Zeitgeist

Wie entstehen Vergangenheit und Zukunft? Was ist Gegenwart?

Wir1⇣Das „Wir“ wird in die­ser Be­trach­tung sti­lis­tisch ver­wen­det und meint „Wir Men­schen“. Frei­lich ist da­mit kei­ner­lei nor­ma­ti­ver An­spruch für … Wei­ter­le­sen… al­le wer­den das wohl ken­nen: Un­se­re Er­in­ne­rung be­ginnt nicht am Tag un­se­rer Zeu­gung, son­dern erst sehr viel spä­ter. Wo sind wir wäh­rend die­ser Zeit? Gab es uns über­haupt?

Wer sich ein­mal den Mo­ment der ers­ten Er­in­ne­rung ver­ge­gen­wär­tigt, soll­te fest­stel­len kön­nen, dass erst ab die­sem Zeit­punkt das ver­füg­bar ist, was im All­ge­mei­nen mit „Ich“ be­zeich­net wird. Da­vor exis­tiert die­ses Ich of­fen­bar nicht — oder wir er­in­nern uns dar­an ein­fach nicht. Doch: gibt es für uns das, wor­an wir uns nicht er­in­nern — kön­nen?

Es kann doch wohl ver­mu­tet wer­den, dass die ers­te Er­in­ne­rung mit ei­nem „Ge­wahr wer­den“ be­schrie­ben wer­den kann. Wir wer­den un­se­rer Um­welt ge­wahr, zum ers­ten Mal. Und mit die­sem Akt wer­den wir auch das ers­te Mal un­se­res Selbst, ei­nes Selbst über­haupt, ge­wahr: Wir er­le­ben uns in ei­ner Um-Welt. Von nun an ha­ben wir uns be­grif­fen und kön­nen die­ses Selbst­be­wusst­sein ir­gend­wann auch mit ei­nem Zei­chen, ei­nem Eti­kett, ver­se­hen: „Ich“.

Und erst ab der ers­ten Ver­ge­gen­wär­ti­gung – mag sie schon ein Eti­kett ha­ben oder nicht, viel­leicht aber auch erst mit der Eti­ket­tie­rung, die­sem al­ler­ers­ten sprach­li­chen Akt – kann so et­was wie Ver­gan­gen­heit ent­ste­hen. Als Span­ne, Dau­er, zwi­schen der ers­ten Er­in­ne­rung und dem ak­tu­el­len Ge­wahr­sein. Und die­ses Ge­wahr­sein sei­ner Selbst, die­ses Selbst­be­wusst­sein, kann nun ge­dacht wer­den als fort­schrei­ten­de ers­te Er­in­ne­rung. Im­mer wie­der auf’s Neue ver­ge­gen­wär­ti­gen wir uns. Wir wan­deln von Jetzt zu Jetzt, Ver­gan­gen­heit schrei­bend.

Die­ses Wan­deln kann mit dem Verb „we­sen“ ver­stan­den wer­den. Der Du­den gibt als Be­deu­tung »[als le­ben­de Kraft] vor­han­den sein« an. Und das Po­ten­ti­al, aus dem Kraft Le­ben­dig­keit, al­so: Wirk­sam­keit, schöp­fen kann, kann als En­er­gie be­nannt wer­den. Phy­si­ka­lisch auf­ge­fasst ist En­er­gie »Fä­hig­keit ei­nes Stof­fes, Kör­pers oder Sys­tems, Ar­beit zu ver­rich­ten«, wie es im Du­den zu le­sen ist. All­ge­mei­ner for­mu­liert: En­er­gie ist die Fä­hig­keit, zu wir­ken, Kraft die Verwirkli­chung die­ser Fä­hig­keit, die mit Ar­beit2⇣Was viel­leicht in An­füh­rung zu set­zen wä­re. ver­bun­den ist.

Wel­che Kraft be­wirkt nun Ver­gan­gen­heit? Nun, in die­ser Be­trach­tung ist es die Kraft der Ver­ge­gen­wär­ti­gung, die ar­bei­tet. Wo­mit auch ge­sagt wer­den kann: Ver­gan­gen­heit ist ei­ne Schöp­fung. Wir schrei­ben Ver­gan­gen­heit. Und die­ses Schrei­ben ge­schieht, wäh­rend das, was wir Ge­gen­wart nen­nen, statt hat, Stät­te hat: west3⇣Die Ety­mo­lo­gie gibt für das Verb „we­sen“ auch „woh­nen“ als Ur­sprung an: »mhd. mnd. we­sen ‘das Sein, Ver­wei­len, Woh­nen, Aufenthalt(sort), … Wei­ter­le­sen….

