Sollen sie doch Heuschrecken essen!

Gedankenfragmente zum Beitrag »Wir werden eben Nüsse suchen oder sowas« von Charlotte Szász in der FAZ v. 2·XI·22, einem kurzen Bericht zur vom „Zentrum für postkantische Philosophie“ der Universität Potsdam veranstalteten Tagung „Politik der Natur“ in Berlin.

Ers­ter Ab­satz, »Wir be­fin­den uns[…]« Ja, was denn nun? Be­herr­schen wir die Na­tur oder zwingt sie uns? Und wenn wir sie »qua­si beherrsch[.]en«, wie kommt die Na­tur da­zu ei­ne ei­ge­ne Dy­na­mik an den Tag zu le­gen und die »Prä­mis­se [ih­rer] Vor­her­seh­bar­keit« zu un­ter­mi­nie­ren? Frech­heit! Und dann legt sie auch noch die­se »ei­ge­ne Dy­na­mik an den Tag, für die der Mensch ver­ant­wort­lich ge­macht wird« Mit Ver­laub: Hä?

Der Satz will mir Sinn ge­ben, wenn Mensch als Teil der Na­tur auf­ge­fasst wird. Wenn wir al­ler­dings ein sol­cher sind, wer­den wir wohl kaum uns selbst be­herr­schen kön­nen. Auf die Idee kam, me­ta­pho­risch, schon ein ge­wis­ser Herr Münch­hau­sen, der be­haup­te­te, sich selbst an den Haa­ren aus dem Sumpf ge­zo­gen zu ha­ben. Samt Pferd, so­weit mir be­kannt. Und wer die »dy­na­mi­sche Sub­stanz der Na­tur zu be­grün­den« sucht will sie ja wohl letzt­lich, ganz im Kolonialist*n‑Stil, be­herr­schen, der Vor­her­sag­bar­keit we­gen. Und un­ser pro­ak­ti­ves Han­deln als auch un­ser re­agie­ren­des Ver­hal­ten, al­so un­ser ge­sam­tes Agie­ren, ver­än­dert nun mal das Gan­ze, die Har­mo­nie, wie wir sie se­hen (und viel­leicht nur wir; sieht ein Hund ir­gend­wel­che Har­mo­nie?), mit­hin in­klu­si­ve. Dass die Na­tur har­mo­nisch sei ist ein An­nah­me, die ich mal in un­se­rer Mu­si­ka­li­tät ver­or­ten wür­de und die­ses Kon­zept schon mit Platons Sphä­ren­mu­sik auf das Ge­sche­hen, in das wir nicht nur in­vol­viert sind, son­dern als mäch­ti­ge Ak­teu­re mit­ge­stal­ten, über­tra­gen wur­de. Und wer als Mensch in sich selbst, mit­hin nicht nur in sei­ne, son­dern der Na­tur als sol­cher, hin­ein­sieht, wird fest­stel­len: Al­les Rhyth­mus. Wes­we­gen Mensch wohl auf die Idee kam, es gä­be Re­geln. We­gen re­gel­mä­ßig, und so.

»Gleich­zei­tig ist auch die men­schen­ge­mach­te Kul­tur, als Ge­gen­teil[…]« Das nun wie­der ty­pisch christ­lich-FAZ-ko­lo­nia­lis­ti­sches, mit­hin, Herr Nietzsche, nicht wahr, all­zu­mensch­li­ches Ver­ständ­nis des Men­schen, der sich Na­tur mit­tels Kul­tur un­ter­tan ma­chen möch­te. Im­mer­hin er­scheint im Kon­text die­ses zwei­ten Ab­sat­zes das Wort »frag­lich« und, end­lich, wes­halb nicht gleich zu An­fang: »kann die dua­lis­ti­sche Tren­nung von Na­tur und Kul­tur nicht mehr auf­recht er­hal­ten wer­den«. Kei­ne In­di­ge­nen, ob al­pen­län­di­sche Berg­bäue­rin­nen oder in den Un­tie­fen bra­si­lia­ni­scher Ur­wäl­der kul­tu­rende Män­ner brau­chen ei­ne «post­kan­ti­sche Phi­lo­so­phie« um zu die­ser Ein­sicht zu ge­lan­gen. Das Aus­ge­setzt­sein in und der Na­tur, und so auch in und der ei­ge­nen, reicht da völ­lig. Raum und Zeit für die nö­ti­ge Re­fle­xi­on bie­tet da wohl al­lein schon die kur­ze Pau­se beim Heu­en oder der Blick ins Feu­er in der Nacht.

