindruck.

Mit wach­sen­der Be­geis­te­rung las ich den, be­reits in zwei­ter Auf­la­ge er­schie­ne­nen, Es­say von Christian Bermes, Phi­lo­so­phie-Pro­fes­sor an der RPTU, Cam­pus Land­au. Wohl nicht zu­letzt des­halb, weil ich vie­le mei­ner ei­ge­nen Ge­dan­ken zu „Mei­nung“ dort wie­der­fand — durch­aus ei­ne Be­stä­ti­gung. Das er­freut ei­nen ja stets, die ei­ge­nen Ge­dan­ken bei frem­den Geis­tern wie­der­zu­ent­de­cken.

Das Buch konn­te ich kei­nes­falls als ei­nes le­sen, das mir sagt, was ich mei­nen soll oder wie ich mei­nen soll. Für mich war es eher ex­em­pla­risch für „wie ge­dacht wer­den kann“, da­bei nun eben ei­ne Wei­se – ne­ben an­de­ren, die da be­stimmt exis­tie­ren – dar­stel­lend.

„Ex­em­pla­risch“ ist denn auch ei­nes der Schlüs­sel­wor­te mei­ner Lek­tü­re. Ein Satz, der in ver­schie­de­nen Va­ria­tio­nen im­mer wie­der in Er­schei­nung tritt und sich zu Recht wie ein ro­ter Fa­den durch den Text zieht, lau­tet:

Ei­ne Mei­nung als Mei­nung ver­ste­hen heißt, mit Ex­em­pla­ri­schen als In-Sze­ne-set­zen un­ter den Be­din­gun­gen ei­ner teil­neh­men­den Er­pro­bung von Aspek­ti­vi­tät um­zu­ge­hen.

Ein recht theo­re­ti­scher Satz, doch der Au­tor lässt das Prin­zip des Ex­em­pla­ri­schen auch in sei­nem Text wal­ten. Im­mer wie­der, ein zwei­ter ro­ter Fa­den, wer­den die sti­lis­tisch si­cher ge­setz­ten Wor­te der Theo­rie durch Bei­spie­le er­läu­tert („Kat­zen wach­sen nicht auf Bäu­men.“) und so auch den Un­be­hauch­te­ren von aka­de­mi­scher Phi­lo­so­phie ein Zu­gang zum Ge­dan­ken ver­schafft. Was schert es auch ei­nen Ge­dan­ken, wel­che Klei­der er trägt? Sicht­bar will er wer­den, ob nun in kö­nig­li­cher Ro­be der Theo­rie oder in den Lum­pen des Ex­em­pels. Un­ter bei­den Klei­dern steckt der glei­che Ge­dan­ke, um den es geht. Mei­ner Lek­tü­re nach: Die­ser Akt auf das We­sen des Ge­dan­kens zu ver­wei­sen ist auch ge­lun­gen.

Frei­lich merk­te ich dem Text schon auch an, es mit ei­nem Pro­fes­sor der Phi­lo­so­phie zu tun zu ha­ben, da wird bei­läu­fig ein Ver­ständ­nis­rah­men zur Phä­no­me­no­lo­gie und Phi­lo­so­phi­schen An­thro­po­lo­gie ver­mit­telt. Nicht zu tief, frei­lich, ge­ra­de das für’s Ver­ständ­nis des Tex­tes er­for­der­li­che Quan­tum, doch da­bei eben auch nicht seicht. Der Text stellt schon auch An­sprü­che an die Le­ser­schaft. Doch Professor*n sind nun mal eben auch, und so soll es ja wohl auch sein und der Job bringt es halt mit sich, Leh­ren­de1⇣Für In­si­der: Sen­s­ei-Prin­zip — und nicht nur be­am­tet be­atme­te Wissensverschaffer*n.

Doch Be­fürch­tun­gen ei­ner phi­lo­so­phisch un­aka­de­mi­sier­ten Le­ser­schaft, am Text zu schei­tern, sind schwer­lich aus­zu­ma­chen, auch wenn der Ti­tel als phi­lo­so­phi­scher und nicht als Wald-&-Wiesen-Essay fir­miert. Das nun frei­lich ein ge­wag­ter Zug im aka­de­mi­schen Spiel, sich mit li­te­ra­ri­scher Phi­lo­so­phie – nen­nen wir mal das Gen­re, un­ter der die­se Form der Es­say­is­tik wohl ein­ord­bar ist, so – in die Nie­de­run­gen des pro­fa­nen Den­kens zu be­ge­ben. Doch nicht aus Ver­se­hen ge­lang­te der Ti­tel auf die Short­list des trac­ta­tus-Prei­ses 20222⇣Link­samm­lung, ne­ben Ti­teln von Peter Sloterdijk und Jörg Scheller. Der trac­ta­tus Preis steht nach ei­ge­nen Be­kun­den des „Phi­lo­so­phi­cum Lech“ für ei­ne als Text ver­fass­te Phi­lo­so­phie, die sich am Ra­pun­zel­haar all­ge­mei­ner Ver­ständ­lich­keit vom El­fen­bein­turm her­ab­lässt und sich unter’s Volk mischt, um mit ihm zu den­ken3⇣Link­samm­lung. Durch­aus all­tags­taug­lich. Herr Wittgenstein lässt schön grü­ßen, wohl.

Mei­ne Lek­tü­re ver­miss­te ei­ne mich be­frie­di­gen­de Er­läu­te­rung zum Wort „Do­xa“, die­se re­zen­sio­na­le Kri­tik sei er­laubt, da­bei nicht aus­schlie­ßend, bei der ein­ma­li­gen Lek­tü­re et­was über­le­sen zu ha­ben. Bei Hanna Arendt konn­te ich fün­dig wer­den und zur Vo­ka­bel „schei­nen“ ge­lan­gen4⇣Link­samm­lung, was der Mei­nung wohl auch ih­ren zwei­fel­haf­ten Ruf be­scher­te als „Schall-und-Rauch-Äu­ße­rung“ und es so von ei­nem auf­klä­re­ri­schen Geist, dem es nach Wis­sen dürs­tet, auf dass er die Welt vor­her­sa­gen kön­ne, ger­ne in ei­ne Schmud­del­ecke gleich ne­ben dem Glau­ben ge­stellt wur­de. Doch „schei­nen“ im Sinn der Do­xa er­scheint mir nun als ein ganz we­sent­li­ches Mo­ment im Um­gang mit „Mei­nung“. Wo­mit nun, mit mei­nen Au­gen be­trach­tet, try to walk in my shoes, auf ei­ne zwei­te zen­tra­le Wen­dung hin­ge­wie­sen wer­den kann: »Ent­schie­de­ne Un­ent­schie­den­heit«. Die­se Hal­tung, die ei­ne Mei­nung eben als et­was Schwe­ben­des auf­fasst, Un­ent­schie­den eben, auf Pro­be, Aspek­te wä­gend, und stets in der Mü­he­wal­tung, die­se Schwe­be zu hal­ten. Letzt­lich: Ur­teils­ent­hal­tung. Durch­aus ein zen­tra­ler Be­griff der phä­no­me­no­lo­gi­schen Me­tho­de. Und aus die­ser Ur­teils­ent­hal­tung her­aus eben das Ge­viert ei­nes The­mas er­schlie­ßend. Mei­nen, der Ex­plo­ra­tor des Ge- wie Ver­mein­ten.

Ein wei­te­rer Clou ist das Wort „Stel­lung“:

›Le­ben‹ ist, wie Pless­ner es pro­non­ciert aus­führt, si­cher­lich das er­lö­sen­de Wort im Über­gang zum 20. Jahr­hun­dert für die Phi­lo­so­phi­sche An­thro­po­lo­gie, viel­leicht so­gar auch noch heu­te. Die Schlüs­sel­wör­ter die­ser Dis­zi­plin sind je­doch ›Stel­lung‹ und ›Stel­lung­nah­me‹ bzw. ›Stel­lung­neh­men‹. Will man die Phi­lo­so­phi­sche An­thro­po­lo­gie nicht mit al­len mög­li­chen Vor­an­nah­men von au­ßen über­frach­ten – und die Fra­ge nach dem Men­schen bie­tet sich da­für wie kei­ne an­de­re an –, dann ist es rat­sam, das Vor­ha­ben we­ni­ger von au­ßen zu be­wer­ten als aus dem Ma­schi­nen­raum der Phi­lo­so­phi­schen An­thro­po­lo­gie her­aus zu be­grei­fen. Und hier zeigt sich, dass die Phi­lo­so­phi­sche An­thro­po­lo­gie zu­vör­derst als ei­ne Phi­lo­so­phie des Stel­lung­neh­mens ver­stan­den wer­den kann.

