Denkzettel 68

Da wird in letz­ter Zeit viel von „neu­er Nor­ma­li­tät“ ge­re­det und man­chen mag der dräu­en­de Ver­lust ei­ner „al­ten Nor­ma­li­tät“ wie ei­ne Be­schnei­dung der Un­end­lich­keit der Mög­lich­kei­ten vor­kom­men.

Ei­ne „neue Nor­ma­li­tät“ än­dert über­haupt nichts an der Un­end­lich­keit der Mög­lich­kei­ten, eben weil sie un­end­lich sind. Sie füh­len sich nur an­ders an, das ist al­les.

Und „an­de­re Nor­ma­li­tät“ ist all­täg­li­che Nor­ma­li­tät. Denn ein Sonn­tag ist an­ders nor­mal als ein Mitt­woch.

Und der/die An­de­re ist an­ders nor­mal als ich.

Staatsmacht?

Von einer tatsächlichen Begebenheit. Über situativ angemessenen Vollzug besonderer Anordnungen. Über Autoritarismus.

Die kleins­ten Un­ter­of­fi­zie­re sind die stol­zes­ten.

Ge­org Chris­toph Lich­ten­berg

Wir schrei­ben Diens­tag, den 2. Ju­ni an­no 2020. Es ist der Diens­tag nach Pfings­ten, so um 11 Uhr des Vor­mit­tags, strah­len­der Son­nen­schein, 25°C, be­stimmt schon, ge­fühlt al­le­mal. Wo­chen­markt in Land­au in der Pfalz, Bun­des­land Rhein­land-Pfalz, Deutsch­land, auf dem so­ge­nann­ten al­ten Mess­platz. We­gen Co­ro­na-Pan­de­mie vom zen­tra­le­ren Rat­haus­platz ver­legt, um die Stän­de auf ei­ne grö­ße­re Flä­che zu ver­tei­len, ge­schätzt wohl dop­pelt so groß. Die Stän­de in der Flä­che groß­zü­gig auf­ge­stellt und viel we­ni­ger Stän­de als sonst, eben we­gen Pfings­ten; Marktbeschicker/innen möch­ten auch mal Pau­se ha­ben. So zwei Drit­tel bis Drei­vier­tel der sonst üb­li­chen Be­le­gung des Diens­tags, wo oh­ne­hin we­ni­ger Stän­de zu­ge­gen sind, grob ge­schätzt frei­lich nur. Das Haupt­ge­schäft läuft am sams­täg­li­chen Markt an glei­cher Stel­le. Und auch heu­te deut­lich we­ni­ger Pu­bli­kum als an den Sams­ta­gen, aber auch we­ni­ger als sonst an Diens­ta­gen. Al­les al­so sehr über­sicht­lich und fried­lich, mei­ne Ein­käu­fe konn­te ich oh­ne War­te­zei­ten er­le­di­gen. Sonst ist das ei­gent­lich nur mög­lich, wenn das Wet­ter nicht so das Wah­re ist.

Die Be­schrei­bung die­ses Markt­idylls ist für das Fol­gen­de wich­tig. Denn es kon­tu­riert noch ein­mal, auf was mit die­sem Text hin­ge­wie­sen wer­den will. Ich war so­eben auf dem Weg vom Platz weg, doch noch auf die­sem. In der Lich­te war nie­mand in Sicht, dem ich auf dem Weg zum Fahr­rad au­ßer­halb des Plat­zes, viel­leicht noch 50m, hät­te be­geg­nen kön­nen, oh­ne dass ich aus­wei­chen hät­te kön­nen. Dies um den der­zeit vor al­len an­de­ren Din­gen ge­bo­te­nen Ab­stand zu den Mit­men­schen, die mir be­geg­nen, ein­zu­hal­ten.

Und auch drei Män­ner in Uni­form sind auf dem Platz un­ter­wegs. Auf den ers­ten Blick hielt ich sie für Po­li­zei, was ja viel­leicht auch be­ab­sich­tigt ist. Mit Schutz­wes­te, aber oh­ne Kopf­be­de­ckung. Ich wur­de von ei­nem der drei Män­ner mit Schutz­mas­ke und Son­nen­bril­le deut­lich er­mahnt Mund und Na­se zu be­de­cken, mit ver­tief­ter, an­herr­schen­der Stimm­la­ge. Ich hat­te die Mas­ke ja da­bei, doch eben ge­ra­de ele­gant als Dop­pel­kinn­hal­ter tra­gend – Körb­chen­grö­ße A, geht g’rad noch so – und bei den Stän­den auch vor Mund und Na­se ge­scho­ben. Wie es viel­leicht der­zeit an­ge­zeigt ist, wenn Men­schen re­la­tiv dicht ste­hen und ih­re An­ge­le­gen­hei­ten, im­mer be­glei­tet von münd­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on, er­le­di­gen. Doch auf der frei­en Ver­kehrs­flä­che, auf dem Weg von ei­nem Stand zum an­de­ren, da bin ich dann doch schon froh, den pri­mär ge­bo­te­nen Ab­stand pro­blem­los ein­hal­ten zu kön­nen und un­ge­fil­ter­te, fri­sche Luft at­men zu kön­nen, wie es die Na­tur für den Men­schen ja vor­ge­se­hen hat. An­sons­ten wä­ren wir mit ir­gend­ei­ner Art fle­xi­bler Mund-Na­sen-Be­de­ckung ge­bo­ren wor­den, die auch bei ei­ner sol­chen Wit­te­rung nicht un­an­ge­nehm wä­re. Na, in 200.000 Jah­ren viel­leicht, Mensch passt sich ja an. Zu­min­dest ta­ten wir das in den letz­ten paar Mil­lio­nen Jah­ren.

So schob ich al­so für die letz­ten 25 Me­ter die Mas­ke noch ein­mal hoch, frei­es Feld vor mir ha­bend, das Fahr­rad schon fast zum Grei­fen nah. Mür­risch in­dif­fe­rent pack­te ich mei­ne Ein­käu­fe in die Sat­tel­ta­schen, ent­rie­gel­te das Fahr­rad­schloss und woll­te mich schon auf den Weg ma­chen, hielt dann je­doch in­ne. „Was war da ei­gent­lich ge­ra­de pas­siert?“, frag­te ich mich.

So ent­schloss ich mich, die drei po­li­zei­lich auf­ge­mach­ten Her­ren zu be­ob­ach­ten und frag­te mich: „Ist das Po­li­zei? Ist das nicht et­was über­trie­ben?“ Ich späh­te, um mich ver­ge­wis­sern zu kön­nen, denn mir lag im Kopf, dass Po­li­zis­ten im Dienst ja ih­re Kopf­be­de­ckung zu tra­gen ha­ben, was hier nicht der Fall war. Co­ro­na-Ab­zo­cke? Ver­klei­de­te, die im Schutz von Mas­ke und Son­nen­bril­le ihr Un­we­sen trei­ben und un­be­schol­te­ne Bürger/innen ab­zie­hen? Da­ge­gen sprach das Na­mens­schild, des­sen ich aus dem Au­gen­win­kel ge­wahr war, als ich zur Ord­nung ge­ru­fen wur­de. Gut, wer’s d’rauf an­legt, will frei­lich recht au­then­tisch ’rü­ber­kom­men.

Al­so die Mas­ke doch noch ein­mal auf­ge­setzt und für Ge­wiss­heit ge­sorgt. Am Är­mel ei­nes der Män­ner ein Sti­cker mit Stadt­wap­pen, so­weit ich das se­hen konn­te, der Schrift­zug „Voll­zugs­dienst“ dar­über. Man sei vom Ord­nungs­amt, eben­falls recht mür­risch in­dif­fe­rent zur Aus­spra­che ge­bracht, auf mei­ne klä­ren­de Fra­ge hin, wäh­rend eif­rig et­was no­tiert wur­de. „Wohl doch al­les rech­tens.“ den­kend, troll­te ich mich wie­der zum Fahr­rad. „Wirk­lich?“ Ich ent­schloss mich, je­nes sich mir bie­ten­de Thea­ter noch et­was zu stu­die­ren.

Ei­ne Wei­le al­so das Ak­ti­ons­feld be­ob­ach­tend, konn­te ich se­hen wie bin­nen ei­ner ge­fühl­ten Mi­nu­te, oder so, drei Per­so­nen zur Kas­se ge­be­ten wur­den, weil oh­ne Mund-Na­sen-Be­de­ckung un­ter­wegs bzw. nicht im ord­nungs­ge­mä­ßen Ein­satz. 10 Eu­ro, wie sich spä­ter her­aus­stel­len soll­te, zu­min­dest für ei­nen der zur Kas­se be­stell­ten.

Die aus­führ­li­che Be­schrei­bung der Sze­ne­rie un­ter blau­em Him­mel mag ge­hol­fen ha­ben, sich in die Si­tua­ti­on hin­ein­zu­ver­set­zen. Und dann kann hier, darf und soll, ja: muss viel­leicht so­gar die Fra­ge nach der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ge­stellt sein, oh­ne so­gleich in die rechts-lin­ke, mehr oder we­ni­ger ex­tre­mis­ti­sche pseu­do­kri­ti­sche Ecke mit oder oh­ne Alu­hut ge­stellt zu wer­den. Auch an­ge­sichts der Schutz­wes­ten stellt sich die­se Fra­ge, denn da keimt ei­nem ja so­fort der Ge­dan­ke auf, dass das wohl ein hoch­ge­fähr­li­cher Ein­satz ist, den die drei Män­ner da durch­füh­ren. Of­fen­bar traut man den Besucher_innen des Mark­tes an die­sem Diens­tag­mor­gen al­les zu, hin bis zum Ge­brauch von Stich- oder gar Schuss­waf­fen. Ich fühl­te mich, als ich von ei­nem die­ser Uni­for­mier­ten an­ge­spro­chen wur­de, so­fort als üb­lich ver­däch­tig. Kein schö­nes Ge­fühl. Und in kei­ner Wei­se för­der­lich, mein Ver­trau­en in den Voll­zugs­dienst zu stär­ken. Denn ge­wiss ist das Tra­gen ei­ner Mund-Na­sen-Be­de­ckung zu­min­dest in ge­rin­gem Um­fang hilf­reich, wenn sich in ge­schlos­se­nen Räu­men auf­ge­hal­ten wird oder über län­ge­re Zeit an un­be­lüf­te­tem Ort kom­mu­ni­zie­rend zu­sam­men­ge­stan­den wird. Doch so­viel Mün­dig­keit soll­te mir sei­tens des städ­ti­schen Ord­nungs­de­zer­na­tes oder der Lan­des­re­gie­rung oder gar Bun­des­re­gie­rung schon zu­ge­stan­den wer­den, wann es nach der­zei­ti­gem Stand des All­ge­mein­wis­sens über Tröpf­chen­in­fek­ti­on, Ae­ro­so­le und Ab­stand ge­bo­ten ist, Mund und Na­se zu be­de­cken und wann die­se Maß­nah­me schlicht un­nö­tig ist und leicht als Gän­ge­lei auf­ge­fasst wer­den kann. Ei­ne sol­che ver­nunft­ge­lei­te­te Ab­wä­gung kann man mir schon zu­mu­ten und zu­trau­en, wie be­stimmt 80% der Mitbürger/innen auch. Für die rest­li­chen 20% ist dann das Ord­nungs­amt zu­stän­dig. Lei­der. Doch man­che sind eben ein­fach re­ni­tent, aus wel­chen Grün­den auch im­mer, oder an­der­wei­tig un­wil­lig, Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten. Ger­ne mit dem Po­chen auf De­mo­kra­tie und Frei­heit und so.