»Wir ha­ben Sa­chen an­ge­sto­ßen, über die wir die Kon­trol­le ver­lo­ren ha­ben.« So kann man das frei­lich se­hen, wenn man sich als Krö­nung der Schöp­fung und über der Na­tur ste­hend ver­or­tet. Was nun, in­des, wenn das, was wir tun, Teil des Na­tur­ge­sche­hens ist, wie auch das gro­ße Fres­sen der Di­no­sau­ri­er, in ih­rer un­er­sätt­li­chen Gier, ih­rer Grö­ße ge­schul­det, wohl auch zu ih­rem Aus­ster­ben bei­getra­gen hat? Frei­lich fällt es schwer sich vor­zu­stel­len, Dinosaurier*innen wä­ren selbst­re­fle­xiv ge­we­sen. Doch mal an­ge­nom­men, das Spiel sei er­laubt, sie hät­ten es ge­konnt: Wä­ren sie je auf die Idee ge­kom­men, sie hät­ten mit ih­rer Fres­se­rei et­was an­ge­fan­gen, über das sie die Kon­trol­le ver­lo­ren hät­ten? Und ab­ge­se­hen da­von: Wer Kon­trol­le ver­liert, muss sie zu­vor ha­ben. Und Mensch als sol­cher mag ob dem Acker- und Ka­nal­bau, der Atom­spal­tung, der Raum­fahrt u. dgl. m. mei­nen, es kon­trol­lie­re ir­gend­was. Letzt­lich ist es nur am Spie­len und, ein ge­wis­ser J. aus N. soll das als be­rühm­te letz­te Wor­te wohl ge­äu­ßert ha­ben, wis­se gar nicht, was es tut. Wer nicht weiß, was sie tut, kann auch kei­ne Kon­trol­le ver­lie­ren. Er hat sie ja gar nicht. Denn dann wüss­te sie, was er tut. Und wer weiß, was sie tut, wird Hand­lun­gen un­ter­las­sen, die ihm scha­den. Al­les an­de­re wä­re pu­re Dumm­heit.

Der zwei­te Ab­satz en­det mit der Fra­ge: »Was will die Na­tur?« Die Fra­ge ist wohl ei­ne pan­theïs­ti­sche und hin­ter ihr steht die al­te Idee ei­nes per­so­na­len Got­tes. Der Na­tur ein Wol­len zu un­ter­stel­len ist denn auch wie­der so ei­ne mo­no­theïs­tisch-ko­lo­nia­lis­ti­sche Grund­hal­tung, wie die­se eben auch das, was mit „Gott“ be­zeich­net wird, ei­nen Wil­len un­ter­stellt — um den ei­ge­nen zu recht­fer­ti­gen. Das „Dein Wil­le ge­sche­he“ im Va­ter­un­ser be­deu­tet für den in­na­tu­rier­ten Men­schen schlicht nichts an­de­res als: „Mein Wil­le ge­sche­he“. Schopenhauer und Nietzsche las­sen herz­lich grü­ßen.

Drit­ter Ab­satz, da wird jetzt ge­holzt. »[S]äkulare Na­tur­phi­lo­so­phie«? Noch­mal mit Ver­laub: Im Kon­text des Bei­trags klingt das völ­lig lä­cher­lich. Mich deucht eher: Wo Kul­tur, da ist auch im­mer ein Kle­rus. Meis­tens ist wohl der all­zu­mensch­li­che Wil­le zum Glau­ben an sich selbst die trei­ben­de Kraft, Kul­tur sprie­ßen zu las­sen. Das wird sich seit Prometheus nicht groß ge­än­dert ha­ben. Und in die­sem Ab­satz nun taucht der Ter­mi­nus »gott­lo­se[.] Na­tur­wis­sen­schaft[..]« auf. Oben ist vom Wil­len der Na­tur und von pri­mor­dia­ler Vor­her­sag­bar­keit der­sel­ben die Re­de. Ja, um Him­mels Wil­len, wie kann den Na­tur­wis­sen­schaft be­trie­ben wer­den, wenn nicht der Na­tur ein Ziel un­ter­stellt wird? Wie man „Gott“ ger­ne Zie­le un­ter­stellt, um Theo­lo­gie be­trei­ben zu kön­nen. Die gan­ze Na­tur­wis­sen­schaft mäch­te gar kei­nen Sinn, wenn ihr nicht ei­ne Te­leo­lo­gie un­ter­stellt wird, denn oh­ne ei­ne sol­che wä­re die Haupt­auf­ga­be der Na­tur­wis­sen­schaft, Na­tur­ge­sche­hen vor­her­zu­sa­gen, um den ge­styl­ten Men­schen vor der wil­den Na­tur zu ret­ten, ja gar nicht mög­lich, nicht wahr. So be­trach­tet ist die Na­tur­wis­sen­schaft al­les an­de­re als gott­los. Sie nennt ih­ren Gott nur ein­fach: Lo­gik. Oh, Ver­zei­hung, Ra­tio­na­li­tät, na­tür­lich. (Für wel­che sich die FAZ in den Au­gen des Ver­fas­sers die­ser herä­ti­schen Zei­len ja ge­ra­de­zu be­ru­fen fühlt, ob von Gott oder der Mensch­heit, weiß ich jetzt auch nicht. Ist ja al­ler­dings auch nicht The­ma.)