Und das Mei­nen so dann flugs als grund­le­gen­de Dis­zi­plin des Mensch­seins in kul­tu­rel­ler und po­li­ti­scher Hin­sicht auf­ge­fasst, denn stets sind wir zu den Din­gen re­la­tio­niert, die uns um­ge­ben, sei’s als Sa­che, sei’s als An­sicht. Wir sind zum Stel­lung ein­neh­men ver­dammt – der mi­li­ta­ris­ti­sche An­klang sei nicht ver­hehlt, wie oft lau­fen De­bat­ten als Ge­fech­te, als gin­ge es um ei­nen Sieg, der zu er­rin­gen und der An­de­re als „Geg­ner“ zu eli­mi­nie­ren sei. Auf­ein­an­der be­zo­gen sein, als con­di­tio hu­ma­na ver­stan­den, wes­we­gen es nicht ge­lehrt wer­den kann, son­dern zu üben ist. Meint je­den­falls der Ver­fas­ser die­ser Zei­len hier.

Und, hier sei auf ein er­fri­schen­des Le­se­er­leb­nis hin­ge­wie­sen, wie leicht für ein as­so­zi­ier­freu­di­ges, äs­the­ti­sches Ge­müt es mit dem Text mög­lich ist, „In-Sze­ne-set­zen“ und „Stel­lung“ zu ver­knüp­fen. Und um das nun recht ein­zu­ord­nen, sei auf den Un­ter­schied zur In­sze­nie­rung hin­ge­wie­sen. In­sta­gramm5⇣»Kern des An­ge­bots ist ei­ne Mi­schung aus Mi­cro­blog und au­dio­vi­su­el­ler Platt­form. Nut­zer kön­nen ih­re Fo­tos und Vi­de­os be­ar­bei­ten und mit Fil­tern … Wei­ter­le­sen… ist In­sze­nie­rung, Be­Re­al6⇣»Ein­mal am Tag wer­den al­le Be­nut­zer gleich­zei­tig zu ei­ner täg­lich wech­seln­den Uhr­zeit auf­ge­for­dert, in­ner­halb von 2 Mi­nu­ten ein Fo­to so­wohl mit der … Wei­ter­le­sen… In-Sze­ne-sein — zu­min­dest wohl den Ideen die­ser Ak­teu­re „so­zia­ler Me­di­en“ (Bei­läu­fig: Wel­ches Me­di­um ist denn nicht so­zi­al?) nach. Im Text wird Be­zug ge­nom­men auf ei­nen Au­tor, Wolfram Hogrebe, der zur sze­ni­schen Ver­fasst­heit des Men­schen ei­ni­ges zu sa­gen hat7⇣Z.B. im Buch »Sze­ni­sche Me­ta­phy­sik«.

Wei­te­res be­mer­kens­wer­tes Lem­ma für den hier über das Buch sin­nie­ren­den Text ist „Re­zi­pro­zi­tät“. Kommt wie­der recht aka­de­misch da­her – doch wie ge­sagt: schon auch, wenn auch be­wäl­tig­ba­rer, An­spruch an die Le­ser­schaft – und der Du­den er­klärt: »Gegen‑, Wech­sel­sei­tig­keit, Wech­sel­be­züg­lich­keit«. Dies nun, man stau­ne, ein zen­tra­les Mo­ment manch’ bud­dhis­ti­scher Phi­lo­so­phie und Pra­xis. Wes­halb nun die­ser in­ter­kul­tu­rel­le Hin­weis? Zum ei­nen, weil es lohnt dar­auf hin­zu­wei­sen, dass der Au­tor des Es­says Be­rüh­rungs­punk­te mit Chi­na hat und ich als in­ter­kul­tu­rell be­schla­ge­ner Le­ser doch hin und wie­der den Blick über den ei­ge­nen Kul­tur­rand im Text mein­te be­mer­ken zu kön­nen, zwi­schen­zei­lig. Und weil der kul­tu­rell-tran­szen­den­te Fin­ger­zeig dem hier Sin­nie­ren­den als wert­voll er­scheint, denn „Mei­nen“, so kann aus dem Text ‚ge­le­sen‘ wer­den wie die Trau­ben im Wein­berg, ist et­was, das sich zwi­schen Men­schen er­eig­net. So ge­se­hen be­kommt der Schrei­ber die­ser Zei­len ur­plötz­lich Schwie­rig­kei­ten, noch von „mei­ner Mei­nung nach“ ver­nünf­tig re­den zu kön­nen. Wenn Mei­nen et­was ist, das zwi­schen Men­schen ent­steht und die Be­tei­lig­ten so je ih­re Mei­nung bil­den kön­nen — dann soll­te man die­ses Mei­nen schau­en und es un­ter das Dach der Theo­rie stel­len, wenn auch viel­leicht ir­gend­wo eher am Rand. Mei­nen als Theo­re­ti­sie­ren mit zu­min­dest in­ter­sub­jek­ti­ven An­spruch? Da staunt die Lai­en­schaft und der Fach­mensch­heit wun­dert sich!

Und für die­se Re­zi­pro­zi­tät ist es nun für al­le Sei­ten un­er­läss­lich, zum An­de­ren Di­stanz ein­zu­neh­men. Nicht zu nah, man will ja nie­man­den auf die Pel­le rü­cken, nicht zu weit, man will ja nie­man­dem in­dif­fe­rent über­se­hen. So fin­det der Text des Bu­ches das schö­ne Wort „Halb­di­stanz“, um der für das ge­mein­sa­me Mei­nen un­er­läss­li­chen Ach­tung Aus­druck und Raum zu ge­ben. Ein Zwi­schen­reich, ein Me­ta­xy, das sich da den Wil­li­gen er­öff­net.

Über das Buch in sach­li­cher und fach­li­cher Hin­sicht zu ur­tei­len, über­las­se ich ge­trost je­nen, die sich da­zu be­ru­fen füh­len. Dem Sin­nie­ren­den hier ging es um die Schaf­fung ei­nes Hen­kels, der zur ei­ge­nen Lek­tü­re an­regt und den Text „an­fass­bar“ macht. Mich hat der Text dann auch da­zu an­ge­regt, mir Ge­dan­ken zu ma­chen zum Mei­nen, vor al­lem frei­lich zum ei­ge­nen An­teil an die­sem, letzt­lich po­li­ti­schen, al­so zwi­schen­mensch­li­chen Akt. Und es hat sich für mich mit die­ser re­flek­tie­ren­den Lek­türe­hal­tung ge­zeigt, wie wich­tig das gut ge­üb­te Mei­nen, die Kul­tur und Kunst der Do­xa, ist, um in Wirk­lich­kei­ten, de­ren Kom­ple­xi­tät – wie ver­mut­lich im­mer schon – Zu­wachs er­fährt in vie­ler­lei Hin­sicht, auch oh­ne Wis­sen und Glau­ben ori­en­tiert sein zu kön­nen.

Das Mei­nen, so mein auf we­ni­ge Wor­te ein­ge­dampf­tes Re­sü­mee für die­sen m. E. n. wirk­lich le­sens­wer­ten Es­say, ist ein un­ter­schätz­ter Kom­pass.

Ber­mes, Chris­ti­an:
Mei­nungs­kri­se und Mei­nung­bil­dung.
Ei­ne Phi­lo­so­phie der Do­xa.

Mei­ner, Blaue Rei­he, Ham­burg, ²2022.
126 S., kar­to­niert, 14,90€
e_book: 9,99€

Re­fe­ren­ces
1 Für In­si­der: Sen­s­ei-Prin­zip
2 Link­samm­lung
3 Link­samm­lung
4 Link­samm­lung
5 »Kern des An­ge­bots ist ei­ne Mi­schung aus Mi­cro­blog und au­dio­vi­su­el­ler Platt­form. Nut­zer kön­nen ih­re Fo­tos und Vi­de­os be­ar­bei­ten und mit Fil­tern ver­se­hen.« [Link­samm­lung]
6 »Ein­mal am Tag wer­den al­le Be­nut­zer gleich­zei­tig zu ei­ner täg­lich wech­seln­den Uhr­zeit auf­ge­for­dert, in­ner­halb von 2 Mi­nu­ten ein Fo­to so­wohl mit der Front- als auch der Haupt­ka­me­ra des Mo­bil­te­le­fons auf­zu­neh­men. Die­se Fo­tos kön­nen (und sol­len) nicht be­ar­bei­tet wer­den, um den Be­nut­zer so „re­al“ wie mög­lich dar­zu­stel­len.« [Link­samm­lung]
7 Z.B. im Buch »Sze­ni­sche Me­ta­phy­sik«
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Jaspers Geist

Karl Jaspers: Vom europäischen Geist. Über Achtung und Freundschaft.

Ein gu­ter Freund hat mir die ge­druck­te Ver­si­on – ein merk­wür­di­ges Ge­fühl, ein Büch­lein in der Hand zu hal­ten, das 1947 in Nörd­lin­gen ge­druckt und in Mün­chen her­aus­ge­ge­ben wur­de; als hiel­te man Ge­schich­te in den Hän­den – ei­nes Vor­tra­ges von Karl Jaspers im Jahr 1946 zu­kom­men las­sen: »Vom eu­ro­päi­schen Geist«. Ein ge­halt­vol­ler Text, den Jaspers da ge­setzt hat. Sehr be­den­kens- und mehr­ma­li­ger Lek­tü­re wert, und sei­en es nur ein­zel­ne Ka­pi­tel. Da ist so man­ches zu le­sen und das nun aus ei­ner Per­spek­ti­ve, die die An­nah­men, die dort ge­macht wur­den, prü­fen kann. Sehr auf­schluss­reich, wie ich fin­de.