Die An­spra­che ei­ner der Be­lang­ten, eben ge­nau we­gen der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit, gab ne­ben der Aus­kunft über die Hö­he des Ord­nungs­gel­des ei­ne über­ra­schen­de Ant­wort be­züg­lich der auf­ge­rüs­te­ten Ord­nungs­hü­ter: „Die kön­nen ei­nem leid tun.“ Recht hat er. Und Leid an­tun kön­nen sie ei­nem auch. Un­nö­ti­ger­wei­se. Doch eben: Im Auf­trag.

Um es zum Schluss noch mal ganz klar zu stel­len: All­tags­mas­ken kön­nen hel­fen, das In­fek­ti­ons­ge­sche­hen zu kon­trol­lie­ren. Doch die stu­re Durch­set­zung ei­ner Pflicht oh­ne si­tua­ti­ve An­pas­sung, ge­gen die ich mich hier aus­drück­lich stel­le, das ist Ent­mün­di­gung, zu­min­dest kann ich leicht ei­nen sol­chen Ver­such ver­mu­ten. Un­ter be­stimm­ten Be­din­gun­gen sinn­vol­le Vor­schrif­ten oh­ne An­ge­mes­sen­heits­er­wä­gung re­ni­tent zu ahn­den, das neh­me ich als ei­ne Form von will­kür­li­cher Ge­walt wahr. Ja, das ist wohl über die Spit­ze ge­trie­ben und soll ver­deut­li­chen, dass ein Po­li­zei­staat nicht von heu­te auf mor­gen in der Welt ist, son­dern sich in die Ge­sell­schaft ein­schleicht, und ge­wis­se äu­ße­re Be­din­gun­gen das be­güns­ti­gen kön­nen. Und die der­zei­ti­ge Co­ro­na-Si­tua­ti­on scheint mir bei ei­ni­gen da­hin­ge­hend in den Kopf zu stei­gen. Ei­ne ver­nünf­ti­ge He­gung von Pflich­ten sieht zu­min­dest für mei­ne li­be­ral-so­zia­le Grund­ein­stel­lung völ­lig an­ders aus. Und wer denkt, an­ge­sichts der Pu­tins und Trumps und wie sie al­le hei­ßen, in Deutsch­land, und in der schö­nen Pfalz kön­ne so­was ja schon über­haupt gar nicht pas­sie­ren, der irrt sich wo­mög­lich ge­wal­tig. Der au­to­ri­tä­re Cha­rak­ter1⇣vgl. Theo­dor W. Ador­no. ist je­der­zeit und über­all und wir soll­ten al­le auf der Hut sein und kleins­te An­zei­chen so­fort zur Spra­che brin­gen, da­mit ist schon viel ge­tan. Wie bei Sars-Co­V‑2 auf der po­li­ti­schen Sei­te ist auch im Um­gang mit den po­li­tisch Ver­ant­wort­li­chen und de­ren Ent­schei­dun­gen auf der ge­sell­schaft­li­chen Sei­te um­sich­ti­ge, viel­leicht manch­mal über­trie­be­ne, Vor­sicht bes­ser denn reu­ige Nach­sicht.

Lie­ber las­se ich mir ein paar mal ei­ne ab­sur­de Un­ter­stel­lung vor­wer­fen, mir auch vor­wer­fen, ich ge­hö­re ja auch nur zu die­sen 20% über­be­sorg­ten Bürger_innen, die nur da­ge­gen sind, um ge­gen et­was sein zu kön­nen, als – am End’ noch we­gen eben je­ner 20% – un­ter ei­nem Dik­tat le­ben zu müs­sen, weil ei­ne Min­der­heit den Ton an­ge­ge­ben hat und die Po­li­tik es an Ver­trau­en in die Bür­ger­schaft hat feh­len las­sen. Die­ses aber von eben je­nen ver­langt bzw. still­schwei­gend vor­aus­setzt, denn man ist ja schließ­lich ge­wählt wor­den. Und in ei­nem au­to­ri­ta­ris­ti­schen Staats­kli­ma dann wo­mög­lich noch mit ei­nem schlech­ten Ge­wis­sen, wel­ches mir mein Schwei­gen ein­ge­bracht hät­te, ein gu­tes Le­ben zu füh­ren hät­te, was dann wohl un­mög­lich wä­re, zu­min­dest für mich. Denn ich ha­be die An­fän­ge ja ge­se­hen und mir mei­ne Ge­dan­ken ge­macht. Und den Rest mei­nes so­la­la ge­führ­ten Le­bens müss­te ich dann mit Ei­nem zu­sam­men­le­ben, der ge­schwie­gen hat, wo es bes­ser ge­we­sen wä­re, die Stim­me zu er­he­ben. Nur weil er in kei­ne Ecke ge­stellt wer­den woll­te, wo er nicht hin­ge­hört.

Ak­tua­li­sie­run­gen
12.6.2020:
Sie­he auch den Bei­trag von Nils Mark­wardt auf philomag.de vom 9.6.2020: In vie­len Län­dern mi­li­ta­ri­siert sich die Po­li­zei. Das führt zu ei­ner ge­fähr­li­chen Um­stül­pung der Freund-Feind-Lo­gik nach in­nen — und ver­stärkt da­mit je­nen Ras­sis­mus, ge­gen den ge­ra­de welt­weit pro­tes­tiert wird.
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Re­fe­ren­ces
1 vgl. Theo­dor W. Ador­no.

Schauen trauen

Ein Versuch, die Verschwörungstheorie-Bewirtschaftung zu verstehen. Über Angst und ihre Gesichter. Über Mut.

Auch ich spü­re ein deut­li­ches Un­be­ha­gen und möch­te nichts über To­des­ra­ten und Re­pro­duk­ti­ons­zah­len wis­sen, son­dern Zah­len, mit de­nen ich das Ri­si­ko selbst ein­schät­zen kann. Ich möch­te re­la­ti­ve Zah­len. Ir­gend­ein Maß­stab, der an­ge­legt wird. Ich möch­te nicht, das Co­ro­na zum Maß­stab ge­macht wird. Ab­so­lu­tis­mus hat noch nie zu et­was Gu­tem ge­führt. Au­ßer zur Auf­klä­rung, na­tür­lich.

Letzt­lich ist es die Angst, die sich da un­be­hag­lich mel­det, mit der ich um­zu­ge­hen ha­be, mit der ich ein Ver­hält­nis ein­ge­hen soll­te. Doch ich be­mer­ke, wie ich im­mer wie­der ins Ge­fühl des Miss­trau­ens fal­le. Ha­ben die Ver­nünf­ti­gen die Un­ver­nünf­ti­gen wirk­lich im Griff? Wie vie­le sind das ei­gent­lich, die zu­sam­men­fas­send mal als Alu­hut-Frak­ti­on be­zeich­net sein mö­gen und wo­zu Reichsbürger:innen, rech­te wie lin­ke Extremist:innen, Antisemit:innen und was da noch so kreucht und fleucht an harm­lo­sen und sehr viel we­ni­ger harm­lo­sen ‚Freiheitskämpfer:innen‘, zu zäh­len sind? Im heu­te-jour­nal vom letz­ten Frei­tag, glau­be ich, se­he ich ei­nen mi­nu­ten­lan­gen Be­richt, In­ter­views mit frag­wür­di­gen An­ti-Co­ro­na-Maß­nah­men-De­mons­trie­ren­den etc. und auch dem An­schein nach nicht frag­wür­di­gen, doch trügt da gar der Schein? Und ich fra­ge mich: Sind die doch der­art sys­tem­re­le­vant, dass de­nen in ei­nem TV-Leit­me­di­um ei­ne der­ar­ti­ge Prä­senz zu­ge­stan­den wird? Sind das am En­de viel mehr als die von mir ver­mu­te­ten 20% Depp:innen, ge­gen die ich all­er­gisch bin, doch mit de­nen man nun mal zu le­ben hat wie mit den für man­che mehr als läs­ti­gen Pol­len? Oder, schlim­me­re Alb­phan­ta­sie: wer­den das im­mer mehr, weil aus die­ser Ecke Klar­heit sug­ge­riert wird? Weil die der­zeit Ver­ant­wort­li­chen nicht das Rück­grat ha­ben klar zu stel­len, dass die Si­tua­ti­on voll­kom­men un­über­sicht­lich ist, man aber aus dem Ti­ta­nic-De­sas­ter et­was ge­lernt hat und nun des­halb mit 1132 Kraft sich vor­tas­tet durch die­ses Eis­berg­feld, in das die­ses Land, ja: die Welt, hin­ein­ge­ra­ten ist? Wo wird in be­nann­ten Leit­me­di­en über die von mir ver­mu­te­ten 80% Ver­nünf­ti­ger be­rich­tet, die sehr wohl ein Ge­fühl und Ge­spür für die La­ge ha­ben und eben ein­fach nur Auf­rich­tig­keit, Trans­pa­renz und Of­fen­heit ein­for­dern, oh­ne Po­lit- und/oder Me­di­en-Spiel­chen, um ori­en­tiert sein zu kön­nen, und der An­sicht sind, dass das ei­ne Bring­schuld ist und nicht in spe­zi­el­len Me­di­en erst er­forscht wer­den muss? Um ihr und das Ri­si­ko für an­de­re rea­lis­tisch ein­schät­zen zu kön­nen? Um die Ad­äquat­heit der Maß­nah­men ein­schät­zen zu kön­nen? Al­so so, wie ich das am Be­ginn des Schla­mas­sels be­ob­ach­ten konn­te und dann eben von Ver­trau­en schrei­ben konn­te? Gibt es die­se Ver­nünf­ti­gen viel­leicht gar nicht? Bin ich der ein­zi­ge mei­ner Art? Hat sich die Welt ge­gen mich ver­schwo­ren? Viel­leicht doch bes­ser Alu­hut? …

Jetzt schrei­be ich über Miss­trau­en. Das kann mir nicht ge­fal­len, über­haupt nicht, doch es muss doch wohl ge­sagt sein dür­fen, das Miss­trau­en wie Furcht ein Aus­druck von Angst ist. Die Alu­hut-Frak­ti­on al­so Angst­bür­ger sind und das ein ge­sell­schaft­li­ches Feld ist, das eben ger­ne von skru­pel­lo­sen Machtfanatiker:innen be­wirt­schaf­tet wird, die da­mit auch nur ih­rer Angst ein Ge­sicht ge­ben, wie ich all­zu gern ver­mu­ten mag. Angstbürger:innen, die sich ei­ne Ach­tung ver­schaf­fen wol­len, auch und viel­leicht ge­ra­de sich selbst ge­gen­über, weil sie es in die­sem Sys­tem aus wel­chen Grün­den auch im­mer nicht ge­schafft ha­ben, ei­ne sol­che aus klei­nen und gro­ßen Er­fol­gen, Leis­tun­gen, ins­be­son­de­re wirt­schaft­li­chen, zu er­lan­gen? Kann das sein? Für er­folg­rei­che „Sys­tem­kon­for­me“ ist das nicht nach­voll­zieh­bar. Und jetzt, mit Co­ro­na, we­gen der Maß­nah­men, steigt wohl die An­zahl de­rer, die im Sys­tem nicht mehr er­folg­reich sein kön­nen, an. Das könn­te ei­ner der Mo­to­ren sein, die ei­nen Sog er­zeu­gen: Die Be­fürch­tung, den Selbst­wert, der in Leis­tung grün­det, zu ver­lie­ren. Da wächst sie dann, die Block­wart-Men­ta­li­tät: Je­der be­kommt ei­nen Job! Im neu­en Staat gibt es un­end­lich vie­le höchst­wich­ti­ge Po­si­tio­nen zu be­set­zen, dün­ken mich die Funktionär:innen wie Funk­tio­nie­ren­den der Fa­schis­mus-In­dus­trie an.