Wo­mit Ge­gen­wart nicht als Punkt auf­scheint, son­dern ei­ne Dau­er hat. Wä­re Ge­gen­wart, „Jetzt“, ein Punkt, müss­te die­ser, re­so­lut ge­dacht, die Dau­er „0“ ha­ben, um selbst nicht wie­der an­tei­lig aus Ver­gan­gen­heit zu be­stehen. Doch was ei­ne Dau­er von „0“ hat, hat kei­ne Aus­deh­nung, und was kei­ne Aus­deh­nung hat, exis­tiert nicht, zu­min­dest für un­se­re Sin­ne nicht. Le­ben wir oh­ne Ge­gen­wart?

Das kann durch­aus so an­ge­schaut wer­den, wes­halb nicht? Uns braucht das in kei­ner­lei Nö­te zu brin­gen, denn was wir mit Ge­gen­wart mei­nen, ist letzt­lich der Akt der Ver­ge­gen­wär­ti­gung. Was sagt: Schon das, was wir Ge­gen­wart nen­nen, ist ei­ne Schöp­fung un­se­res Be­wusst­seins, un­se­res be­wuss­ten Seins. Es mar­kiert den Punkt, bis zu dem hin Ver­gan­gen­heit reicht und ab dem Zu­kunft be­ginnt4⇣Im Üb­ri­gen: Hät­ten wir oh­ne den End­punkt Tod, der of­fen­bar für al­le Men­schen exis­tiert, ei­ne Zu­kunft?. Ge­gen­wart ist das Zwi­schen, der Über­gang von Ver­gan­gen­heit und Zu­kunft. Die Gren­ze, An­gren­zung. Bei­des ent­steht al­so erst mit dem Akt der Ver­ge­gen­wär­ti­gung, der Schaf­fung ei­ner Ge­gen­wart. Oh­ne die­se Gren­ze hät­ten wir wo­mög­lich kei­ner­lei Be­wusst­sein un­se­rer Selbst, wir ver­flös­sen ge­stalt­los im Strom des­sen, was wir Zeit nen­nen5⇣So viel­leicht wenn wir schla­fen, träu­mend oder nicht. Im Schlaf gibt es für uns kei­ne Zeit, kei­ne Ver­gan­gen­heit, kei­ne Zu­kunft, kei­ne Dau­er. Kei­ne … Wei­ter­le­sen….

Und die ers­te Er­in­ne­rung ist nun, für uns, von un­se­rem In­ne­ren her be­trach­tet, „das ers­te Mal“. Ob­jek­ti­ver an­ge­se­hen, ist es viel­leicht nicht der ers­te Akt, son­dern die ers­te Er­in­ne­rung an die­sen im­mer wie­der­keh­ren­den Akt. Das mag durch­aus stim­men, doch was be­stimmt un­se­re Ge­stal­tung der Ge­gen­wart? Nicht, dass sich die Er­de um sich selbst dreht. Son­dern dass die Son­ne auf­geht, au­gen­schein­lich, be­stimmt un­se­re all­täg­li­che Ge­gen­wart, aus der wir un­se­re Ver­gan­gen­heit schmie­den. Auch As­tro­no­men (w/d/m) wer­den wohl vom Son­nen­auf- und ‑un­ter­gang spre­chen, in ih­rer Le­bens­wirk­lich­keit ste­hend — ob­wohl sie wis­sen, das die­se Be­schrei­bung letzt­lich nicht kor­rekt ist. Doch sie ver­ge­gen­wär­ti­gen, was sie se­hen, wie vie­le an­de­re auch. Das macht die Welt in kei­ner Wei­se „falsch“ — oder „rich­tig“.

Es kann ge­sagt wer­den: Un­se­re Ver­gan­gen­heit be­stimmt un­se­re Ge­gen­wart. Was wir er­lebt ha­ben, be­stimmt, was wir er­le­ben. Un­se­re Prä­gun­gen be­stim­men un­ser We­sen. Was, wenn das so nicht ganz kor­rekt wä­re, wie die Re­de vom Son­nen­auf­gang, von be­stimm­ter Per­spek­ti­ve aus in den Blick ge­nom­men, nicht ganz kor­rekt ist?