Vor dem ers­ten Welt­krieg galt die Ge­mein­schaft der eu­ro­päi­schen Na­tio­nen, die Ein­heit Eu­ro­pas als selbst­ver­ständ­lich. Es er­scheint uns wie ei­ne pa­ra­die­si­sche Zeit, als man oh­ne Paß aus Deutsch­land nach Rom fuhr und nur die Merk­wür­dig­keit fest­stell­te, daß, wenn man nach St. Pe­ters­burg fah­ren woll­te, man ei­nen Paß brau­che. (S. 5)

Die­se Be­trach­tung hier be­schäf­tigt sich nicht mit die­sem In­halt son­dern gibt ei­nen Ge­dan­ken wie­der, der bei der Lek­tü­re auf­tauch­te, und be­ginnt mit ei­nem „Al­ler­dings“: Die gro­ße Hür­de mei­nes Zu­gangs zu Jaspers sind des­sen Re­den von Gott, sein für mich et­was sehr un­durch­sich­ti­ges Ver­hält­nis zum Chris­ten­tum, und sei­ne Idee vom „lie­ben­den Kampf“. Es mag ein span­nungs­rei­ches Oxy­mo­ron sein, gut ge­meint, dem Men­schen in Sum­ma ge­recht wer­dend. Doch mir ge­fällt es nicht; ich den­ke: Wie kann man Krieg in ei­nen sol­chen Eu­phe­mis­mus set­zen? Ist das nicht et­was na­iv? Oder, in An­be­tracht der Jah­res­zahl des Druck­werks: Aus­druck ei­ner Ver­zweif­lung? Ein Ver­such das Gu­te im und des Men­schen ret­ten zu wol­len, und das im An­ge­sicht der phy­si­schen wie psy­chi­schen Trüm­mer­hau­fen?

Statt ei­nes Got­tes — wo­mit ich ei­nen hö­he­ren Wil­len im­pli­ziert se­he — ver­langt mir nach et­was wie „hei­li­ge Of­fen­heit“. Statt „lie­ben­den Kampf“ möch­te ich so et­was wie ein „wohl­wol­len­des, ver­bin­den­des Spiel“ se­hen. Und statt der „Lie­be“ – ein von Jaspers auch ger­ne ge­brauch­tes Wort, wie mich dünkt – schließ­lich, je­ner so schreck­lich über­la­de­nen Be­griff­lich­keit, die eben des­halb nicht mehr zu ver­ste­hen ist und in sei­ner Viel­deu­tig­keit nichts­sa­gend wird, wä­re mir die Re­de von „ach­ten­der Freund­schaft“ wün­schens­wert. Was ein Pleo­nas­mus wä­re, der da dem Oxy­mo­ron ent­ge­gen­ge­stellt wird.

De­ren dia­lek­ti­sches Ge­gen­stück mit­nich­ten die „ver­ach­ten­de Feind­schaft“ ist, son­dern hier mir ei­ne „gleich­gül­ti­ge Zu­ge­wandt­heit“ er­stre­bens­wert scheint und un­ter Men­schen – man kann ja nicht al­le mö­gen und von al­len ge­mocht wer­den – wohl un­aus­weich­lich. Ein Mensch, der nicht ge­ach­tet wird, wird so nicht ver­ach­tet, wenn er nicht be­ach­tet wird. Er soll, aus gu­ten per­sön­li­chen und pri­va­ten Grün­den wün­schens­wert, halt nur für’s ei­ge­ne Da­sein kei­ne Rol­le spie­len.

Zu­wei­len ein sehr schwie­rig zu rea­li­sie­ren­der An­spruch.

Ver­ach­tung und Feind­schaft sind da­ge­gen sim­pel, die Lie­be al­ler­dings hal­te ich da für ver­lo­gen.

Der An­spruch der Frei­heit ist da­her, nicht aus Will­kür, nicht aus blin­dem Ge­hor­sam, nicht aus äu­ße­rem Zwang zu han­deln, son­dern aus ei­ge­ner Ver­ge­wis­se­rung, aus Ein­sicht. Da­her der An­spruch, selbst zu er­fah­ren, ge­gen­wär­tig zu ver­wirk­li­chen, aus ei­ge­nem Ur­sprung zu wol­len durch Su­chen des An­kers im Ur­sprung al­ler Din­ge. (S. 10)

Wer sich dem Selbst­sein (ganz un­iro­nisch sei schon hier, dem nächs­ten Zi­tat vor­grei­fend, dar­auf hin­ge­wie­sen, dass in „Kom­mu­ni­ka­ti­on“ „Uni­kat“ steckt) ver­wei­gert (al­so: sei­nem Lei­den und des­sen Über­win­dung, d. i. Exis­tenz), und so (es hie­ße, sich sei­ner Exis­tenz be­rau­ben zu müs­sen) das Lei­den ver­nich­ten will (z. B. durch Preis­ga­be des in­di­vi­du­el­len Selbst in ei­ne Her­de Unselbst(ändiger)iger, Un­mün­di­ger, an­ge­führt von ei­nem ir­rea­len, ideo­lo­gi­schen, kol­lek­ti­schen, über­grif­fig al­les ver­ein­nah­men wol­len­den „Über­selbst“, das al­le Schuld für’s je ei­ge­ne Lei­den auf all je­ne An­de­ren lädt, die sich ei­ner sol­cher Ideo­lo­gie nicht un­ter­stel­len wol­len, ihr nicht die­nen wol­len, die, die sich der Ver­skla­vung durch eit­le Dumm­heit wi­der­set­zen), kann von mei­ner Sei­te her nichts Bes­se­res er­war­ten als mür­ri­sche In­dif­fe­renz, im Schlech­tes­ten ent­nerv­te Ab­ge­wandt­heit. Das Übel nur: Die­se Ges­ten wer­den von je­nen – für mich letzt­lich: eben auch, nicht nur, selbst­ver­schul­det Elen­den, Mi­se­ra­blen – nicht ver­stan­den. Denn, oh ihr blin­den Que­ren, ihr ver­blen­de­ten Ver­schwö­rungs­gläu­bi­gen und al­le de­ren An­ver­wand­te, al­so all ihr Fröm­meln­den, gleich wel­chen Glau­bens: Ihr schafft euch selbst die Welt, die ihr nicht wollt. Die ihr ver­ach­tet. Doch ihr seid of­fen­bar der­art da­mit be­schäf­tigt, eu­er per­sön­li­ches Lei­den zu ver­nich­ten, dass ihr den Blick auf je­ne, die euch be­nut­zen für ih­re ei­ge­ne Ver­nich­tung ih­res per­sön­li­chen Lei­des, mit ei­ner ro­sa­ro­ten Bril­le ver­klärt, zu Wis­sen­den er­hebt und so blind in eu­er selbst ge­schaf­fe­nes Un­glück lauft. Frei­lich be­rauscht vom Mor­phi­um des Glücks­ge­fühls, nun end­lich was zu gel­ten in die­ser Welt, Be­scheid zu wis­sen, be­ach­tet zu wer­den, wenn auch nur ver­ach­tend. Der Ka­ter wird furcht­bar, ihr wer­det es wohl selbst in Er­fah­rung brin­gen — wol­len.

Weil der Mensch nur frei sein kann, wenn sei­ne Mit­men­schen frei sind, muß er die sich iso­lie­ren­de, kom­mu­ni­ka­ti­ons­lo­se Frei­heit ver­wer­fen. Über­all, und auch in Eu­ro­pa, gab es das Aus­bre­chen der ein­zel­nen als Ere­mi­ten, Phi­lo­so­phen, Hei­li­ge, die, von der Welt nicht mehr be­trof­fen, ei­ne ho­he, be­wun­de­rungs­wür­di­ge per­sön­li­che Sou­ve­rä­ni­tät er­ran­gen. Aber kon­kre­te Frei­heit er­wächst nur im Mit­ein­an­der als Ver­wand­lung des Men­schen mit sei­ner Welt. (S. 14)

Doch wie ge­sagt: An­spruchs­voll. Stets lockt der ein­fa­che Weg der Ver­ach­tung. Dies letzt­lich die Spie­ge­lung des­sen, was mir da – wo­mög­lich aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den und den­noch nicht ak­zep­ta­bel und to­le­rier­bar – ent­ge­gen­ge­bracht wird von sol­cher­lei mir un­er­wünsch­ten Cha­rak­te­ren: die „dunk­le Sei­te der Macht“.

Der phi­lo­so­phisch erns­te Eu­ro­pä­er steht heu­te vor der Ent­schei­dung zwi­schen ent­ge­gen­ge­setz­ten phi­lo­so­phi­schen Mög­lich­kei­ten. Will er in die Be­schrän­kung fi­xier­ter Wahr­heit, der am En­de nur zu ge­hor­chen ist — oder will er in die gren­zen­los of­fe­ne Wahr­heit? (S. 30)

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Indie-Genialität

Andreas Weber: Indigenialität. Ein paar Gedanken zu etwas zutiefst Menschlichem.