Die Fra­ge »Soll man die Aut­ar­kie der Na­tur stark ma­chen oder der De­na­tu­ra­li­sie­rung der Na­tur ins Au­ge bli­cken?« fin­det sich im vier­ten Ab­satz. Was, bit­te, soll die­se Fra­ge be‑, al­so an­deu­ten, wor­auf will sie hin­deu­ten? Ge­währt der Mensch der Na­tur et­wa Aut­ar­kie? Oh, wie groß­zü­gig! Na­tur, lasst es euch ge­sagt sein, ist al­lei­ne groß. Sie be­darf der Sor­ge des Men­schen nicht. Und so ge­se­hen, ist es dem Men­schen als Mensch­heit of­fen­bar mög­lich, Na­tur zu De­na­tu­ra­li­sie­ren. Aha. Er mag die mit ihm in die Welt ge­kom­me­ne Kul­tur de­kul­tu­ra­li­sie­ren kön­nen und al­so ver­kom­men las­sen (und wenn man sich ge­wis­se Her­ren und wohl auch Da­men des Cha­rak­ters ei­nes ge­wis­sen Herrn P. aus M. so an­sieht, ist der Ge­dan­ke die­ser Macht ein­zel­ner Men­schen über die Mensch­heit wohl nicht all­zu­weit her­ge­holt) — doch die Na­tur ih­res We­sens ent­he­ben? Mit Ver­laub: Da ent­hebt sich der Mensch dann wohl sei­ner selbst und wird: un­mensch­lich. Und das ist ziem­lich un­na­tür­lich.

Fünf­ter und sechs­ter Ab­satz, zur Po­li­tik. Po­li­tik ist ei­ne Kul­tur­leis­tung des Men­schen, es meint die Kunst, in ei­ner Po­lis so zu hau­sen, dass es zum Woh­nen wird. (Man mag über Heidegger den­ken was man will, doch sol­che For­mu­lie­run­gen sind doch ehr­lich herr­lich, oder?) Po­lis nun ist kei­ne Kul­tur­leis­tung, son­dern schlicht ein Phä­no­men des So­zia­len im Men­schen, das na­tür­lich in ihn hin­ein­ge­legt wur­de — ha­ha, der Schrei­ber ist nun selbst auf die Ver­su­chung ei­ner wol­len­den Na­tur her­ein­ge­fal­len, die da dann ir­gend­was in den Men­schen hin­ein­ge­legt hät­te. Viel­mehr ist es dann doch wohl so, dass das So­zia­le zur Na­tur des Men­schen und auch zu so manch an­de­ren Tie­ren ge­hört. Und es sind ja nun nicht nur Men­schen, die sich in Po­li­cen (Das ist ein Witz! Ver­si­che­rung; Mensch, un­si­cher, ver­ste­hen Sie?) zu­sam­men fin­den, Ter­mi­ten ma­chen das auch. Und Erd­männ­chen (samt Weib­chen, frei­lich; der Art­erhal­tung we­gen, sehr na­tür­lich). Was nun al­ler­dings, zu­rück zum The­ma, Kul­tur ist, ist das Wie, die Kunst im Sin­ne von be­fä­hi­gen­dem Kön­nen, die­ses so­zia­len Zu­sam­men­kom­mens. Es gibt al­so wohl Kul­tu­ren der Po­lis, die recht un­ter­schied­lich auf­tau­chen kön­nen. Und die­se Kul­tu­ren un­ter­schei­den sich dann auch noch in den Er­schei­nungs­for­men von den in kon­ser­va­ti­ven Krei­sen hoch­ge­lob­ten Fa­mi­lie (hier ge­zählt ab zwei Per­so­nen) bis zu pro­gres­siv an­mu­te­ten Größt­städ­ten. Doch es sei ein­ge­dacht: Die­se Kunst, téch­ne im Alt­grie­chi­schen, hier la­ti­ni­siert ge­setzt, ge­hört zum na­tür­li­chen Re­per­toire des Men­schen. Man mag nun po­li­tisch da­zu kom­men, der Mensch tra­ge da­für auch die Ver­ant­wor­tung, mit­hin für al­les, was Kul­tur her­vor­bringt. Doch, ehr­lich: Tut er das? Letzt­lich doch wohl nur, wenn er sich hy­bri­sant über die Na­tur stellt. Un­ter­lässt er dies, er­liegt er die­ser Ver­su­chung nicht, braucht er sich über Ver­ant­wor­tung auch kei­nen Kopf zu ma­chen.