Kaum ein/e Politiker/in wird mir zu­stim­men kön­nen, wenn ich sa­ge: lasst uns doch über Angst re­den statt über Alu­hü­te. Lasst uns doch ler­nen, mit Angst bes­ser um­ge­hen zu kön­nen. Co­ro­na ist da ein hef­ti­ges Lern­la­bor, si­cher, doch viel­leicht macht das schlicht nur dar­auf auf­merk­sam, was in der Ver­gan­gen­heit seit Hel­mut Kohl ver­ab­säumt wur­de. Sta­bi­le po­li­ti­sche Ver­hält­nis­se mit jahr­zehn­te­lang glei­chem Ge­sicht an der obers­ten Spit­ze der Exe­ku­ti­ve mag Si­cher­heit ver­mit­teln — doch das lullt die Angst nur ein; wir ha­ben wo­mög­lich ver­lernt, mit ihr um­zu­ge­hen. Wir ha­ben uns in Si­cher­heit ge­wo­gen und da­mit letzt­lich ein Stück Frei­heit ver­lo­ren.

Angst ist nicht un­ser Feind, den wir be­sie­gen müss­ten. Sie kann un­se­re bes­te Freun­din sein. Im Grun­de ist sie ja so et­was wie ein Kri­mi­nal­dau­er­dienst, stän­dig auf­merk­sam, wo Un­bill lau­ern mag. Die, die uns prä­ven­tiv agie­ren lässt. Wenn wir wol­len, in je­der Si­tua­ti­on. Und wel­cher Si­tua­ti­on kann nicht auch et­was Ge­fähr­li­ches ab­ge­won­nen wer­den? Es ist ja letzt­lich ei­ne Fra­ge des Blick­win­kels. Au­ßer im Pa­ra­dies, na­tür­lich.

Aber wie das nun mal mit bes­ten Freun­den so läuft: Über die re­den wir viel zu we­nig, sie ha­ben so et­was Selbst­ver­ständ­li­ches. Da­für echauf­fie­ren wir uns um­so mehr über je­ne, die wir nicht als Freun­de ha­ben wol­len. Und das macht sie grö­ßer, als sie sind. Bis sie zu Fein­den ge­wor­den sind. Und als sol­che im­mer grö­ßer wer­den.

Mu­tig ist, wer über die Ge­sich­ter der Angst re­den kann, sich nicht scheut, ihr Ant­litz zu schau­en. Sei’s das des Furcht-Mons­ters oder das des Miss­trau­ens-Albs oder in wel­chen sons­ti­gen gru­se­li­gen Ge­stal­ten sie da­her­kom­men mag. Und ist in ei­ner Kri­se nicht Mut der bes­se­re Rat­ge­ber? Ist es nicht die Angst, die uns vor Über­mut schützt und un­ser Sor­gen um und für an­de­re vor Leicht­sin­nig­keit, ‚Un­ter­mut‘?

Doch Mut hat sei­ne in­di­vi­du­el­len Gren­zen. Des­halb ist es frei­lich an­ge­zeigt, mit den Ge­sich­tern der Angst nur mit je ge­sun­der Do­sis zu han­tie­ren. Und wenn uns Angst vor Über­mut und Sor­ge um Un­ter­mut schützt, dann ist es viel­leicht die rech­te Mi­schung von Angst und Sor­ge, die den Mut wach­sen lässt, oh­ne dass er wu­chert.

Die Angst ist die Wur­zel al­ler Po­li­tik, soll Aris­to­te­les in sei­ner Rhe­to­rik an­ge­merkt ha­ben1⇣Jens Soent­gen: Kli­ma: Was heißt nun po­li­ti­sches Han­deln?, in: DIE ZEIT № 21, 14. Mai 2020, S. 47.. Oh­ne in die­ses Werk nun bli­cken zu kön­nen (Schan­de im Bü­cher­schrank, ge­wiss; und auch das In­ter­net bie­tet nichts brauch­ba­res) will mir das doch mei­nen wol­len, dass es die Angst ist, die die Men­schen sich hat zi­vi­li­sie­ren las­sen, zur Sor­ge ge­führt hat. Der Wunsch nach Kul­tur es ist, die den Mut zum Staat brach­te. Denn oh­ne Kul­tur geht gar nichts. Gleich­wohl könn­te der Satz auch aus­ge­legt wer­den als Mah­nung an die Po­li­tik: Angst nut­zen, um nicht über­mü­tig zu wer­den, Sor­ge – es könn­te ein Ge­sicht der Lust sein, be­rei­tet uns das Sor­gen für an­de­re doch im all­ge­mei­nen Freu­de –, um nicht leicht­sin­nig zu wer­den. Auch Politiker:innen dür­fen Angst ha­ben. Ja, sie soll­ten das so­gar. Und sie soll­ten auch dar­über re­den kön­nen um so zu zei­gen, dass sie nicht stär­ker als ih­re Angst, aber ver­trau­ter mit den Ge­sich­tern der Angst sind als es ei­nem Nor­mal­bür­ger (w/d/m) ab­zu­ver­lan­gen nö­tig wä­re. Und dass sie des­halb ge­wählt wur­den. Und nicht, um mäch­tig zu sein. Die Macht liegt im Volk.

Sol­ches ver­nahm ich am An­fang der auch „Co­ro­na-Kri­se“ ge­nann­ten Zä­sur. Vie­le Vertreter:innen der Po­li­tik wirk­ten auf mich merk­wür­dig mensch­lich nah. Wirk­lich ver­trau­ens­er­we­ckend, als für mich zu spü­ren war, dass auch ih­nen, den Voll­pro­fis (w/d/m), of­fen­bar die Muf­fe ging. Doch sie zeig­ten eben Mut, d. i. Lust mit dem Ge­sicht der Be­son­nen­heit. Ei­ni­ge bes­ser als an­de­re, doch das tut dem Gan­zen kei­nen Ab­bruch. Ich spür­te die Macht, das Ver­mö­gen sich von Ängs­ten, al­so den Ge­sich­tern der Angst, nicht ins Bocks­horn ja­gen zu las­sen. Und jetzt, die gröbs­ten Wel­len ha­ben sich ge­glät­tet, be­ginnt auch in der Po­li­tik wie­der der All­tag Ein­kehr zu hal­ten. Mit ei­ner an­de­ren, neu­en Nor­ma­li­tät, wie es ja jetzt laut­stark heißt. Doch an der Men­ta­li­tät scheint sich, fürch­te ich, nicht oder noch nicht wirk­lich et­was ge­än­dert zu ha­ben. Bald sind wie­der Wah­len, 16 Mo­na­te nur noch, Macht­an­sprü­che müs­sen gel­tend ge­macht wer­den. An­sprü­che an das Be­stim­men sol­len, was in die­sem Staat wie zu pas­sie­ren hat. Das Re­gie­rungs­man­dat will er­kämpft sein. Wahl­kampf ist Krieg.

Und da kommt es dann, das Miss­trau­en, das, was mich ir­ra­tio­nal um­treibt, weil die Angst kein an­de­res Ge­sicht fin­det. Die Be­fürch­tung der Ohn­mäch­tig­keit der ge­wähl­ten Volksvertreter:innen vor den Ver­lo­ckun­gen der Macht. Vor ei­ner Po­li­tik al­so, die al­le Angst und Sor­ge, die al­le Ge­sich­ter der Angst und Sor­ge ver­ges­sen ma­chen will. Die Be­fürch­tung ei­nes Pa­tri­ar­chats oder ih­rer müt­ter­li­chen Form, dem Ma­tri­ar­chat, das al­le Sor­ge und Ängs­te ver­ges­sen ma­chen will. „Wir küm­mern uns d’rum! Ver­spro­chen! Ver­trau­en Sie mir!“ Be­schrän­kung der Au­to­no­mie, auf Dau­er ge­stell­te He­te­ro­no­mie. Die Fremd­be­stim­mung soll mehr wie­gen als die Selbst­be­stim­mung. Hier­ar­chie ist mäch­ti­ger als He­te­r­ar­chie. Denn Hier­ar­chie ist auch nur ei­ne Form von Mo­no­the­is­mus.

Das nicht nur der­zeit mons­trö­ses­te Ge­sicht mei­ner Angst ist häu­fig, dass die­ses Land un­ge­wollt und un­be­merkt in ei­nen Au­to­ri­ta­ris­mus rutscht und sich vie­len Ge­sell­schaf­ten an­gleicht. Und AfD und an­de­re Füh­rungs­ham­mel der Alu­hut-Frak­ti­on als Steig­bü­gel­hal­ter agie­ren. Al­les oh­ne Ab­sicht, es pas­siert ein­fach so, das ist das Un­heim­li­che an die­sem pho­bi­schen Ge­dan­ken­bild. Per­sön­lich­kei­ten wie ein Mar­kus Söder sind in un­kla­ren La­gen ge­wiss ech­tes Gold wert. Doch sie müs­sen auch zu­rück­tre­ten kön­nen vom Kri­sen­ma­nage­ment-Mo­dus, da­mit kei­ne stän­di­ge Lust auf die star­ke vä­ter­li­che oder stil­le müt­ter­li­che Hand, die al­les
zu re­geln ge­willt ist, hin­ter­las­sen wird. Und es sind eben die Bür­ger, die selbst ins Kri­sen­ma­nage­ment ein­tre­ten sol­len. Die Ver­ant­wor­tung über­neh­men für die Ge­sich­ter ih­rer Angst. Das kann und darf, viel­leicht so­gar: soll ih­nen zu­ge­mu­tet und zu­ge­traut wer­den. So gut ih­nen das nur mög­lich ist. Hier ist es wahr­lich der gu­te Wil­le, der zählt. Die ih­re Frei­heit wahr­neh­men, ver­nünf­tig und mit oh­ne Alu­hut. Und wenn selbst der Bun­des­prä­si­dent sich ge­mü­ßigt, um nicht zu sa­gen: ge­nö­tigt sieht, et­was zu Alu­hü­ten zu sa­gen2⇣https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-corona-107.html |18.5.2020 – 11:00 — wo le­ben wir? Wie wol­len wir le­ben?

Des­we­gen ist mir nicht die Ver­wen­dung ei­ner Mund- und Na­sen­be­de­ckung in be­stimm­ten Si­tua­tio­nen ein Me­ne­te­kel, son­dern die Pflicht, die da aus­ge­ru­fen wur­de. Denn oh­ne dass ich das will, fällt mir da­bei so­fort Han­nah Are­ndts „Ba­na­li­tät des Bö­sen“ ein, hier frei­lich schlicht des­halb, weil die Mas­ken­tra­ge­rei letzt­lich ei­ne Ba­na­li­tät ist. Ir­ra­tio­nal, ja. Doch so ist es nun mal, wenn die Angst ein Ge­sicht sucht, um sich aus­drü­cken zu kön­nen, fass­bar zu wer­den, be­greif­bar. Denn zu ei­ner Angst oh­ne Ge­sicht ist kein ra­tio­na­les Ver­hält­nis mög­lich. Da­mit aus dem gan­zen Vi­ren­ge­döns kei­ne selbst­ver­schul­de­te Un­mün­dig­keit wird, da­zu braucht un­se­re Angst Ge­sich­ter.