Als Re­zen­si­on zu u.g. Buch des Dr. phil. und als Schrift­stel­ler und Jour­na­list so­wie als Hoch­schul­do­zent tä­ti­gen Au­tors An­dre­as We­ber kann die­ser Bei­trag wohl nicht an­ge­se­hen wer­den. Viel­mehr ist er ein Pro­to­koll ei­nes Ge­dan­ken­gan­ges, zu dem die Lek­tü­re des Tex­tes an­ge­regt hat.

Den In­halt des Bu­ches möch­te ich ger­ne mit „Was Sie schon im­mer über Weis­heit wis­sen woll­ten, aber nie zu fra­gen wag­ten.“ il­lus­trie­rend zu­sam­men­fas­sen. Das Buch kam mir manch­mal et­was arg pan­psy­chis­tisch, ir­gend­wie welt­fremd, ir­gend­wie eso­te­risch, viel­leicht für man­che auch schlicht­weg kin­disch, da­her. Und so hat­te ich mich in die­sen Mo­men­ten zu er­in­nern, dass es der Mensch ist, der den Din­gen Psy­che, See­le, Sub­jek­ti­vi­tät, al­so In­ner­lich­keit, zu ge­ben ver­mag und die­se selbst sie nicht ha­ben müs­sen. Dar­an ist nichts falsch, ge­nau­so we­nig wie dar­an et­was nur rich­tig ist. Die Fra­ge nach der Sinn­haf­tig­keit ei­nes sol­chen Den­kens, ei­ner sol­chen Welt­an­schau­ung, ei­ner sol­chen Hal­tung, ist zu stel­len.

Die Ant­wort auf ei­ne sol­che Fra­ge ist ei­ne öko­lo­gi­sche und kei­ne öko­no­mi­sche und gip­felt schließ­lich in der al­ten phi­lo­so­phi­schen Fra­ge nach dem Glück des Men­schen als In­di­vi­du­um ge­nau­so wie die nach dem Glück der Men­schen als Spe­zi­es. Das, manch’ Glau­ben nun fol­gend, da­von ab­hängt mit wel­chem Glück er über die Na­tur ob­wal­tet, die ihm zu be­herr­schen auf­ge­ge­ben wur­de, die er sich zum Un­ter­tan ma­chen sol­le – in den Wor­ten des Au­tors könn­te ge­sagt wer­den: Die zu ko­lo­nia­li­sie­ren Mensch von hö­he­rer Macht be­auf­tragt wur­de. Bzw. er sich da­zu be­ru­fen fühlt, sich selbst (als) hö­he­re Macht ge­bend. Die­se Per­spek­ti­ve kann öko­no­misch ge­nannt wer­den, die des Ge­gen­ein­an­ders, der Kon­kur­renz um Gü­ter, der Angst vor Man­gel und Tod. Die Öko­lo­gi­sche ist die der Ge­gen­sei­tig­keit, der »Ge­mein­gü­ter­wirt­schaft«, der Freu­de am Ge­nü­gen und am Le­ben.

Der Ge­dan­ke der Ge­gen­sei­tig­keit des Men­schen mit ei­ner be­leb­ten Na­tur – wo­zu auch Stei­ne zu zäh­len sind – durch­zieht den gan­zen Text. Stets mach­te er mich dar­auf auf­merk­sam, Na­tur und Kul­tur nicht in ei­ner Geg­ner­schaft, son­dern in ei­ner All­men­de, ei­ner Ver­sor­gung auf Ge­gen­sei­tig­keit ba­sie­rend, zu ver­ste­hen. Kul­tur ge­hört zur mensch­li­chen Na­tur, der Mensch ge­hört zur Na­tur, mit­hin ist An­thro­po-Kul­tur als Na­tur auf­zu­fas­sen. Ein für mich äu­ßerst sym­pa­thi­scher Ge­dan­ke.

Der mich zum Sin­nie­ren brach­te. In­wie­weit ist ein sol­ches Ge­gen­sei­tig­keits­prin­zip in der Po­li­tik, na­ment­lich des­sen, was im All­ge­mei­nen mit De­mo­kra­tie be­zeich­net wird, an­wend­bar? Ver­ste­hen wir Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on nicht mehr als ei­ne Geg­ner­schaft, de­ren Sinn dar­in be­steht, den an­de­ren, die Po­si­ti­on, zu be­sie­gen, al­so mit ei­ner ge­ne­rel­len Ko­lo­nia­li­sie­rungs­idee. Son­dern in ei­ner Ge­gen­sei­tig­keit, de­ren Sinn dar­in be­steht, den an­de­ren, die Po­si­ti­on, auf­zu­klä­ren. Wie sä­he dann das Wech­sel­spiel der Mäch­te in ei­ner De­mo­kra­tie aus?

Zu­nächst ein­mal ist der Preis der Macht, des Re­gie­rens, der Po­si­ti­on, die der Auf­klä­rung durch die Op­po­si­ti­on, die ach­tungs­voll hin­zu­neh­men ist. Op­po­si­ti­on er­hellt das Trei­ben der Re­gie­ren­den und stellt so­mit für die Wäh­ler­schaft die Fra­ge: „Wollt ihr das?“ Vor­nehm­lich die­se Auf­ga­be soll­te in ei­ner all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie die der Op­po­si­ti­on sein. Kon­rad Ade­nau­er for­mu­lier­te es so:

Ich hal­te ei­ne gu­te Op­po­si­ti­on in ei­nem Par­la­ment für ei­ne ab­so­lu­te Not­wen­dig­keit; oh­ne ei­ne wirk­lich gu­te Op­po­si­ti­on ent­steht Stick­luft und Un­frucht­bar­keit.

Wil­ly Brandt fass­te es noch kür­zer:

Mehr De­mo­kra­tie wa­gen.

Frei­lich ge­hört zu ei­ner frucht­ba­ren Op­po­si­ti­on – »Frucht­bar­keit« ist im Üb­ri­gen auch im Buch ein Wort, das mir auf­ge­fal­len ist – nicht nur zu me­ckern, son­dern ei­ne Al­ter­na­ti­ve für die­ses po­si­tio­nel­le Tun auf­zu­zei­gen. Und da­für zu wer­ben, die­sen an­de­ren Weg doch zu ge­hen mit dem Re­gie­rungs­auf­trag an die ak­tu­el­le Op­po­si­ti­on durch die Wäh­ler­schaft bei der nächs­ten Wahl.

Wo­mit die Sei­ten ge­wech­selt wer­den und nun je­ne, die es an­ders ma­chen wol­len, im Licht der Auf­klä­rung durch die neue Op­po­si­ti­on ste­hen, die vor­mals die Po­si­ti­on ver­tra­ten. Op­po­si­ti­ons­ar­beit ist so nicht Mist, son­dern ein Ga­rant für die Gü­te des Re­gie­rens. So ent­steht ei­ne Ge­gen­sei­tig­keit. Um nicht zu sa­gen: ei­ne Für­sor­ge.

Nun sind hier Wor­te ge­fal­len, »Al­ter­na­ti­ve«, »die­sen an­de­ren Weg«, die die Her­zen man­cher Gesell*n, vor­nehm­lich am mehr oder we­ni­ger po­pu­lis­ti­schen rech­ten Rand, wo­mög­lich hö­her schla­gen las­sen. Die Na­tür­lich­keit ih­res Tuns näm­lich als hin­rei­chend be­grün­det an­zu­se­hen und nun zu sa­gen: „Ja! Ge­nau das ma­chen wir ja! Das ist ge­sun­der Men­schen­ver­stand, das ist ver­nünf­tig!“

Mit­nich­ten.

Op­po­si­ti­on be­deu­tet stets, ei­nem wirk­lich an­de­rem Kon­zept zu fol­gen, das sich aus ei­ner an­de­ren Hal­tung er­gibt und so über­haupt erst ein­mal in die La­ge ver­setzt zu wer­den, Auf­klä­rungs­ar­beit zu leis­ten. Um es räum­lich zu for­mu­lie­ren: Re­giert ei­ne ‚rech­te‘ Welt­auf­fas­sung, ist ‚rechts‘ Po­si­ti­on, ist ei­ne noch ‚rech­te­re‘ kei­ne Op­po­si­ti­on da­zu. Ei­ne ‚lin­ke‘ Hal­tung ist da­zu in Op­po­si­ti­on zu set­zen, nichts an­de­res, will das Wort „Op­po­si­ti­on“ der Be­deu­tung, die ich ihm hier ge­ben möch­te, ge­recht wer­den.

Ver­su­chen wir es mit Far­ben, in ei­nem ge­wis­sen Sin­ne das Kom­ple­men­tär­prin­zip der Ge­gen­sei­tig­keit auf­zei­gend: Noch schwär­zer, bis ins Braun fal­lend (was nun frei­lich nur et­was ver­deut­li­chen soll), ist kei­ne Ge­gen­sei­tig­keit, son­dern Ein­sei­tig­keit. Die Op­po­si­ti­on zu schwarz, das Kom­ple­men­tär eben, ist weiß, in die­sem Ge­dan­ken­gang. Und frei­lich gilt auch hier: Bei ei­ner wei­ßen Po­si­ti­on ist das noch wei­ße­re kei­ne Op­po­si­ti­on, son­dern eher Blen­dung. Wie das noch schwär­z­e­re als Ver­dun­ke­lung an­ge­se­hen wer­den kann. Bei­des trübt die Klar­heit ein.