Was, wenn die Art und Wei­se un­se­rer Ver­ge­gen­wär­ti­gung be­stimmt, was wir über die Ver­gan­gen­heit den­ken? Was, wenn es ge­nau um­ge­kehrt wä­re: Was wir ge­ra­de er­le­ben, be­stimmt, was wir er­lebt ha­ben? Nun, hier wird zu Recht pro­tes­tiert wer­den: das Was ist Fak­tum und lässt sich nicht än­dern! Ge­nehm! Doch wie der Son­nen­auf­gang un­ser all­täg­li­ches Le­ben be­stimmt und nicht die Erd­dre­hung, be­stimmt nicht was wir er­lebt ha­ben un­se­ren All­tag, son­dern wie wir et­was er­lebt ha­ben. Und auf die­ses Wie kön­nen wir im Akt der Ver­ge­gen­wär­ti­gung Ein­fluss neh­men: Mensch kann, prin­zi­pi­ell – Be­ein­träch­ti­gun­gen sei­en au­ßen vor ge­las­sen – die Art und Wei­se der Ver­ge­gen­wär­ti­gung selbst be­stim­men. Er ist frei dar­in — so frei, dass er sich als Kaiser/in von Deutsch­land wäh­nen kann, so er oder sie das möch­te oder ir­gend­wel­che Un­päss­lich­kei­ten ei­nen sol­chen Wahn er­zeu­gen.

Mit der Zu­kunft sieht es nicht viel an­ders aus. Al­ler­dings: es gibt noch kein Was. Kei­ne Fak­ten, nur Mög­lich­kei­ten. Dass mor­gen die Son­ne auf­geht oder die Er­de sich al­so wei­ter ge­dreht hat, ist ei­ne höchst­wahr­schein­li­che, wir sa­gen all­täg­lich: si­che­re, Mög­lich­keit. Wir sind uns ge­wiss, dass mor­gen die Son­ne wie­der auf­ge­hen wird, die Er­de in der Nacht nicht auf­hö­ren wird, sich zu dre­hen. Sonst könn­ten wir für Über­mor­gen gar kei­ne Ter­mi­ne ma­chen.

Und doch hat das Wie der Ver­ge­gen­wär­ti­gung von heu­te, des Jetzt, er­heb­li­chen Ein­fluss auf das Wie von mor­gen und über­mor­gen. Gleich­wohl hat die­ses ver­ge­gen­wär­tig­te Wie nur ei­ne kur­ze Le­bens­dau­er: Es gilt nur für den Mo­ment, viel­mehr: ist ein Mo­ment, ein Im­puls, schon kommt die nächs­te Ver­ge­gen­wär­ti­gung: das Te­le­fon klin­gelt, es klopft an der Tür, ein Ge­dan­ke blitzt auf. Wie kann sich da ein Wie ei­ner Ver­ge­gen­wär­ti­gung über vie­le die­ser Wi­der­fahr­nis­se über 24 Stun­den oder Jah­re hal­ten kön­nen und das Wie des nächs­ten Son­nen­auf­gangs mit be­stim­men kön­nen?

Das Ich die­ser Be­trach­tung ist kein sich stets wan­deln­des, sta­bi­les Et­was wie ein Baum, ein Berg oder ein Fluss, das über 80 Jah­re, mehr oder we­ni­ger, be­stehen wür­de. Das Ich die­ser Be­trach­tung ent­steht mit je­der Ver­ge­gen­wär­ti­gung neu — und erbt das Ei­ne oder An­de­re vom ge­ra­de ver­gan­ge­nen Ich. Das Ich die­ser Be­trach­tung ist Ver­ge­gen­wär­ti­gung. Im­mer wie­der auf’s Neue. Das Ich von eben, die Ver­ge­gen­wär­ti­gung von eben, ist schon ver­gan­gen. Es exis­tiert nur noch als Spur in der ei­ge­nen Er­in­ne­rung, fak­tisch und al­so: wirk­mäch­tig ist es nicht mehr. Es hat sei­ne Kraft auf­ge­braucht, um ein neu­es Ich zu ge­bä­ren, poe­tisch ins Bild ge­setzt. Und die­ses ak­tu­el­le Ich ist, das wirkt, das Kraft hat, das En­er­gie6⇣Un­ge­klärt muss hier blei­ben, wo die­se En­er­gie über­haupt her­kommt. Ers­te Ver­mu­tung: Der Kör­per ist ei­ne Art Ver­bren­nungs­mo­tor. Al­so ein … Wei­ter­le­sen… mit­tels ar­bei­ten­der Kraft in ei­ne Ge­stalt in der Welt wan­delt. In ei­ne Per­son.