Al­les über­trie­be­ne Pa­nik­ma­che, völ­li­ge Fehl­ein­schät­zung der Si­tua­ti­on, angst­ge­trie­be­ne, miss­trau­ens­ge­ne­rier­te Pa­ra­noia? Mag sein, man ist ja auch nur Mensch. Doch es gibt ja Vi­ren in der Welt, und de­ren na­tür­li­che Ver­meh­rungs­dy­na­mik kann ja zu­min­dest für ei­ne Ana­lo­gie her­hal­ten. Die Pan­de­mie hat auch nur mit ei­nem ein­zi­gen in­fi­zier­ten Men­schen (w/d/m) be­gon­nen, der von sei­ner In­fek­ti­on viel­leicht so­gar gar nichts wuss­te, sym­ptom­frei war, gar. Na­tur lässt sich nicht über­lis­ten. Vi­ren sind im­mer. Über­all. Auch in den Köp­fen.

Tem­pe­ra­ment­vol­ler Ge­dan­ken­reich­tum ei­nes über­be­sorg­ten Bür­gers mit leb­haf­tem Ge­müt? Mag sein, Mensch­sein ist ei­ne Man­nig­fal­tig­keit. Viel­leicht je­doch auch ein Plä­doy­er für die bür­ger­li­che Mün­dig­keit. Denn die Bür­ger­schaft bürgt letzt­lich für die­sen Staat — ei­ne Fol­ge des Art. 20, Abs. 2 GG3⇣https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html|18.5.2020 – 12:00. (Das ist die Stel­le mit der Macht und dem Volk. Und nicht nur die ‚Wi­der­ständ­ler‘ sei­en an Abs. 4 er­in­nert: Wi­der­stand nur, wenn an­de­re Ab­hil­fe nicht mög­lich ist. Auf­klä­rung ist ei­ne Ab­hil­fe.)

Und zu­min­dest ich möch­te als Zei­chen die­ser Bürg­schaft we­der Alu­hut noch Frem­den­hass, in wel­cher Form auch im­mer, iden­ti­fi­zie­ren müs­sen. Selbst­ach­tung, die möch­te ich als Zei­chen der Bürg­schaft wahr­neh­men kön­nen. Und der­zeit zeigt sich die in Ab­stand, Ab­stand, Ab­stand. Und Mund-Na­sen-Be­de­ckung, wo es ge­bo­ten ist, in vol­len Lä­den, vol­len U‑Bahnen, Bus­sen, Bah­nen. Auf stark be­leb­ten of­fe­nen Plät­zen, wo es Mü­he macht, den Ab­stand zu wah­ren. Beim Um­gang mit be­son­ders ge­fähr­de­ten Per­so­nen, nach Er­mes­sen un­se­rer ak­tu­ell ge­si­cher­ten, als wahr be­gründ­ba­ren Mei­nung, un­se­rem Wis­sen.

Ganz oh­ne Pflicht. Aus dem rei­nen Wil­len zur Ver­nunft. Aus der pu­ren Lust auf Frei­heit mit der Ge­schmacks­rich­tung Ver­ant­wor­tung. Mit dem Mut zum nicht-wis­sen-Kön­nen. Denn wir sind nicht voll­kom­men und kein Mensch kann das gro­ße, al­les um­fas­sen­de, al­les re­geln­de, das 100% si­che­re Me­ga­kon­zept, das al­les er­klärt und al­les vor­her­sag­bar macht, al­so den ab­so­lut über­mäch­ti­gen Plan, die Welt­for­mel, ha­ben. Keine/r. Nie­mand. Al­lein schon gar nicht und auch nicht als Bund, ge­heim oder nicht. Des­halb kann auch Keine/r was da­von wis­sen. Weil es ei­nen sol­chen oder Tei­le ei­nes sol­chen Lay­outs schlicht nicht gibt. Nicht ge­ben kann, weil das hier kei­ne Ma­trix ist. Mit ei­nem sol­chen De­sign oder ei­ner Teil­stra­te­gie ei­nes sol­chen An­sin­nens kann al­so leis­tungs­un­ab­hän­gi­ge Selbst­ach­tung und Mut zum nicht-wis­sen-Kön­nen nicht er­setzt wer­den.

Sor­ry; is’ blöd, is’ aber nun mal so. Gruß, auch an Nietz­sche, Gott.

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Re­fe­ren­ces
1 Jens Soent­gen: Kli­ma: Was heißt nun po­li­ti­sches Han­deln?, in: DIE ZEIT № 21, 14. Mai 2020, S. 47.
2 https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-corona-107.html |18.5.2020 – 11:00
3 https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html|18.5.2020 – 12:00

Eine neue Weltordnung?

Über Archipele und Architekten, über Anarchie und Archäologie. Über das Erste.

Vie­le re­den in die­sen Zei­ten von ei­ner neu­en Nor­ma­li­tät, die kom­men wird. Doch ist denn Nor­ma­li­tät nicht stän­dig ei­nem Wan­del un­ter­wor­fen? Ist das Auf­kom­men ei­ner so­ge­nannt neu­en, letzt­lich nicht nur der Wan­del der ei­nen Nor­ma­li­tät in ei­ne an­de­re Form und da­mit völ­lig nor­mal? Wie auch wir, wenn wir in den Spie­gel schau­en, zwar stets den sel­ben, doch nie den glei­chen Men­schen se­hen. Man­che Nor­ma­li­täts­flüs­se sind sehr lang­sam, ei­nem Mount Ever­est sieht man die ste­te Ver­än­de­rung nicht so an wie ei­ner Kirsch­blü­te in ih­rem Wer­den und Ver­ge­hen — die­ses Ver­ge­hen, das ein Wer­den ist. Und dann gibt es ra­send schnel­le Nor­ma­li­täts­wech­sel. Bör­se, Hoch­fre­quenz­han­del: In Bruch­tei­len ei­ner Se­kun­de sind völ­lig an­de­re Be­din­gun­gen mög­lich, un­ter de­nen ge­kauft und ver­kauft, ge­han­delt wird. An­de­re Nor­ma­li­tä­ten, eben.

Wir wol­len Ord­nung in der Welt, sie soll für uns in Ord­nung sein. So dass wir ori­en­tiert sind, wis­sen wo wir ste­hen, zu­al­ler­erst. Pla­nen kön­nen wo’s hin­ge­hen soll in nach­ge­ord­ne­ter Rang­fol­ge. Oder auch um­ge­kehrt. Doch wenn wir nicht wis­sen wo wir ste­hen, wis­sen wir auch nicht wie wir zum Ziel kom­men kön­nen. Und Hier­ar­chien ge­ben uns ei­ne Ord­nung im Kos­mos. Ja, mehr noch: Mit Hier­ar­chien bau­en wir über­haupt un­se­ren Kos­mos, un­se­re Ord­nung. Brin­gen Welt in ei­ne Ord­nung. Ge­ben ihr Struk­tur. Ma­chen sie uns hand­zahm oder eben zu­han­den, wie das Mar­tin Heid­eg­ger wohl ge­sagt hät­te. Ma­chen sie uns Un­ter­tan, wie es wohl die Bi­bel be­fiehlt.

Ger­ne ge­ben wir die­ser Struk­tur dann auch ei­ne Ord­nung im Sin­ne ei­ner Rei­hen­fol­ge. Wer ist zu­erst, wer steht zu­oberst? Was ist wich­tig, was ist un­wich­tig? Wer ist wich­tig, wer nicht? Men­schen­freund­li­cher for­mu­liert, Wich­tig­keit al­len zu­schrei­bend: Wer ist wich­ti­ger als An­de­re?

Im Mo­ment ist der Boss, das Wich­tigs­te in un­se­rem Le­ben, über den ge­sam­ten Glo­bus hin­weg, das mas­sen­haf­te Auf­tre­ten ei­nes Vi­rus, der je­dem und je­der von den Uns­ri­gen et­was be­sche­ren kann. Ei­ne In­fek­ti­on, die kei­nen oder den Ef­fekt ei­ner Krank­heit ha­ben kann, die wohl in der deut­li­chen Mehr­heit der Fäl­le mit schwa­chen bis mä­ßi­gen Sym­pto­men ein­her­geht. Doch die auch mit dem Tod en­den kann, wenn be­stimm­te Be­din­gun­gen im Wirt er­füllt sind, wo­mög­lich auch um die Wir­tin her­um. Ist das vi­ra­le Ge­sche­hen der Boss?

Scheint nicht eher der Tod wie­der ein Meis­ter in Deutsch­land zu sein? Der Prin­zi­pal. Der Chef. Der Vor­stands­vor­sit­zen­de. Der, der be­stimmt wo’s lang­geht. Dem Tod kommt bi­bli­sche Got­tes­macht zu, könn­te man fast sa­gen. In ge­wis­ser Wei­se un­ter­wirft er uns sei­nem Wil­len, der da ge­schieht, ob wir es wol­len oder nicht. Brem­sen kön­nen wir die­se gött­li­che Macht. Doch ster­ben müs­sen wir al­le. Da ist kein Ver­hand­lungs­spiel­raum.

Das macht die Fra­ge nach der Hoff­nung auf, denn so be­trach­tet ist das sich zei­gen­de Bild doch ein recht ver­zwei­fel­tes. Nun kön­nen wir frei­lich hin­ge­hen und durch ge­schick­te Mul­ti­pli­ka­ti­on das Vor­zei­chen der Ver­zweif­lung um­keh­ren: Aus der Apo­ka­lyp­se wird das Pa­ra­dies, Ar­chi­pel der Won­ne. Doch das ist ty­pisch für ein Den­ken, wie wir es mit mit ei­nem Wort­ge­bil­de wie „Ent­we­der-Oder-Dik­ta­tur“ be­schrei­ben kön­nen. Die Welt, wie sie ist, geht un­ter oder wird zur Al­ler­bes­ten al­ler best­mög­li­chen Wel­ten. Ein Da­zwi­schen gibt es nicht. Die Ka­ta­stro­phe kommt und dann springt der Zu­stand der Welt von Un­be­stimmt auf Apo­ka­lyp­se und von Apo­ka­lyp­se auf Pa­ra­dies. Oder gleich auf Pa­ra­dies, oh­ne Apo­ka­lyp­se. Ist ja auch läs­tig, so ei­ne Apo­ka­lyp­se. Die­se Ent­schleie­rung, wenn das Wort nur über­setzt wird. Dann lie­ber gleich ne­ben den Göt­tern, pa­ra diés, wei­len. Nur dort sind sol­che Wort­spie­le­rei­en mög­lich.