Der Grund­ge­dan­ke ei­ner all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie ist nicht Macht, son­dern Ver­ant­wor­tung. Ver­ant­wor­tung auch da­für, dass das Prin­zip der Ge­gen­sei­tig­keit auf­recht er­hal­ten wird.

Ei­ne Auf­wei­chung die­ses Prin­zips, in­dem schwarz und weiß sich zu ei­nem grau ver­ei­ni­gen, ver­dun­kelt das Re­gie­rungs­ge­sche­hen. Die Kraft, die nun noch op­po­si­tio­nell wir­ken kann und so­gar muss, will das Prin­zip ge­ret­tet wer­den, ist die Öf­fent­lich­keit. Die Me­di­en, die Bür­ger selbst, gar. So wer­den je­doch die Me­di­en und die Bür­ger in das Macht­spiel hin­ein­ge­zo­gen und letzt­lich zum Geg­ner der Re­gie­rung, den es zu be­sie­gen gilt. Die Me­di­en ver­lie­ren so ih­ren Sta­tus, über das Ge­sche­hen in ei­ner all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie zu be­rich­ten, auch kom­men­tie­rend. Auf dass der Wäh­ler­schaft klar wer­den kann, ob die ak­tu­el­le Kon­zep­ti­on noch trägt oder durch ei­nen Wech­sel der Spiel­rol­len das Prin­zip der po­li­ti­schen All­men­de auf­zu­fri­schen ist. In Er­in­ne­rung ge­ru­fen wer­den soll.

Die Me­di­en ver­lie­ren den Sta­tus neu­tra­ler, re­flek­tie­ren­der Be­ob­ach­ter, die Bür­ger­schaft ver­liert den Sta­tus der Frei­heit. Weil je­ne, die in Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on be­auf­tragt wur­den, für eben je­ne Frei­heit von Macht­kämp­fen der Bür­ger­schaft zu sor­gen, da­mit die­se für sich sor­gen kann, ver­sa­gen. Sinn der Re­prä­sen­ta­ti­on ist es, statt selbst kämp­fen zu müs­sen, po­li­ti­sche Ak­teu­re zu be­auf­tra­gen, mit de­mo­kra­ti­schem Rin­gen Sor­ge für und um die Ge­sell­schaft zu tra­gen. Und für die Klar­heit zu sor­gen, die es der Wäh­ler­schaft er­mög­licht zu be­ur­tei­len, ob ein Wech­sel in den Spiel­rol­len an­ge­zeigt ist. Ei­ne Klar­heit, die dann durch die Me­di­en ins Land ge­tra­gen wird.

So ent­steht ein Wech­sel­spiel von Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on, das dann eben als Wech­sel­wir­kung Kraft ent­fal­tet; ein Land, ei­ne Ge­sell­schaft, wei­ter­bringt, oh­ne dass da­bei die Sach­the­men, z.B. Kli­ma, Mi­gra­ti­on, sog. Di­gi­ta­li­sie­rung, ver­nach­läs­sigt wer­den. Denn sach­lich, ver­nünf­tig be­trach­tet sind die­se Pro­ble­me kei­ne ei­ner po­li­ti­schen Hal­tung. Son­dern Fra­gen, die wis­sen­schaft­li­ches Trei­ben auf­zu­hel­len ver­mag. Ob die Lö­sun­gen zu die­sen Pro­ble­men mit wei­ßen oder schwar­zen Hand­schu­hen an­ge­gan­gen wer­den, mit ro­ten oder grü­nen, gel­ben oder blau­en,… ist den The­men und wohl auch der Wäh­ler­schaft völ­lig egal: Die Ge­sell­schaft hat sich zu die­sen Pro­ble­men zu ver­hal­ten.

Nicht egal dürf­te der Wäh­ler­schaft al­ler­dings sein, mit wel­cher Stim­mung, grund­le­gen­den Hal­tung die Lö­sung die­ser Pro­ble­me an­ge­gan­gen wird. Mit der Wahl von Par­tei­en wird die­se Stim­mung ge­schaf­fen – so denn über­haupt Hal­tun­gen zur Wahl ste­hen und nicht viel­mehr ei­ne, ver­meint­lich kon­ser­va­ti­ve, so laut brüllt, dass die nicht-kon­ser­va­ti­ve er­schro­cken in ei­nen Mu­tis­mus fällt und man so mei­nen könn­te, es gä­be nur die­se, sich ra­tio­nal-prag­ma­tisch ge­ben­de, Stim­me, letzt­end­lich. Und die­se dann ‚wählt‘, auch wenn man sie nicht ha­ben will. Um mit ei­nem sol­chen Pro­test dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass die Stim­mung, die Hal­tung, die die Wäh­ler­schaft sich wünscht, nicht er­kenn­bar ist, eben nicht wähl­bar ist. Ei­ne Hal­tung der All­men­de, sicht­bar durch das An­ge­bot, Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on in ei­nem de­mo­kra­ti­schen Par­la­ment in ih­ren Rol­len neu be­set­zen zu kön­nen.

Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on, nicht Po­si­ti­on und Re­po­si­ti­on. Und schon gar nicht ei­ne ‚Mit­te‘, die jeg­li­che Po­si­ti­on ver­mis­sen lässt und so­mit Op­po­si­ti­on ver­un­mög­licht. Po­li­tik hat auch die­sen Frei­raum für die Bür­ger­schaft zu schaf­fen, ei­ne ent­spann­te, po­li­tisch un­be­setz­te Mit­te, aus de­ren neu­tra­ler Per­spek­ti­ve her­aus das Trei­ben der sich all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie durch die Wäh­ler­schaft be­trach­tet, be­ur­teilt und ge­steu­ert wer­den kann.

Im Üb­ri­gen möch­te ich ab­schlie­ßend noch all je­ne, die sich als Pro­test­wäh­ler ver­ste­hen, da­zu auf­ru­fen, statt frag­wür­di­ge und un­durch­sich­ti­ge Hal­tun­gen zur Macht zu ver­hel­fen, ih­ren Wunsch nach ei­ner frei­en Mit­te durch die Ab­ga­be ei­nes sog. un­gül­ti­gen Stimm­zet­tels zu be­zeu­gen. Ein un­gül­tig ge­nann­ter Stimm­zet­tel heißt nicht, dass die Stim­me un­gül­tig ist, er heißt nur, dass die ab­ge­ge­be­ne und al­so ge­zähl­te Stim­me bei der Zu­sam­men­set­zung des Par­la­ments kei­ne Rol­le spielt.

14% ‚un­gül­ti­ge‘ Stimm­zet­tel
soll­ten die Po­li­tik wohl dar­an er­in­nern kön­nen, dass sie aus Sicht des Sou­ve­räns an ih­rem de­mo­kra­ti­schen Ver­ständ­nis zu ar­bei­ten hat.

Lit.:
We­ber, An­dre­as: In­di­ge­nia­li­tät
Ni­co­lai, Ber­lin 2018. 120 S., 20,00€
(auch als e‑Book er­hält­lich)

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Zwei Jäger treffen sich im Wald

Anmerkungen zu Zorn, Daniel-Pascal: „Shooting Stars“. Philosophie zwischen Pop und Akademie.

Um es vor­weg zu neh­men: Der Ver­fas­ser die­ser Zei­len hier über oder zu o.g. Ti­tel, im fol­gen­den schlicht „ich“, ist auf’s An­ge­nehms­te über­rascht: Zwei Stun­den er­hel­len­de Lek­tü­re oh­ne aka­de­misch-ela­bo­rier­tes Ge­re­de, son­dern lu­zid und kon­zis vor­ge­tra­ge­ne Per­spek­ti­ven auf das, was als „Po­pu­lär­phi­lo­so­phie“ und das, was als „aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phie“ be­zeich­net wird. Ein an­ge­neh­mer Text, der sich vor al­len Din­gen dar­in übt, das im Text Ge­for­der­te selbst zu er­fül­len: Vor­aus­set­zun­gen zu klä­ren. Und das we­der in sim­pli­fi­zie­ren­der po­pu­lis­ti­scher Ma­nier noch in ver­kom­pli­zie­ren­der Eli­tär-At­ti­tü­de. Son­dern in der An­stren­gung, leicht und den­noch prä­zi­se dar­zu­le­gen, um was es (ei­gent­lich) geht. Oder ge­hen soll­te.

Auf ei­ne In­halts­an­ga­be sei hier ver­zich­tet und die dar­an In­ter­es­sier­ten auf­ge­for­dert, selbst zu ei­nem Ur­teil zu ge­lan­gen, ist denn ein sol­ches ge­sucht. Und ei­ne Zu­sam­men­fas­sung ei­ner Zu­sam­men­fas­sung hat noch nie zu et­was Bes­se­rem ge­führt. Die­ser, mein Bei­trag will sich ein we­nig mit dem Ge­le­se­nen be­schäf­ti­gen, frei von und frei zu; und vor al­len Din­gen ein­mal be­leuch­ten, wie es im Lich­te der Über­le­gun­gen Zorns um das steht, was als „Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis“ al­lent­hal­ben kur­siert. Kurz drauf­leuch­ten, wir sind ja im In­ter­net.