Und wie das nun bei Erb­schaf­ten so ist: Wir kön­nen sie aus­schla­gen. Je­der­zeit. Die ak­tu­el­le Ver­ge­gen­wär­ti­gung kann und darf das Er­be, über un­zäh­li­ge Ich-Mo­men­te über­tra­gen, aus­schla­gen. So ver­än­dern wir un­se­re Ge­gen­wart, so ver­än­dern wir un­se­re Zu­kunft — und so ver­än­dern wir un­ser Ver­ständ­nis der Ver­gan­gen­heit, was wie­der­um die Ver­ge­gen­wär­ti­gung be­ein­flusst: Wir schrei­ben un­se­re Ver­gan­gen­heit nicht fak­tisch, doch for­mal, im Wie des Er­leb­ten al­so, um. Denn selbst Ver­gan­ge­nes kön­nen wir neu Ver­ge­gen­wär­ti­gen, wir kön­nen ei­ne ver­gan­ge­ne Ge­gen­wart wie­der er­le­ben und da­bei ein Er­be aus­schla­gen. Ein Trau­ma der Kind­heit wird so auf­ge­ar­bei­tet, wir üben so Nach­sicht mit der Kol­le­gin, dem Kol­le­gen, der uns schräg kam, etc. pp. Wie­der an­de­re Erb­schaf­ten be­wah­ren wir, sei es aus ei­ner wie auch im­mer be­grün­de­ten Pflicht oder der pu­ren Lust her­aus. Schließ­lich kann je­des Ich-Mo­ment im Voll­zug sei­nes Seins Neu­es, sei es aus frei­er Wahl, sei es als Wi­der­fahr­nis, hin­zu­ge­win­nen. Al­les Ak­te, die un­se­re zu­künf­ti­gen Ver­ge­gen­wär­ti­gun­gen be­ein­flus­sen wer­den: Wir ge­stal­ten un­ser Le­ben, un­ser:
We­sen. Un­se­re Per­sön­lich­keit.

Nicht ab der ers­ten Er­in­ne­rung7⇣Wo­mit auch ge­sagt ist: auf das Da­vor ha­ben wir kei­nen Ein­fluss. Das macht die gro­ße Ver­ant­wor­tung der El­tern­schaft in den ers­ten Le­bens­mo­na­ten … Wei­ter­le­sen…, doch ob frü­her oder spä­ter, kön­nen wir so auf un­ser Le­ben schau­en und un­ser We­sen bau­en. Und je­der­zeit um­bau­en. Prin­zi­pi­ell.

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Re­fe­ren­ces
1 Das „Wir“ wird in die­ser Be­trach­tung sti­lis­tisch ver­wen­det und meint „Wir Men­schen“. Frei­lich ist da­mit kei­ner­lei nor­ma­ti­ver An­spruch für ein­zel­ne In­di­vi­du­en ver­bun­den. Auch wird kei­ne Wahr­heit ver­kün­det, son­dern ei­ne mög­li­che Wirk­lich­keit dar­ge­legt.
2 Was viel­leicht in An­füh­rung zu set­zen wä­re.
3 Die Ety­mo­lo­gie gibt für das Verb „we­sen“ auch „woh­nen“ als Ur­sprung an: »mhd. mnd. we­sen ‘das Sein, Ver­wei­len, Woh­nen, Aufenthalt(sort), Woh­nung, Haus­we­sen, Exis­tenz, We­sen­heit, Le­ben, Art, Ei­gen­schaft, Zu­stand, Ding, Sa­che’« https://www.dwds.de/wb/Wesen#etymwb‑1.
4 Im Üb­ri­gen: Hät­ten wir oh­ne den End­punkt Tod, der of­fen­bar für al­le Men­schen exis­tiert, ei­ne Zu­kunft?
5 So viel­leicht wenn wir schla­fen, träu­mend oder nicht. Im Schlaf gibt es für uns kei­ne Zeit, kei­ne Ver­gan­gen­heit, kei­ne Zu­kunft, kei­ne Dau­er. Kei­ne Ge­gen­wart. Wird sind Un­ver­ge­gen­wär­tigt.
6 Un­ge­klärt muss hier blei­ben, wo die­se En­er­gie über­haupt her­kommt. Ers­te Ver­mu­tung: Der Kör­per ist ei­ne Art Ver­bren­nungs­mo­tor. Al­so ein En­er­gie­wand­ler.
7 Wo­mit auch ge­sagt ist: auf das Da­vor ha­ben wir kei­nen Ein­fluss. Das macht die gro­ße Ver­ant­wor­tung der El­tern­schaft in den ers­ten Le­bens­mo­na­ten über­deut­lich: Sie er­schaf­fen Ver­gan­gen­heit, Erb­schaft, an Stel­le des Kin­des.