Das Ver­schwin­den der Welt, wie wir sie ken­nen, ihr Un­ter­gang, ist ein völ­lig nor­ma­ler Vor­gang in der Welt, den wir tag­täg­lich be­ob­ach­ten kön­nen. Die Son­ne geht auf, das Pa­ra­dies ist da, die Son­ne geht un­ter und mit ihr die Welt, wie wir sie kann­ten. Am Frei­tag ver­schwin­det ei­ne gan­ze Wo­che in ei­nem Ab­grund aus pu­rem Nichts und ein strah­len­des Wo­chen­en­de steht in Aus­sicht. Bis Mon­tag, wo die Apo­ka­lyp­se wie­der ihr Werk ver­rich­tet und ein Pa­ra­dies oder auch ei­ne ganz nor­ma­le Welt in Stü­cke reißt. Oder auch nicht. Es kommt ja im­mer d’rauf an, doch das Prin­zip steht. Am An­fang des Früh­jahrs er­freu­en wir uns an den auf­ge­hen­den Blü­ten, die zu Be­ginn des Som­mers schon wie­der ver­schwun­den sind. Und wenn im Herbst die letz­ten Früch­te vom Baum ge­fal­len sind, ist die Welt für ei­ne Zeit ei­ne voll­kom­men an­de­re, es herrscht die Nor­ma­li­tät des Win­ters.

Und wir ge­ben die­sem all­täg­li­chen Wan­del ei­ne Hier­ar­chie. Für die Ei­nen steht der Früh­ling an ers­ter Stel­le, für die An­de­ren ist es der Win­ter, der das gan­ze Jahr be­stimmt. Für Bau­ern ist es be­stimmt der Herbst und für die Son­nen­hung­ri­gen mag es wohl mehr­heit­lich der Som­mer sein.

Doch ne­ben die­ser hier­ar­chi­schen Wei­se, in der die Ord­nung ei­ne Rang­ord­nung ist, se­he ich noch ei­ne an­de­re Mög­lich­keit, ei­nen Kos­mos zu bau­en. Ich nen­ne sie „He­te­r­ar­chie“. Und die­se He­te­r­ar­chie, sie hat viel mit Hoff­nung zu tun. Nein, nicht mit je­ner Hoff­nung, die ein „Al­les wird gut“ zur Pflicht macht. Es ist ein Ver­ständ­nis von Hoff­nung, die die Er­war­tung, die das Hof­fen re­prä­sen­tiert, auf Of­fen­heit stellt. Wort­bild­lich ge­stal­tet: Ei­ne Ver­stän­dig­keit, viel­leicht kann auch ge­sagt wer­den: ei­ne Ver­nunft, die das „H“ im Hof­fen raubt, ver­schluckt. Es ver­un­mög­licht das pa­ra­die­si­sche „Al­les ist gut“ in kei­ner Wei­se, macht es je­doch eben nicht zur ver­zwei­fel­ten Pflicht. Es ist ei­ne Hoff­nung der Wahl­mög­lich­keit. Der Al­ter­na­ti­venfül­le. Der Frei­heit.

In He­te­r­ar­chie steht das An­ders­sein, Fremd­sein, Un­gleich sein, Ver­schie­den sein, kul­mi­nie­ren wir es im No­men „das Frem­de“, an ers­ter Stel­le. Nein, so kann das gar nicht ge­sagt wer­den. Denn in He­te­r­ar­chie gibt es kein Ers­tes oder Letz­tes mehr, denn in der Grund­idee ist He­te­r­ar­chie ei­ne Hier­ar­chie mit der Los­grö­ße 1, Ers­tes und Letz­tes fal­len in Eins. Na­tür­lich bleibt das ‚ICH‘, das Ego, auch hier, um die­ses kom­men wir doch eh’ nicht her­um, oh­ne Ers­tes geht es nicht. Doch in He­te­r­ar­chie ist die­ses ‚ich‘ stets im An­blick von An­de­rem, zu de­nen auch An­de­re ge­hö­ren. Es ist ein Selbst. Der Kö­nig oder die Kö­ni­gin hat nur ge­nau ei­nen Un­ter­ta­nen, sich selbst. Das Prin­zip der Rang­ord­nung, der Macht und Mäch­tig­keit bleibt er­hal­ten, denn der Un­ter­tan hat sei­ne Ob­rig­keit, dar­an än­dert sich gar nichts. Nur der Be­zugs­rah­men, der Wirk­sam­keits­raum der Macht, der ist, nun ja, un­we­sent­lich klei­ner. Man ist sich in He­te­r­ar­chie so­zu­sa­gen selbst Herr wie Knecht. Das ist frei­lich ein Pa­ra­dies. Denkt Jede/r nur an eine/n Andere/n, ist an al­le ge­dacht. Doch je­des Pa­ra­dies braucht sei­ne apo­ka­lyp­ti­schen Rei­ter oder leck’ren Äp­fel, sonst ist es nur ei­ne stink­nor­ma­le, lang­wei­li­ge Welt, ei­ne öde Ord­nung oh­ne die Span­nung der Dif­fe­renz. Oh­ne die Be­wirt­schaf­tung der Apo­ka­lyp­se ist der Ver­kauf ei­nes Pa­ra­die­ses qua­si un­mög­lich. Man könn­te das auch Lan­ge­wei­le­kul­ti­vie­rung nen­nen.

In die­sem Ge­dan­ken­spiel gibt es kei­ne apo­ka­lyp­ti­schen Rei­ter, son­dern nur et­was, das oh­ne Lob und Ta­del ist: Das Frem­de. Eben nicht der oder die Frem­de, nein: das Frem­de. Dem Frem­den wird Ach­tung ge­währt, weil es uns zu ent­schlei­ern ver­mag und kein Ge­wicht oder ei­ne Mäch­tig­keit zu­ge­schrie­ben, weil es uns be­herr­schen könn­te. Die Macht des Frem­den ist, dass es mit uns et­was ma­chen kann, weil wir da­mit et­was ma­chen kön­nen. Uns ver­än­dern. Die Nor­ma­li­tät ins Flie­ßen brin­gen. Das ist das Prin­zip des Frem­den.

In He­te­r­ar­chie le­bend, le­ben wir nicht un­ter ei­nem Joch des Frem­den. Wir le­ben mit dem Frem­den. In He­te­r­ar­chie ist uns das Fremd­sein ver­traut. Es be­darf gar kei­ner Rang­ord­nung, weil kei­ne Furcht vor dem Frem­den exis­tiert. Das Frem­de ist ein Gast, dem wir mit Freund­lich­keit be­geg­nen. Wir fol­gen der Ma­xi­me der Gast­freund­schaft. Was in kei­ner Wei­se meint, der Gast sei Kö­nig und kön­ne tun und las­sen, was er oder sie möch­te. Wir le­gen dem Gast kei­ne Welt zu Fü­ßen, stel­len ihn auf kei­nen So­ckel, er­he­ben ihn nicht, ge­nau­so we­nig wie wir ihn er­nied­ri­gen. Wir er­war­ten von un­se­rem Gast, dass er/sie sich an die Re­geln hält. Denn es ist un­ser Haus, in dem er weilt. Und in die­sem Haus gel­ten un­se­re Re­geln. Be­gibt man sich als Gast in He­te­r­ar­chie, so weiß man sich als Gast zu be­neh­men. Meint man in He­te­r­ar­chie die oder der Obers­te sein zu wol­len oder zu kön­nen, als Gast oder Gastgeber/in, nun, so wird man als­bald zu spü­ren be­kom­men, das Gast­freund­schaft neh­mend wie ge­bend sei­ne Gren­zen hat. Ein­ge­hegt ist. In gu­te Sit­ten.

Wenn die Vi­ren­din­ger das nur wis­sen könn­ten! Doch es sind eben Din­ger, die­se Vi­ren, und kei­ne Le­be­we­sen. Krieg ge­gen Stei­ne füh­ren? Wo­zu? Sie fürch­ten? Wes­halb? Mit den Stei­nen um­ge­hen. Häu­ser da­mit bau­en. Auch wenn’s beim Bau töd­li­che Un­fäl­le ge­ben kann. Das Le­ben ist ei­ne Bau­stel­le. Und das es auf ei­ner Bau­stel­le heu­te an­ders aus­sieht als ges­tern und mor­gen an­ders als heu­te, das ist nor­mal. Das Bauarbeiter/innen kom­men und ge­hen, die ei­nen un­auf­fäl­lig, die an­de­ren mit gro­ßem tra­gi­schem oder ko­mi­schem Dra­ma, ist nor­mal. Ei­ne Bau­stel­le, die je­den Tag ei­ne an­de­re Nor­ma­li­tät hat, wo das Nor­ma­le fließt und nicht er­starrt ist, das ist völ­lig nor­mal. Kein Mensch stört sich dar­an, ja: wir er­war­ten das so­gar. Und selbst die Sta­tik ei­nes Hau­ses ist dem Wan­del der Zeit un­ter­wor­fen. Frei­lich hof­fen wir hier auf ei­ne lan­ge Dau­er, ei­nem lang­sa­men Fluss der Nor­ma­li­tät. Wir wol­len ja lan­ge dar­in woh­nen. Be­vor es in sich zu­sam­men­fällt. Wenn es über­haupt je fer­tig ist. Und nicht am an­de­ren En­de wie­der an­ge­fan­gen wird, wenn der ei­ne An­fang ge­ra­de fer­tig ge­wor­den ist.

Aber, Ach!, wir le­ben nach wie vor hier­ar­chisch, ru­fen nach den Architekt_innen, die uns sa­gen, wie das Haus ge­baut wer­den soll und wer­den das wohl auch wei­ter­hin tun. Weil wir das Frem­de fürch­ten, das kei­nen-Plan-ha­ben, das nicht-Wis­sen-kön­nen; so sind wir nun mal, die ei­nen mehr, die an­de­ren we­ni­ger. Doch es wird wohl
Je­dem und Je­der mul­mig, die oder der in stock­dunk­ler Nacht auf die­ser gi­gan­ti­schen Bau­stel­le steht, mit all den Gru­ben und Stol­per­mög­lich­kei­ten, den ros­ti­gen Nä­geln und wa­cke­li­gen Bau­stoff­tür­men. Und das nur mit ei­ner Fa­ckel aus­ge­stat­tet, die ei­nen klei­nen Um­kreis fahl aus­leuch­tet und ei­ner in­ne­ren Stim­me lau­schend, die da sagt: „Geh! Wei­ter!“ Sonst: Stil­le. Da wird dann ger­ne ei­ne frem­de Macht, ei­ne über-Macht, zur Che­fin der Bau­stel­le ge­macht und ihr zu­ge­schrie­ben, ei­nen Plan zu ha­ben. Frei­lich nur bis zum nächs­ten Mor­gen. Und dann wie­der mit der nächs­ten Nacht.

Das Frem­de ist doch: Das Un­be­kann­te. Das Un­be­stimm­te. Auch bis hin zum Un­be­stimm­ba­ren?

Nein. Dann stün­de ein Kon­zept ‚Gott‘ an ers­ter Stel­le. Et­was, das die Un­be­stimm­bar­keit in ein Be­stimm­tes wan­delt, wel­ches uns dann über­haupt nicht fremd ist. He­te­r­ar­chie ist kei­ne Mon­ar­chie oder An­ar­chie. Es ist ei­ne Art Ar­cheo­lo­gie. Nein, kein Schreib­feh­ler.

Und die Vi­ren? Ur­alte Din­ger, mit de­nen wir um­zu­ge­hen ha­ben. Auch wenn es uns be­frem­den mag.

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Lebe lang und erfolgreich!

Sterben in Zeiten einer Pandemie.