Vor­ne­weg ist fest­zu­stel­len und das „ich“ bzw. das feh­len­de Heid­eg­ger’sche „man“, in die­sem Bei­trag hier auch zu be­grün­den: D I E Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis gibt es ge­nau­so we­nig wie D I E phi­lo­so­phi­sche Pra­xis oder D I E Phi­lo­so­phie: (»Was ›die Phi­lo­so­phie‹ ist, ist ein phi­lo­so­phi­sches Pro­blem.« (S. 11)). Der Bei­trag ist al­so ein rein sub­jek­ti­ver und er­hebt kei­ner­lei An­spruch auf All­ge­mein­gül­tig­keit.

Das Wah­re fin­det sich in der Dif­fe­renz zu et­was An­de­rem, nicht in sich selbst. Des­halb ist die ge­gen­sei­ti­ge Op­po­si­tio­na­li­sie­rung von Po­pu­lär­phi­lo­so­phie und aka­de­mi­scher Phi­lo­so­phie auch so wich­tig und hilf­reich, um her­aus­zu­stel­len, wor­um es Phi­lo­so­phie als sol­cher, un­ab­hän­gig ih­rer Er­schei­nungs­for­men, geht oder zu­min­dest ge­hen soll oder auch soll­te. Frei­lich gin­ge das wohl auch an­ders, ein Win­kel zwi­schen den Po­si­tio­nen reicht ja auch schon aus, um ei­ne Sa­che von min­des­tens zwei Per­spek­ti­ven aus zu be­trach­ten. 180° sind auch mach­bar. „Schau mir in die Au­gen, Klei­nes.“

Wer schreibt hier? Das ist un­ter Um­stän­den wich­tig, um den Bei­trag ein­ord­nen zu kön­nen. Ich ha­be we­der ein ‚an­stän­di­ges‘ Phi­lo­so­phie­stu­di­um noch ziert mei­nen Na­men ein aka­de­mi­scher Dok­tor-Grad oder über­haupt ir­gend­ei­ne aka­de­mi­sche Aus­zeich­nung. Mich hat ne­ben ei­nem ‚ge­fühl­ten Phi­lo­so­phen in mir‘, des­sen aka­de­mi­sches Exis­tenz­recht die Le­bens­um­stän­de ver­un­mög­licht ha­ben, in der Tat Prechts Buch »Wer bin ich…« und die dar­auf fol­gen­de Lek­tü­re von Ernst Tu­gend­hat, und im fol­gen­den dann Häpp­chen­wei­se He­gel, Kant, Blu­men­berg, … bis hin zu ‚mei­nem‘ Phi­lo­so­phen, ei­nem Bru­der im Geis­te, ei­nem See­len­ver­wand­ten, wie mich deucht, Lud­wig Witt­gen­stein ge­führt. Die in­ten­si­ve Lek­tü­re sei­nes Den­kens und Le­bens be­gin­ne ich nun und bin da­mit min­des­tens die nächs­ten 2 – 3 Jah­re be­schäf­tigt, wenn nicht gar noch viel, viel län­ger — ha­be ich doch mit die­sem Phi­lo­so­phen mei­nen ‚ar­chi­me­di­schen Punkt‘ im Phi­lo­so­phie­uni­ver­sum ent­deckt. Und im Zu­ge die­ser Ent­wick­lung nut­ze ich seit 2015 die Mög­lich­keit, als Gast­hö­rer am In­sti­tut für Phi­lo­so­phie der Uni­ver­si­tät Ko­blenz-Land­au, Cam­pus Land­au wei­len zu dür­fen (Wer­be­block: En­de).

Ich bin nun al­so durch­aus ein Ver­tre­ter je­ner Spe­zi­es, die im Buch auf S. 39 ge­nannt wird. Das mag nun vie­le Leser/innen ver­scheu­chen, denn was will so ei­ner schon sa­gen kön­nen, zu­mal über das höchs­te Gut mensch­li­chen Geis­tes, das Phi­lo­so­phi­sche? Das soll­te doch dann de­nen über­las­sen wer­den, die das stu­diert ha­ben und sich aka­de­misch und/oder pu­bli­zis­tisch nach ein­schlä­gi­gem Stu­di­um da­zu äu­ßern, die al­so wis­sen, wo­von sie spre­chen. Nun denn, Adieu, Dan­ke für den Fisch und macht’s gut. (Ach so, eins noch: Ri­chard Da­vid Precht hat Ger­ma­nis­tik stu­diert.)

Mei­ne pri­va­te phi­lo­so­phi­sche Pra­xis und auch mei­ne kom­mer­zi­el­le Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis (p und P im Ad­jek­tiv zei­gen die Dif­fe­renz an) fin­det sich in Zorns Es­say auf Sei­te 98:

Phi­lo­so­phie als Auf­merk­sam­keit, als Pra­xis, als ei­ne Wei­se des Den­kens, die das Den­ken an­de­rer und das ei­ge­ne Den­ken ra­di­kal hin­ter­fragt, oh­ne sich zu ver­lie­ren und von die­sem Punkt aus al­les zu ge­win­nen, was die Welt und die Phi­lo­so­phie sein kann – das wä­re ei­ne Mög­lich­keit.

Nun, Herr Zorn, das wä­re nicht nur ei­ne Mög­lich­keit, das ist ei­ne Mög­lich­keit. Dass die­se Mög­lich­keit nicht von Markt­re­geln oder Aus­bil­dungs­re­geln ab­hängt, da­für rei­chen die­se Zei­len hier wün­schens­wer­ter­wei­se hin. Bes­ser lässt sich mein An­spruch an mei­ne per­sön­li­che Hal­tung, als auch an mei­ne be­ruf­li­che Tä­tig­keit nicht in Wor­te fas­sen, zu­min­dest vor­läu­fig. (Ich weiß näm­lich nicht, wie oft ich den Satz schon ge­sagt ha­be. Doch seit Karl Pop­per ist ja all­ge­mein­hin be­kannt, dass Wis­sen im­mer die Ei­gen­schaft der Vor­läu­fig­keit hat.)

So ha­be ich mir auch S. 10 mar­kiert:

Und nur wenn sie [Po­pu­lär­phi­lo­so­phie und aka­de­mi­sche Philosophie;V.H.] ver­ste­hen, dass ›die Phi­lo­so­phie‹ zu­nächst kei­ne An­samm­lung von Weis­hei­ten, In­hal­ten, The­men und Me­tho­den ist, son­dern ei­ne Hal­tung, ei­ne Pra­xis und ein aus die­ser Hal­tung ent­ste­hen­des ra­di­ka­les Pro­blem ih­rer Wei­ter­ga­be, kön­nen sie ei­nen Weg fin­den, der sie von Geg­nern zu Part­nern wer­den lässt.

Na, da ist sie, die gu­te al­te Dia­lek­tik, die ei­ne dort, der an­de­re ge­nau ge­gen­über, ei­ne Wahr­heit, un­ab­hän­gig der ei­ge­nen Po­si­ti­on. Da lässt sich dann im­mer präch­tig strei­ten und sol­che Streits fol­gen nicht, zu­min­dest mei­ner All­tags­er­fah­rung nach, ei­nem Spiel von The­se und An­ti­the­se, zu ei­ner Syn­the­se füh­rend, die­se zei­ti­gend, son­dern zu zwei Boll­wer­ken, die die je­wei­lig ei­ge­ne Po­si­ti­on als die rich­ti­ge­re ge­gen­über der an­de­ren (a) an­prei­sen und (b) zu recht­fer­ti­gen su­chen. Ja, kann so ge­macht wer­den, auch so geht die Zeit ’rum.

Da ziemt sich’s schon ge­schei­ter, die bei­den Po­si­tio­nen ein­mal als Ex­tre­me zu ver­ste­hen und nach ei­ner aris­to­te­li­schen, ba­lan­cie­ren­den Mit­te zu su­chen. Zorns Text kommt mir so da­her, als ver­su­che er sich ge­nau in die­ser Weis­heit. Nicht un­ge­lun­gen, aber das deu­te­te ich be­reits an.

Sehr dank­bar bin ich dem Au­tor Zorn um Sei­te 41 (Was da steht, soll­te ei­gent­lich, will nicht in Pa­nik ver­fal­len sein, auf Sei­te 42 ste­hen):

Viel in­ter­es­san­ter ist, dass die Po­pu­lär­phi­lo­so­phie das, was sie auf ei­ner tie­fe­ren Ebe­ne in Fra­ge stellt, al­so das Selbst­ver­ständ­li­che und si­cher Ge­glaub­te, auf ei­ner hö­he­ren Ebe­ne selbst wie­der in­stal­liert. […] In ge­nau die­ser Hin­sicht be­sitzt die Po­pu­lär­phi­lo­so­phie ei­ne ideo­lo­gi­sche Funk­ti­on. […] Wenn Po­pu­lär­phi­lo­so­phie so ar­gu­men­tiert, dann ist sie Opi­um fürs Volk.