Viel wird da jetzt ge­gen Boris Palmer ge­wet­tert, ge­gen Wolfgang Schäuble nicht, zu­min­dest so­weit ich die Me­di­en­land­schaft ver­fol­ge. Ob­wohl bei­de im Grun­de das Glei­che sag­ten. Der ei­ne in ju­gend­li­chen, un­er­fah­re­nen Leicht­sinn, der an­de­re mit dem Ge­wicht der hö­he­ren Le­bens­er­fah­rung. Al­lein der Jah­re we­gen, doch oh­ne Schwer­mut.

„Sie müs­sen ster­ben!“ hallt es durch die Ge­sell­schaft.

Ma­chen wir uns doch mal ehr­lich, wa­gen wir es ein­mal: „Aber na­tür­lich müs­sen sie ster­ben.“

Und na­tür­lich er­schre­cken wir an­ge­sichts der ho­hen Zahl an To­ten in Ita­li­en und er­schre­cken, wenn wir uns Bil­der aus New York in Er­in­ne­rung ru­fen. „So vie­le To­te! Ei­ne schreck­li­che Pan­de­mie!“

Mit ei­nem nüch­ter­nen wie er­nüch­tern­den sta­tis­ti­schem Blick, wie wir ihn aus dem Wet­ter­be­richt z.B. ge­wohnt sind, in dem von durch­schnitt­li­chen Re­gen­men­gen und Son­nen­schein­dau­ern die Re­de ist und wie viel noch nach­zu­ho­len oder wie viel im Über­maß zum sta­tis­ti­schen Mit­tel, über Mo­na­te, Jah­re, Jahr­zehn­te, ge­fal­len ist, er­scheint die Sa­che in ei­nem an­de­ren Licht. Ist es mit dem Ster­ben viel an­ders? Kön­nen wir denn nicht er­war­ten, all un­se­rer Er­fah­rung nach, dass dem Hoch ein Tief folgt? Wei­ten wir nur un­se­ren Blick ge­nug, zie­hen ihn über ei­ne Dau­er. Wir ver­su­chen durch Ab­stand­hal­ten die Kur­ve ab­zu­fla­chen, den Berg nicht zu steil zu ma­chen, da­mit er für uns über­steig­bar bleibt. Auch für je­ne, die kei­ne Rein­hold Mess­ners sind, me­ta­pho­risch ge­spro­chen. Doch der Berg, der ver­schwin­det nicht. Der steht da. Mit­ten im Weg. Fla­cher kön­nen wir ihn ma­chen; nicht aber ab­tra­gen, zum Ver­schwin­den brin­gen. Wir kön­nen nicht so tun, als wä­re der nicht da.

Ne­ben der ho­hen Sterb­lich­keit zur ei­nen Zeit gibt es ei­ne nied­ri­ge zu ei­ner an­de­ren. Wir kön­nen ein Mit­tel er­mit­teln zwi­schen dem höchs­ten Punkt der Kur­ve und dem nied­rigs­ten und se­hen, wie sich das ober­halb und un­ter­halb aus­gleicht. Vie­le Wan­dern­de ma­chen sich so zu­nächst ein Bild über die La­ge, über die An­stren­gung, die wohl auf­zu­brin­gen sein wird, um ei­ne Stre­cke zu meis­tern. Denn sie ha­ben Kar­ten mit Hö­hen­li­ni­en. Vor­aus­ge­setzt ist frei­lich, dass sie die­se le­sen kön­nen.

Viel­leicht nicht in ei­ner Zeit­span­ne von ei­ner Wo­che, viel­leicht auch nicht in ei­nem Mo­nat oder drei­en kann das aus­glei­chen­de Mo­ment der Zeit be­ob­ach­tet wer­den. Zie­hen wir die Dau­er ei­nes Jah­res her­an, wird es schon ba­lan­cier­ter. Und je wei­ter wir den Blick wa­gen, des­to waag­rech­ter wird die Mit­tel­li­nie – per­fek­ter Aus­gleich, Gleich­ge­wicht. Es wird nicht mehr und nicht we­ni­ger ge­stor­ben. Die Mit­tel­li­nie steigt nicht und fällt nicht. Es wird ein­fach ge­stor­ben.

Mit Ge­bur­ten, bei­läu­fig, kön­nen wir das Glei­che ma­chen. Und wenn wir al­le Wan­de­run­gen un­se­res Le­bens ex­akt pro­to­kol­liert hät­ten, wür­den wir viel­leicht er­staunt fest­stel­len kön­nen, dass wir we­der hö­her noch nied­ri­ger sind als wir es am Be­ginn un­se­rer Le­bens­wan­der­schaft wa­ren.

Ei­ne ho­he Sterb­lich­keit jetzt be­deu­tet so ei­ne nied­ri­ge da­vor oder da­nach. So kann der Blick aus­ge­rich­tet wer­den. Zur Zeit, schau­en wir in die Zu­kunft, wird frü­her ge­stor­ben. Wen­den wir den Blick in die Ver­gan­gen­heit, stel­len wir wo­mög­lich fest, dass jetzt spä­ter ge­stor­ben wird. Die Sterb­lich­keit der letz­ten, mal ein­fach so ei­nen Rah­men ge­setzt, zehn Jah­re al­so recht nied­rig war, re­la­tiv zu ei­ner Mit­tel­li­nie. Und so be­trach­tet – der Mensch ist ja ger­ne, es kann schon ge­sagt wer­den, al­lein der Au­gen we­gen: na­tür­li­cher­wei­se, nach vor­ne ge­rich­tet und kann so nur das Le­ben le­ben, wel­ches er je­doch nur rück­wärts ver­ste­hen kann – wird frü­her ge­stor­ben in die­sen Zei­ten.

Doch ge­stor­ben wird im­mer. Mir scheint – wirk­lich zum Stau­nen bringt es mich je­doch nicht – die­sen Aspekt des „Ge­stor­ben wird im­mer.“ ver­drän­gen wir, wol­len ihn nicht wahr­ha­ben.

Und mich deucht, wenn ich mir die Dis­kus­si­on um das Ster­ben in SARS-CoV-2-Zei­ten so an­schaue, ein sich mir zei­gen­des Bild in der Me­di­en­land­schaft al­so stu­die­re, ein lan­ges Le­ben wird wie ei­ne Leis­tung an­ge­se­hen. „Ohhh, hun­dert Jah­re! Was für ei­ne Leis­tung! Glück­wunsch!“ Und wer frü­her stirbt, ist halt nicht nur län­ger tot, er oder sie war halt nicht so leis­tungs­fä­hig wie sie hät­ten sein kön­nen, im Ver­gleich zu an­de­ren, er­folg­rei­che­ren Vertreter:innen ih­rer Art. Sie ha­ben sich wohl zu we­nig an­ge­strengt in ih­rem Be­mü­hen ge­sund zu le­ben. Hät­ten sie mal den Ge­sund­heits­tra­cker ge­habt und mehr Sport ge­trie­ben, we­ni­ger Ni­ko­tin, Kof­fe­in, Al­ko­hol, Fett und der­glei­chen mehr kon­su­miert, dann wür­den sie heu­te noch quietsch­fi­del le­ben! Und wer im Al­ter nicht mehr so kann, na, der hat doch frü­her was falsch ge­macht! Er­folg ist schließ­lich be­re­chen­bar! Sonst wär’s ja auch nicht die er­wart­ba­re Fol­ge von ir­gend­was, bei­läu­fig an­ge­merkt.

Ein lan­ges Le­ben ist nicht das Pro­dukt ir­gend­ei­ner Leis­tung. Es ist vor al­len Din­gen: Glück. Oder Pech, wenn man sich vor Schmer­zen win­det, da­hin­siecht und schon wünscht, zu ster­ben. Weil man es sich bes­ser vor­stellt als zu lei­den. Frei­lich wird da au­ßer Acht ge­las­sen, dass nach dem Stand un­se­res all­ge­mei­nen wis­sen­schaft­li­chen Ver­ständ­nis­ses, nach dem Tod nichts mehr da ist, dass lei­den oder nicht lei­den könn­te. Doch das ist ja nun auch An­sichts­sa­che. Man­che er­fül­len sich mit der Vor­stel­lung ei­nes Pa­ra­die­ses den Wunsch nach ei­ner un­end­lich lan­gen, im­mer­wäh­ren­den, nie ver­ge­hen­den, voll­kom­men leid­lo­sen Exis­tenz. Was für ei­ne Leis­tung! Gibt’s frei­lich nur für die Bes­ten un­ter den Bes­ten! Nur die Har­ten kom­men in den Gar­ten! Nun … die Wei­chen stel­len die Wei­chen.

Mes­sen wir doch nicht die Le­bens­span­ne aus und be­wer­ten sie, wie wir die Ar­beit ei­nes Sport­lers mit Stopp­uhr und Maß­band ver­mes­sen. Ein Le­ben dau­ert so lan­ge, wie ein Le­ben dau­ert. Ge­sund le­ben­de Men­schen kön­nen früh ster­ben, un­ge­sund le­ben­de lan­ge le­ben, und um­ge­kehrt ist es ge­nau­so gut. Für Letz­te­res ist Alt­bun­des­kanz­ler und ver­gan­ge­ne ehr­wür­di­ge In­stanz als Ver­nunft der Na­ti­on Hel­mut Schmidt ein Bei­spiel; für’s Ers­te­re gibt’s ver­mut­lich auch Bei­spie­le zu­hauf, Pro­mi­nen­te wie Normalverbraucher:innen.

Wes­halb oder wo­zu das so ist, mit dem Ster­ben und dem gan­zen Rest, weiß wohl nie­mand und ich mei­ne: Das kann nie­mand wis­sen. (Au­ßer dem, der die Ab­sicht hat, ei­ne Mau­er zu er­rich­ten, frei­lich.) Muss auch kei­ner wis­sen. Das ver­gällt ei­nem am End’ nur die Le­bens­freu­de. Hin­dert dar­an, be­hin­dert uns, ein gu­tes Le­ben zu füh­ren, das Le­ben gut zu füh­ren. Und ein Le­ben, das 30 Jah­re währ­te und vol­ler Freu­de, Lust und Aben­teu­er war, ist für ei­ni­ge nun mal ei­nem 90 Jah­re wäh­ren­dem, mit Leid und Qual und Schmerz, vor­zu­zie­hen. An­de­re wie­der ma­chen ein Hel­den­tum dar­aus, die­ses Leid, das mit ei­nem ho­hen Al­ter ein­her­ge­hen kann und kei­nes­wegs muss, sto­isch zu er­tra­gen. Viel­leicht auch: gläu­big hin­zu­neh­men. Nur mal um das Ter­rain der Mög­lich­kei­ten kurz zu um­gren­zen.