Das Zi­tat ist nun arg frag­men­tiert, aber das hier will auch kei­ne kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung sein. Doch was in den dar­ge­leg­ten Text­stel­len die­ser Pas­sa­ge für mich zum Aus­druck kommt, ist ge­nau das, was ich mitt­ler­wei­le an der Po­pu­lär­phi­lo­so­phie, an ei­ni­gen Vertreter/innen eben die­ser, prä­zi­se ge­sagt, kri­ti­sie­re: Da geht es nicht mehr um das, was ich un­ter ‚phi­lo­so­phie­ren‘ sub­sum­mie­re. Da geht es nicht dar­um, ei­ne Fra­ge so prä­zi­se zu stel­len, al­so so lan­ge an ihr zu ar­bei­ten, dass sie be­reits auf die Ant­wort ver­weist und die­se gleich­sam not­wen­di­ger­wei­se ge­biert, son­dern dar­um, be­que­me Ant­wor­ten zu lie­fern und die­se ir­gend­wie aus der phi­lo­so­phi­schen His­to­rie her­aus zu be­grün­den (Was, so scheint mir, bei mit phi­lo­so­phi­scher Li­te­ra­tur Un­ver­trau­ten, ein all­zu leich­tes Spiel ist). Das mag in der Re­zept­kul­tur, in der ich Deutsch­land seit Hel­mut Kohl wäh­ne, an­ge­hen und en vogue sein. Doch für mich ist das kei­ne Phi­lo­so­phie, son­dern So­phis­te­rei, im schlimms­ten Fal­le: Re­li­gi­on. Was nun al­ler­dings nicht heißt, die­se zu ver­ur­tei­len. Glücks­rat­ge­ber und Weis­heits­leh­ren er­fül­len al­le ih­ren le­bens­prak­ti­schen Sinn und Zweck und dar­an ist auch gar nichts zu be­män­geln. Nur soll­te das dann selbst, al­lein der Red­lich­keit we­gen, den An­spruch an et­was phi­loso­phi­sches zu­min­dest mit ei­nem gro­ßen Fra­ge­zei­chen schmü­cken.

Ei­ne an­de­re Stel­le, ne­ben den vie­len an­de­ren, die ich mir mar­kiert ha­be, auf S. 51:

Was aber wird hier [die Re­de ist von Pla­ton und die Auf­he­bung von Selbstverständlichkeiten;V.H.] lehr­bar ge­macht? Kein Wis­sen, kei­ne po­si­ti­ven Be­stim­mun­gen, son­dern ei­ne be­stimm­te Art und Wei­se des Fra­gens, des Ant­wor­tens, des Zei­gens. Und die­ses Zei­gen hat stets da­mit zu tun, dass man das, was ge­sagt wird, auf das be­zieht, wie es ge­sagt wird. Des­we­gen kann das Zei­gen ei­ne Leh­re sein, auch dann, wenn es selbst, als zei­gen, nie an­ge­spro­chen wird.

Das könn­te fast von Lud­wig Witt­gen­stein stam­men. Oder von ei­nem Zen-Meis­ter.

An spä­te­rer Stel­le im tem­po­ra­len Er­le­ben des Es­says wird häu­fig das Wort „Aus­bil­dung“ im Kon­text des Leh­rens der Phi­lo­so­phie ge­braucht. Das hät­te ich ger­ne in ei­ner zwei­ten Auf­la­ge durch die Strei­chung der Sil­be „Aus“ ak­tua­li­siert. Auf S. 69 wird Kant her­an­ge­zo­gen und mit

›un­ter al­len Ver­nunft­wis­sen­schaf­ten […] nie­mals […] Phi­lo­so­phie (es sei denn his­to­risch), son­dern, was
die Ver­nunft be­trifft, höchs­tens nur phi­los­phie­ren ler­nen‹

zi­tiert. Nun, eben: phi­lo­so­phie­ren ler­nen — nicht leh­ren. Ich ha­be im Rah­men mei­ner Gast­hö­rer­schaft an der hie­si­gen Uni­ver­si­tät ziem­lich schnell spitz­ge­kriegt, dass es ein Stu­di­um der Phi­lo­so­phie ei­gent­lich (au­ßer eben his­to­risch) nicht gibt, son­dern ich in ei­nem sol­chen Stu­di­um das Stu­di­um von Phi­lo­so­phien übe und so das ei­ge­ne Phi­lo­so­phie­ren schär­fe, wie des Mes­sers Tu­gend am Wetz­stein er­frischt wird. Des­halb er­scheint mir auch die Re­de von ei­ner Aus­bil­dung un­sin­nig: Ich wüss­te nicht, wie mir ver­nünf­ti­ger­wei­se ge­zeigt wer­den könn­te, dass ein Phi­lo­so­phie­stu­di­um je­mand zur/m Philosoph/in macht — dann müss­te ein Kunst­stu­di­um auch jede/n zum Künst­ler oder zur Künst­le­rin ma­chen kön­nen.

Doch sol­che Stu­di­en­gän­ge ver­mit­teln eben nicht ein Wis­sen wie es z.B. der Ma­schi­nen­bau tut. Son­dern sie bil­den das, ge­ben dem ei­ne Form, was schon da ist. (Oder, ja, auch das Bild ei­nes Stein­met­zes (w/d/m) hat ei­ne Re­so­nanz: das weg­hau­en, was über­flüs­sig ist. Al­so die Flau­sen im Kopf ver­damp­fen las­sen.) Des­we­gen bit­te kei­ne Re­de mehr von ei­ner Phi­lo­so­phen-Aus­bil­dung, son­dern nur noch von der Phi­lo­so­ph/in­nen-Bil­dung. So kann sich das auch frei ma­chen von ei­ner aka­de­mi­schen Ver­ein­nah­mung und das, was als Den­ken zu gel­ten hat, auf den Kreis Uni­ver­si­täts­an­ge­hö­ri­ger ein­engen. „Na­tur­ge­mäß“ fin­den sich an der Uni­ver­si­tät vie­le Philosoph/innen. Zu­meist die, die es ge­schafft ha­ben, ihr Ta­xi ge­winn­brin­gend zu ver­kau­fen.

Die letz­ten bei­den Ka­pi­tel des Es­says, »Was ist gu­te aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phie« und »Was ist gu­te Po­pu­lär­phi­lo­so­phie« fin­de ich äu­ßerst ge­lun­gen. Im Ka­pi­tel über gu­te Aka­de­mie spricht Zorn von dem Ge­mein­sa­men viel­fäl­ti­ger aka­de­mi­scher Phi­lo­so­phie-Per­spek­ti­ven: das kri­ti­sche In-Fra­ge-Stel­len, das Mit-Grün­den-Recht­fer­ti­gen und die ra­di­ka­le Kri­tik (S. 92f). In drei Wor­ten von mir: Skep­sis, Skep­sis, Skep­sis. Und die­se Skep­sis nun ist ge­nau die »phi­lo­so­phi­sche Auf­merk­sam­keit« (S. 93). Und zu der kann nicht aus­ge­bil­det, son­dern, m.b.M.n., sich nur selbst her­aus­ge­bil­det wer­den. Denn da steckt ein Wag­nis da­hin­ter: Das Wag­nis, nach­her an­de­rer Mei­nung sein zu müs­sen als vor­her, und das der ei­ge­nen Ar­gu­men­te vor sich selbst we­gen. Da mag das Ge­burts­tags­kind des Jah­res, Jür­gen Ha­ber­mas, mit sei­nem zwang­lo­sen Zwang des bes­se­ren Ar­gu­men­tes, durch­schei­nen.

Und gu­te Aka­de­mie ist in der Tat ein gu­ter Ort für die­se Übung der ei­ge­nen Bil­dung, sei sie dann durch aka­de­mi­sche Wei­hen ab­ge­seg­net oder nicht. Si­cher­lich ist die Uni­ver­si­tät nicht der ein­zi­ge Ort in ei­ner als Bil­dungs­land­schaft auf­ge­fass­ten Welt, wo dies mög­lich ist. Wer in ei­nem Hand­werk oder ei­nem an­de­ren nicht-aka­de­mi­schen Mé­tier an eine/n gu­ten Meis­ter oder Meis­te­rin ge­rät, mag zur sel­ben Ein­sicht ge­lan­gen. Doch ich fürch­te, sol­che Bei­spie­le bes­ter Leh­re sind im Hand­werk wie an der Uni­ver­si­tät und auch an­der­orts nicht in dem Ma­ße ver­tre­ten, wie es wohl wün­schens­wert wä­re. Sonst gä­be es wo­mög­lich die Kluft zwi­schen aka­de­mi­scher und po­pu­lä­rer Phi­lo­so­phie über­haupt nicht und bei­de wür­den sich als For­men geis­ti­ger Tä­tig­keit auf­fas­sen kön­nen, kei­ner bes­ser oder schlech­ter als der an­de­re. Nur eben: An­ders. Wie ge­sagt, die Wahr­heit fin­det sich in der Dif­fe­renz zu an­de­ren, und nicht in den Sa­chen selbst. Was noch lan­ge kei­ne bi­po­la­re, oder, wir le­ben ja in Zei­ten künst­li­cher In­tel­li­genz, bi­nä­re „Dia­lek­tik“ er­zwingt.