Doch im Hin­ter­grund, für uns viel­leicht un­be­merkt, schwingt mög­li­cher­wei­se im­mer ein Ge­dan­ke mit, ein ech­ter Hin­ter­ge­dan­ke al­so. Un­be­merkt, doch nicht wir­kungs­los. Ein Hin­ter­ge­dan­ke in den wir, zu­min­dest ist das wohl für die Jün­ge­ren rich­tig, hin­ein­ge­bo­ren wur­den, mit dem wir auf­ge­wach­sen sind, den wir we­nig re­flek­tie­ren, weil er uns so ver­traut ist: „Was für ei­ne Leis­tung!“

Ma­chen wir uns ehr­lich: Kann das glück­lich ma­chen? Man­che, ja. Doch eben nicht al­le. Und nur weil es für man­che hin­nehm­bar ist, muss es für al­le gel­ten? Das Leis­tungs­prin­zip ist ei­ne Form der Le­bens­füh­rung, der Le­bens­ge­stal­tung, der Welt­an­schau­ung. Nicht mehr, nicht we­ni­ger. Und nur weil viel­leicht vie­le die­sem Prin­zip fol­gen, und man ins­ge­samt da­mit viel­leicht so­gar er­folg­reich ist, muss es des­halb noch lan­ge nicht rich­tig sein. Ei­ne Pan­de­mie mit ih­rem Stre­ben nach Ster­ben kann das in Sze­ne set­zen, skiz­zie­ren. Wir kön­nen uns ein Bild da­von ma­chen. Und uns dar­an er­in­nern, das wir stets im An­ge­sicht des To­des un­ser Le­ben le­ben. Er ist un­ver­meid­bar. Ein Berg, den wir nicht über­stei­gen kön­nen, auch wenn er nur als ganz fla­ches Hü­gel­chen da­her­kommt. Nie­mand wird den Gip­fel über­que­ren. Kei­ne und Kei­ner. Nie­mand kann bes­ser sein als der Tod.

Tja, wir ha­ben uns Si­sy­phos eben als glück­li­chen Men­schen vor­zu­stel­len. Denn er er­leb­te die Ver­geb­lich­keit ei­nes un­mög­li­chen Un­ter­fan­gens Stun­de um Stun­de, er­fuhr es am ei­ge­nen Leib, war be­freit von je­dem Zwei­fel dar­über. Dann kön­nen wir auch ster­ben. Fürch­ten uns nicht, na, ehr­lich: we­ni­ger da­vor, auch wenn’s nach wie vor ei­ne un­an­ge­neh­me Vor­stel­lung ist, die wir ger­ne ins hin­ters­te Käm­mer­chen un­se­res We­sens, Den­kens, Spre­chens, Han­delns, Vor­stel­lens ver­drän­gen.

Und wenn wir das schaf­fen, dem Tod ins Au­ge se­hen kön­nen, dann füh­ren wir un­ser Le­ben gut. So­fern, das sei ein­schrän­kend da­zu ge­setzt, die­ser Blick auf den Tod nicht mit ei­nem ver­ach­ten­den Hin­ter­ge­dan­ken wie »Hun­de, wollt ihr ewig le­ben?« ein­her­geht. Und wir wer­den fest­stel­len, dass es kei­ne bes­se­re oder schlech­te­re Wei­se gibt, dem Tod ins Ge­sicht zu schau­en. Denn sein oder ihr Blick auf uns ist stets der­sel­be. Völ­lig egal, ob ein Hel­mut Schmidt mit 97 oder Li­se Mül­ler mit 28 vor ihm steht. Ein gu­tes Le­ben führt und wird ge­führt ge­habt ha­ben, wer den An­blick oh­ne Lob und Ta­del er­wi­dern kann.

Das zu üben, da­für ha­ben wir ein gan­zes Le­ben lang Zeit. Und, das zeigt SARS-Co­V‑2 und Co­vid-19, auch im­mer wie­der Ge­le­gen­heit da­zu. Mal mehr, mal we­ni­ger. Im Mo­ment mehr. Doch über und un­ter dem Strich…

Nur das auch zu wa­gen, dass ha­ben wir bei­zu­tra­gen. Das ist un­ser Bei­trag zu ei­nem gu­ten Le­ben. Vom Rest ha­ben wir nur we­nig in der Hand. Auch wenn uns das ger­ne an­ders er­schei­nen mag. Weil wir Men­schen sind. Und den Tod fürch­ten. Wo­zu wir al­ler­dings nicht ver­dammt sind. Denn wir ha­ben der Furcht vor dem Tod, der Be­fürch­tung des nicht-Seins, et­was ent­ge­gen­zu­brin­gen. Nicht als Wi­der­stand, son­dern als ei­gen­tüm­lich zwang­los zwin­gend bes­se­res
Ar­gu­ment: Le­bens­mut.

Und so kann der Ti­tel die­ses Bei­tra­ges dann ver­kürzt wer­den: Le­be und wach­se.

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Maskierte Pflicht?

Die Versuchung der Unerkennbarkeit.

Wenn ich in die­sen Ta­gen so manch­mal durch die Stadt lau­fe – frei­lich nur aus und mit trif­ti­gem Grund – fal­len mir Men­schen mit Mas­ken auf. So weit, so we­nig über­ra­schend. Ge­nau­so fal­len mir je­ne Mitläufer:innen oh­ne auf. Und so­weit ich das bis­her be­ob­ach­ten konn­te, über­wie­gen die nicht-mas­kier­ten.

Das for­dert mich zum Nach­den­ken über’s Mas­ken­tra­gen auf. Als ers­tes fiel mir der Kar­ne­val ein, ei­ne Zeit, in der sich hin­ter Mas­ken ver­steckt wird, um dem Ei­nen oder der An­dern „da oben“ mal so rich­tig die Mei­nung gei­gen zu kön­nen, oder um sich ein­fach mal als je­mand an­de­rer zu füh­len. Frei­lich ist das nicht das An­lie­gen der der­zei­ti­gen Mas­ke­ra­de. Doch der Aspekt des Ver­ste­ckens gibt mir doch zu den­ken.

Ein­mal im Netz re­cher­chiert, fand ich ei­ne kur­ze Stel­lung­nah­me¹ der „Ös­ter­rei­chi­schen Ge­sell­schaft für In­fek­ti­ons­krank­hei­ten und Tro­pen­me­di­zin (ÖGIT)“ – wohl an­er­kannt kom­pe­tent für die Si­tua­ti­on – zu dem wis­sen­schaft­li­chen Stand in Sa­chen Mund-Na­sen-Schutz. Dem­nach hal­ten die­se MNS-Mas­ken 94% von In­flu­en­za­vi­ren zu­rück, N95-Atem­schutz­mas­ken 99%, »je­doch bei in­kor­rek­ter Nut­zung (nicht fest­sit­zend, son­dern lo­cker) bei­de we­ni­ger als 70%«. Stoff­mas­ken, so ist zu le­sen, stel­len kei­nen Er­satz von MNS-Mas­ken dar, auch nicht in nicht-Pan­de­mie­zei­ten. Den­noch kön­nen sie al­ter­na­tiv ver­wen­det wer­den und fan­gen 71% al­ler Par­ti­kel ab, »je­ne der Grö­ße 0.65 – 1.1 µm 79%,« (Co­ro­na­vi­ren, sagt die Wi­ki­pe­dia², ha­ben ei­ne Grö­ße von 0.06 bis 0.14 µm), »MNS-Mas­ken im Ver­gleich da­zu 86% re­spek­ti­ve 85%.« Und wei­ter: »Stoff­mas­ken kön­nen 60% vi­rus­gro­ßer Par­ti­kel fil­tern, chir­ur­gi­sche Mas­ken 78.6% und FF­P2-Mas­ken 98.9%«.

Es gibt ja so man­che Leu­te, die sa­gen, in die­sen Zei­ten oh­ne Mas­ke durch die Ge­gend zu lau­fen sei, nun ja, be­denk­lich. Die Re­gie­rung empfiehlt’s ja schließ­lich auch, drin­gend, wie wohl ver­laut­bart wur­de.

Nun, ei­ne Wir­kung des Tra­gens ei­ner Mas­ke um sich und an­de­re, he­ro­isch for­mu­liert: an­de­re und sich, zu schüt­zen, kann wohl nicht von der Hand ge­wie­sen wer­den, sie tra­gen da schon das Ih­ri­ge bei. Doch be­vor die Pflicht da­zu auf­kommt statt der ei­gen­ver­ant­wort­li­chen Nut­zung durch die Bürger:innen, will doch auch ein­dring­lich dar­an er­in­nert sein, das Mensch Mensch ist und sich so al­ler­lei zu­sam­men­rei­men kann. Letzt­lich ist das Tra­gen von Mas­ken zwar ein Schutz, je nach Qua­li­tät un­ter­schied­lich, doch ei­ne Ge­währ für ir­gend­et­was sind sie nicht. Und so­weit mei­ne Be­ob­ach­tun­gen in der Stadt rei­chen – die kei­nes­falls wis­sen­schaft­li­chen Stan­dards ge­nü­gen kön­nen oder wol­len – zeigt sich mir da schon das Ver­steck­spiel: „Wenn Du mich nicht er­kennst, er­ken­ne ich Dich auch nicht, und Du lässt mich in Ru­he.“ spin­ne ich ein Ge­spräch zwi­schen einer/m Maskenträger:in und einer/m Vertreter:in des krass gras­sie­ren­den Vi­rus zu­sam­men. „Wann’d mäns­cht…“ hö­re ich Herrn oder Frau Vi­rus ant­wor­ten, mit so ei­nem et­was sar­kas­tisch lä­cheln­dem Zug um die Lip­pen. (Wie man sich als Mensch halt Vi­ren so vor­stellt.)

Ich möch­te es so hal­ten: Je nä­her ich Men­schen im öf­fent­li­chen Raum kom­me, des­to bes­ser soll­te ich ge­schützt sein, auch um an­de­re zu schüt­zen. Doch das Si­chers­te ist es doch wohl, Ab­stand zu wah­ren. Denn das Vi­rus über­trägt sich nun ein­mal am bes­ten bei kör­per­li­cher Nä­he, Schutz­mas­ke hin oder her, in wel­cher Qua­li­tät auch im­mer. Auch die best­ge­schütz­tes­ten Me­di­zin- und Pflegearbeiter:innen sind letzt­lich nicht vor ei­ner Über­tra­gung ge­feit und das nied­ri­ge­re Ri­si­ko durch qua­li­ta­tiv hoch­wer­ti­ge Schutz­aus­rüs­tung wird doch durch die für die zu er­fül­len­den Auf­ga­ben er­for­der­li­che kör­per­li­che Nä­he wie­der sehr re­la­ti­viert, den­ke ich mir.

Mit ei­ner Mas­ken­pflicht be­steht doch wohl die Ver­su­chung, geht der Ge­dan­ke wei­ter, dass das Ab­stands­ge­bot nicht mehr so sehr be­ach­tet wird. Mit­hin das auf­ein­an­der Ach­ten – zu dem wir jetzt na­tür­li­cher­wei­se ver­an­lasst sind und es so viel­leicht über­haupt erst ein­mal als ein be­greif­ba­res, an­schau­li­ches Et­was im Be­wusst­sein auf­taucht – dar­un­ter lei­det. Mensch zieht sich hin­ter sei­ne und ih­re Mas­ke zu­rück, ver­steckt sich gleich­sam, und geht un­ge­rührt der An­we­sen­heit an­de­rer ru­hig und in der trü­ge­ri­schen Ge­wiss­heit von Si­cher­heit sei­nen und ih­ren Ge­schäf­ten nach.

Doch die Pflicht wird wohl kom­men, und sei es nur als po­li­ti­sches Sym­bol der Hand­lungs­fä­hig­keit und Ent­schlos­sen­heit oder auch, mit­hin, des Si­cher­heit schen­kens. Vor al­len Din­gen der Wirt­schaft we­gen, gleich­wohl nicht nur, auch des So­zia­len we­gen. Mit ei­ner sol­chen Pflicht füh­le ich mich al­ler­dings, welch schö­nes Bild: be­vor­mun­det. Ich hal­te Ab­stand und wenn vor der Kä­se­the­ke all­zu viel los ist und die Mas­kier­ten, sich in Si­cher­heit wie­gend, re­la­tiv dicht ge­drängt ste­hen, las­se und ge­be ich mir die Zeit und war­te, bis die Rei­hen sich ge­lich­tet ha­ben und ich der re­spekt- und ver­ant­wor­tungs­vol­len Ab­stands­wah­rung halb­wegs si­cher sein kann.

Ich hal­te ei­ne sol­che ab­stand­neh­men­de Freund­lich­keit für weit­aus hilf­rei­cher als die nä­he­ge­ben­de Freund­lich­keit, die so man­cher und man­chem das Tra­gen ei­ner Mas­ke ver­mit­teln mag. Und ich be­daue­re schon jetzt, wenn in nach-Pan­de­mie­zei­ten (was mar­kiert ei­gent­lich das En­de?) die Men­schen wie­der hin­ter ih­re un­sicht­ba­ren Mas­ken, die Per­so­nen, die sie sein wol­len, zu­rück­fal­len und das mehr oder we­ni­ger rück­sichts­lo­se und ich-zen­trier­te Trei­ben wie vor Co­ro­na-Zei­ten wie­der an Fahrt auf­nimmt. Wenn wie­der al­les nor­mal ist, halt.

Viel­leicht ir­re ich mich ja, soll ja auch mensch­lich sein, und die Nor­ma­li­tät, die ich kann­te, wird nicht mehr sein. Und das Wort „Acht­sam­keit“ be­kommt auch hier­zu­lan­de all­ge­mein je­ne Be­deu­tung, wie sie in ost­asia­ti­schen Krei­sen un­ter ei­ni­gen, sehr freund­li­chen und rück­sichts­vol­len Men­schen, wohl ge­bräuch­lich ist, mei­nem Ver­ständ­nis nach. Das wä­re für mich die schö­ne­re kul­tu­rel­le Ähn­lich­keit mit Ost­asi­en als das Tra­gen von Mas­ken.

Nun, mal se­hen. Mensch soll ja zu al­ler­hand fä­hig sein, auch über Kul­tu­ren hin­weg.

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Ein Haus braucht ein Fundament

Was kann bleiben nach Corona?

Ich bin auf dem Bo­den mei­ner Über­zeu­gun­gen an­ge­langt.
Und von die­ser Grund­mau­er könn­te man bei­na­he sa­gen,
sie wer­de vom gan­zen Haus ge­tra­gen.

Lud­wig Witt­gen­stein

Es sind be­weg­te und für man­che be­stimmt auch be­we­gen­de Zei­ten. Ich zäh­le mich da durch­aus zu den Letz­te­ren mit da­zu, aus rein in­di­vi­du­el­len und letzt­lich per­sön­li­chen Grün­den. Ich zie­he für mich ein zu­frie­den­stel­len­des Fa­zit: So­weit ich das zu die­sem Zeit­punkt über­bli­cken kann, hat mir die Aus­nah­me­si­tua­ti­on, in der sich Land­au – mein Wohn­ort in der Pfalz – und der Rest der Welt be­fin­det, durch­aus et­was ge­bracht. Ahh, das ist jetzt zu ge­wagt und ei­tel. Um­ge­kehrt: Die Welt und da­mit auch Land­au.

Und so liegt ei­ne Fol­ge­rung na­he, die be­stimmt der Ei­ne oder die An­de­re auch als Ge­dan­ken in sich vor­ge­fun­den hat: Dass

ganz si­cher nichts mehr so sein wird, wie es vor­her war

Nun, ich selbst bin sol­chen Welt­ver­än­de­rungs­em­pha­sen – still­schwei­gend ist ja be­reits vor­aus­ge­setzt, dass es bes­ser wird – über­haupt gar nicht ab­ge­neigt. Ich bin mir je­doch ehr­lich ge­sagt nicht so ganz si­cher, ob es im Da­nach die­ses Mo­men­tes wirk­lich an­ders sein wird. Ich kann mir mit glei­cher Ein­dring­lich­keit vor­stel­len, dass wir ganz rasch wie­der in un­se­re al­ten, ge­wohn­ten Mus­ter fal­len und al­les so wei­ter­geht, wie es vor­her war. Der ‚Im­pact‘, der Im­puls des Mo­ments sich al­so ver­flüch­tigt, oh­ne nach­hal­ti­ge Wir­kung. Viel­leicht bleibt bei ei­ni­gen We­ni­gen ein an­de­res Be­wusst­sein. Doch bis ein sol­ches Be­wusst­sein sich in der Ge­sell­schaft aus­ge­rollt hat, wer­den wohl Jahr­zehn­te, viel­leicht gar Jahr­hun­der­te, ver­ge­hen. Und bis da­hin ist das Po­ten­ti­al, das sich uns da der­zeit of­fen­bart, wahr­schein­lich schon wie­der ver­ges­sen. Die Eu­pho­rie war beim En­de der deut­schen Tei­lung auch enorm. Doch, ich bin auf­rich­tig: Wo sind sie denn, die blü­hen­den Land­schaf­ten? Nach drei­ßig Jah­ren ist in vie­len Köp­fen doch im­mer noch „Ost“ und „West“, mit mehr oder we­ni­ger ein­deu­ti­gen Kon­no­ta­tio­nen.

Der Mensch ist ein Ge­wohn­heits­tier und vom Ge­wohn­ten nur schwer ab­zu­brin­gen. Ja, man könn­te da et­was Evo­lu­tio­nä­res da­hin­ter ver­mu­ten, ei­ne „Macht der Ge­wohn­heit“, eben — auch dort wird es ei­ne hel­le und ei­ne dunk­le Sei­te ge­ben. Der Sei­ten­blick ins »Star Wars«-Universum sei hier er­laubt.

Will sich nun, ich wen­de mich mal der hel­len, lich­ten Sei­te zu, nach­hal­tig et­was än­dern, al­so neue Ge­wohn­hei­ten ent­ste­hen, wird das, so den­ke ich, viel mit der Fä­hig­keit zur Of­fen­heit, mit der Fä­hig­keit zum nicht-Wis­sen-kön­nen, mit der Be­reit­schaft zur Un­schär­fe und Un­be­stimm­bar­keit zu tun ha­ben (müs­sen?). Erst wenn Mensch mu­ti­ger ge­wor­den ist und sich „blank“, al­so (ganz?) oh­ne tech­ni­sche Hin­ter­tür­chen, (wie­der?) auf das Un­be­stimm­ba­re ein­las­sen kann, den Mut zum Selbst­ver­trau­en (wie­der?) wagt, könn­te sich ei­ne Ver­än­de­rung ein­stel­len, ein an­de­res Be­wusst­sein in der Ge­sell­schaft aus­rol­len — und nicht nur von ei­ni­gen We­ni­gen wir­kungs­los ge­pflegt wer­den; eher so im Sin­ne der Kon­ser­vie­rung für die nächs­te Ge­le­gen­heit, bei der es dann be­stimmt end­lich klappt mit der längst über­fäl­li­gen Re­vo­lu­ti­on.

Ei­nen Wan­del in der Ge­sell­schaft – und wel­cher ver­nünf­ti­ge Mensch will ihn nicht, an­ge­sichts des Wan­dels des Kli­mas – wird, fol­ge ich mei­nem Ge­dan­ken wei­ter, wohl erst ein­tre­ten kön­nen, wenn „Si­cher­heit“ nicht mehr „von au­ßen zu­ge­kauft“ wird, z.B. durch tech­ni­schen Fort­schritt, oder „von in­nen kon­stru­iert“ wird, z.B. durch ver­schärf­te Über­wa­chung. Und wohl erst recht nicht durch ei­ne Kom­bi­na­ti­on von bei­dem.

Son­dern in ei­nem wei­ten Sin­ne aus ei­nem Selbst­ver­trau­en ent­steht, wel­ches sich aus der ak­tu­el­len be­son­de­ren Si­tua­ti­on ge­ne­riert und viel­leicht aus je­der au­ßer­ge­wöhn­li­chen Si­tua­ti­on ge­bo­ren wer­den soll­te, ge­bo­ren wer­den kann. Was dann wohl ei­ner Re­ge­ne­ra­ti­on gleich­kä­me. Ei­ner Re­ge­ne­ra­ti­on von Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten, Ge­wohn­hei­ten. Und frei­lich meint das Wort „Re­ge­ne­ra­ti­on“ nicht ei­ne Wie­der­her­stel­lung des Alt­her­ge­brach­ten. Es will eher ver­stan­den wer­den als Ge­ne­ra­tor für ein No­vum. Das „Re“ will sich al­so auf das aus „Re­no­vie­rung“, der Er­neue­rung, be­zie­hen. Das „Re­ge­ne­ra­ti­on“ hat sich in den Ge­dan­ken ein­ge­schli­chen, den ich hier aus­rol­len las­se, weil es so gut zum Wort „Ge­ne­ra­tor“ passt. Und der Aus­nah­me­zu­stand, den wir er­le­ben, neh­me zu­min­dest ich auch als Ge­ne­ra­tor wahr.

Ja, die­se Si­tua­ti­on er­zeugt in mir ein an­de­res Den­ken, ein an­de­res Welt­ver­ständ­nis, ein an­de­res Selbst­ver­ständ­nis. Es ist un­ge­wohnt. Ich er­le­be mich an­ders. Doch ich übe mich in Of­fen­heit. Und be­mer­ke da­bei ein Wie­der­erwa­chen von et­was, das ich erst jetzt be­mer­ke, dass es mir ab­han­den ge­kom­men war, ob­gleich ich fest dar­an glaub­te, über es zu ver­fü­gen: Ver­trau­en.

Was ich für Ver­trau­en hielt und wor­an ich ge­wöhnt war, war Si­cher­heit. In ge­wis­sem Sin­ne: nicht-Ver­trau­en. Und ich mer­ke, dass ich mich dar­an, an die ei­gent­li­che Ant­wort auf Un­si­cher­heit, erst wie­der ge­wöh­nen muss.

Muss? Nicht wirk­lich. Kann. Ja, das ist es. Ich kann. So­wohl vom Ver­mö­gen her als auch von der Mög­lich­keit aus. Ob es die Ge­sell­schaft als gan­zes, die Land­au­er, die Rhein­land-Pfäl­zi­sche, die Deut­sche, die Eu­ro­päi­sche, die Welt­ge­sell­schaft kann, weiß ich nicht. Doch da ist es eben, ich kann es nicht über­se­hen: Ver­trau­en. Aus dem ein Zu­trau­en er­wächst. Ja, ich traue es den Men­schen, ich wa­ge mal ein gro­ßes Wort: der Mensch­heit, zu, dass sie es wa­gen, sich vom Kopf auf die Fü­ße zu stel­len und da­bei et­was noch nie Da­ge­we­se­nes ge­bo­ren wird.

Ob es et­was nüt­zen wird, die­ses Zu­trau­en? Wer wagt, ge­winnt, heißt es ja so schön. Wä­re dann mal ein ganz an­de­res Ka­pi­tal, das sich da auf­bau­en kann. Und die­ser Auf­bau könn­te wo­mög­lich schon in ein, zwei Jah­ren be­gin­nen und für Jede/n deut­lich spür­bar wer­den.

Oder ist uns da ein Ka­pi­tal doch nur schlicht in Ver­ges­sen­heit ge­ra­ten? Dann passt die Re­ge­ne­ra­ti­on frei­lich doch.

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