Das gro­ße Plus, und da stim­me ich Zorn aus ei­ge­ner Em­pi­rie voll und ganz zu, ist die Frei­heit von »Zwänge[n] der For­schung«, die sich Po­pu­lär­phi­lo­so­phie nimmt (S. 95), neh­men kann und ich möch­te sa­gen: so­gar neh­men soll. Und Zorn nennt auf S. 97 ei­nen wei­te­ren Punkt, in dem ich ihm un­um­wun­den bei­pflich­ten möch­te:

Sie [die Populärphilosopie;V.H.] wä­re [mit ei­nem rea­lis­ti­schen Anspruch;V.H.] nicht mehr die po­pu­lä­re Ver­si­on der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie oder ei­ner aka­de­mi­schen Tra­di­ti­on.

Ge­nau die­sen Ein­druck ge­win­ne ich oft bei der Po­pu­lär­phi­lo­so­phie: Statt als ei­ge­nes phi­lo­so­phi­sches Gen­re ne­ben der aka­de­mi­schen Phi­lo­so­phie in Er­schei­nung zu tre­ten, übt sie sich (al­so ei­ni­ge ih­rer Vertreter/innen) ir­gend­wie ver­schämt dar­in, als „Aka­de­mie light“ auf­zu­war­ten und sich als be­son­ders ef­fi­zi­ent ge­gen die aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phie zu ver­kau­fen (man kau­fe nur ein ein­zi­ges Buch und spa­re sich Jah­re, ja im­mer­wäh­ren­des Stu­di­um und wis­se so al­so letzt­gül­tig „Be­scheid“ (vgl. S. 211⇣Ei­ne gu­te Über­sicht bie­tet üb­ri­gens Stö­rig, H.J.: „Klei­ne Welt­ge­schich­te der Phi­lo­so­phie“. Er­setzt kein Voll­stu­di­um, ver­schafft aber … Wei­ter­le­sen…). Man könn­te den Ein­druck ge­win­nen, sie wetzt sich an der Aka­de­mie die Klin­ge, um sie dann kalt zu ma­chen. (Über­sieht da­bei aber viel­leicht de­ren di­ckes Fell.)

Zwei Din­ge sind mir noch auf­ge­fal­len: Durch das Buch zieht sich ei­ne Fra­ge, die auf S. 33 erst­mals ge­stellt wird:

Wie soll man je­man­den das, was er nicht ge­lernt hat, bei­brin­gen, wenn das, was ihm fehlt, die Be­din­gung da­für ist, dass er es ler­nen kann?

Die Ge­gen­fra­ge, die ich da an­zu­bie­ten hät­te, ist: Kann die Be­din­gung zur Mög­lich­keit über­haupt ge­lehrt wer­den? Oder ist es viel­leicht nicht viel­mehr so, dass et­was ‚ge­weckt‘ wer­den muss? Und ei­ne mög­li­che Ant­wort ha­be ich dann auf S. 53 ge­fun­den, es ist die Über­schrift des Ka­pi­tels, das dort be­ginnt:

Die Welt ver­lie­ren, um die Welt zu ge­win­nen

Ich muss­te bei die­ser Über­schrift so­fort an ei­nen Men­schen den­ken, der, so­weit ich weiß, auch kei­ne Phi­lo­so­phie stu­diert hat, aber zu­wei­len recht sinn­vol­le Sät­ze äu­ßert. Wie z.B. die­sen:

Da­hin ge­hen, wo man um­kom­men kann, um nicht um­zu­kom­men.

Die­sen Satz ken­ne ich von Rein­hold Mess­ner, sei­nes Zei­chens eme­ri­tier­ter Al­pi­neur der ganz hef­ti­gen Sor­te.

Bei al­ler Be­schei­den­heit, zu der ich gu­te Grün­de ha­be, möch­te ich hier nun doch noch auf mein Pro­jekt der Di­let­tan­tie hin­wei­sen, die ich aus­zu­ar­bei­ten, na, ich blei­be Witt­gen­stein treu: zu skiz­zie­ren ge­den­ke. Die­se Di­let­tan­tie soll sich als ei­ne wei­te­re, ernst­zu­neh­men­de Wei­se des Phi­lo­so­phi­schen ver­ste­hen und sich in der Phi­lo­so­phi­schen Pra­xis eta­blie­ren. Nicht un­ter und nicht über den an­de­ren Wei­sen, son­dern ne­ben ih­nen. Oder, die ba­lan­cie­ren­de Mit­te noch ein­mal auf­grei­fend: Zwi­schen U‑Philosophie und E‑Philosophie ei­ne P‑Philosophie ma­ni­fes­tie­ren, ei­ne prak­ti­zier­te Phi­lo­so­phie.

Denn: Se­he ich die aka­de­mi­sche Phi­lo­so­phie sich ei­ner Phi­lo­so­phie als Wis­sen­schaft ver­pflich­tet, möch­te ich das, was die di­let­tan­ti­sche aus­zeich­net, mit glei­chem Ernst und An­spruch, als sich dem Phi­lo­so­phi­schen im Ver­ständ­nis ei­ner Kunst zu­wen­dend ver­stan­den wis­sen.

Ge­gen ei­ne Ein­ord­nung ei­ner sol­chen di­let­tan­ti­schen Phi­lo­so­phie als Po­pu­lär­phi­lo­so­phie hät­te ich gar nichts ein­zu­wen­den. So­lan­ge sie von ei­ner di­let­tan­tis­ti­schen und in mei­nen Au­gen da­mit po­pu­lis­ti­schen Wei­se der (ver­meint­li­chen) Ver­phi­lo­so­phi­sie­rung der Welt streng un­ter­schie­den, ja, eben: ge­schie­den ist.

Sol­che Din­ge zu wa­gen, sich der Kri­tik aus­setz­bar zu ma­chen, mög­li­chen Schmä­hun­gen oder be­mit­lei­den­den Äu­ße­run­gen oder an­de­re Wei­sen der Ab­wer­tung in Kauf zu neh­men, meint »Die Welt ver­lie­ren«. Sei­ne In­sel der See­lig­keit ge­schaf­fen zu ha­ben, nach jahr­zehn­te­lan­gen Auf­häu­fen von Sand im wei­ten Meer des Den­kens, und die­se In­sel nun zu be­woh­nen und zu be­haup­ten, ihr ei­nen den­ken­den Kopf auf­zu­set­zen, das meint »Welt ge­win­nen«.

Als ich über Twit­ter von der Exis­tenz die­ses Bu­ches er­fuhr, frag­te ich den Au­tor, dass „Phi­lo­so­phi­sche Pra­xis“ wohl nicht vor­kä­me, was die­ser auch be­stä­tig­te. Nun, Herr Zorn, ich wa­ge da zu wi­der­spre­chen (Viel­leicht geht es Ih­nen ja wie Kant und sie ver­ste­hen sich sel­ber nicht (vgl. S 86f)): Der Es­say ist aus mei­ner Per­spek­ti­ve ein Es­say von und über phi­lo­so­phi­sche Pra­xis, wie ich sie in mei­ner phi­lo­so­phi­schen wie Phi­lo­so­phi­schen Pra­xis übe, in dem ich es, das Phi­lo­so­phie­ren, nicht ge­nau­so, aber in ei­nem sol­chen Sinn von »die Phi­lo­so­phie« aus­übe.

Zu­min­dest übe ich mich dar­in.

Lit.:
Zorn, Da­ni­el-Pas­cal: Shoo­ting Stars.
Klos­ter­mann, Frankfurt/Main, 2019.

Zu gu­ter Letzt: Soll­ten dem/r Leser/in ei­ni­ge Zei­len hier merk­wür­dig sinn­frei er­schei­nen: Le­sen Sie das Büch­lein »Shoo­ting Stars«, dann er­hellt sich das schon. Der Sei­ten­hieb mit der 42 und die Sa­che mit dem Fisch geht na­tür­lich voll und ganz auf das Kon­to von Douglas Adams. Soll­te im­mer noch et­was un­klar sein, han­delt es sich al­ler Wahr­schein­lich­keit nach schlicht um ei­ne iro­ni­sche Be­mer­kung. Denn der Hu­mor hat bei al­lem Ernst auch in der Phi­lo­so­phie sei­nen Platz, nicht nur als Iro­nie. Ge­ra­de in der di­let­tan­ti­schen. Ein Lu­xus, den sich die­se leis­ten kann. Denn: Was wä­re Phi­lo­so­phie oh­ne Witz?

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1 Ei­ne gu­te Über­sicht bie­tet üb­ri­gens Störig, H.J.: „Klei­ne Welt­ge­schich­te der Phi­lo­so­phie“. Er­setzt kein Voll­stu­di­um, ver­schafft aber Ori­en­tie­rung.