Doch, es ist wohl eben schon seit Prometheus’ Zei­ten für den Men­schen zu spät. Es gin­ge ja viel­leicht doch wohl an, der Mensch sei da­zu da, sein Ha­bi­tat schnellst­mög­lichst zu zer­stö­ren, auf dass er sich auf­ma­chen müs­se, pflicht­en­gleich, in fer­ne Wel­ten, Ga­la­xien, die nie ein Mensch zu­vor ge­se­hen hat. Wohl­an, die­ser Akt ret­te die Mensch­heit! Na­tür­lich ist es dann so, das mensch­li­che Kul­tur die al­ler­höchs­te ist und der Rest des Uni­ver­sums in die­sem Sin­ne zu ko­lo­ni­sie­ren ist — wir sind ja al­le gleich, nicht wahr, des Uni­ver­sal­frie­dens we­gen. Ach Mensch, Dei­ne na­tür­li­che Kul­tur macht Dich zu nichts an­de­rem als zu ei­ner Pla­ge. Doch wohl­an, „Gott“ er­schuf dies al­les und hat sich ja wohl da­bei was ge­dacht! Und wir wis­sen zwar noch nicht wo­zu Heu­schre­cken­schwär­me gut sein sol­len, doch wir wer­den es ir­gend­wann wis­sen. Flei­scher­satz? Ja, dann hur­tig ein für die Vie­cher güns­ti­ges Kli­ma schaf­fen und sie die letz­ten Res­te kahl­fres­sen las­sen, so ge­mäs­tet ein­fan­gen mit al­ler­lei tech­ni­schem Ge­rät und dann: Ver­spei­sen. Oder als platz­spa­ren­de Nah­rung für Raumfahrer*n ver­wurs­ten. Man muss ja gu­cken, dass man weg­kommt.

Zum letz­ten Ab­satz des Zei­tungs­be­rich­tes er­lau­be ich mir zu kom­men­tie­ren: Die na­tür­li­che Kul­tur des Men­schen bie­tet auch die Be­din­gung zur Mög­lich­keit sich in der Kunst der Un­ter­las­sung zu üben.

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Indie-Genialität

Andreas Weber: Indigenialität. Ein paar Gedanken zu etwas zutiefst Menschlichem.

Als Re­zen­si­on zu u.g. Buch des Dr. phil. und als Schrift­stel­ler und Jour­na­list so­wie als Hoch­schul­do­zent tä­ti­gen Au­tors An­dre­as We­ber kann die­ser Bei­trag wohl nicht an­ge­se­hen wer­den. Viel­mehr ist er ein Pro­to­koll ei­nes Ge­dan­ken­gan­ges, zu dem die Lek­tü­re des Tex­tes an­ge­regt hat.

Den In­halt des Bu­ches möch­te ich ger­ne mit „Was Sie schon im­mer über Weis­heit wis­sen woll­ten, aber nie zu fra­gen wag­ten.“ il­lus­trie­rend zu­sam­men­fas­sen. Das Buch kam mir manch­mal et­was arg pan­psy­chis­tisch, ir­gend­wie welt­fremd, ir­gend­wie eso­te­risch, viel­leicht für man­che auch schlicht­weg kin­disch, da­her. Und so hat­te ich mich in die­sen Mo­men­ten zu er­in­nern, dass es der Mensch ist, der den Din­gen Psy­che, See­le, Sub­jek­ti­vi­tät, al­so In­ner­lich­keit, zu ge­ben ver­mag und die­se selbst sie nicht ha­ben müs­sen. Dar­an ist nichts falsch, ge­nau­so we­nig wie dar­an et­was nur rich­tig ist. Die Fra­ge nach der Sinn­haf­tig­keit ei­nes sol­chen Den­kens, ei­ner sol­chen Welt­an­schau­ung, ei­ner sol­chen Hal­tung, ist zu stel­len.

Die Ant­wort auf ei­ne sol­che Fra­ge ist ei­ne öko­lo­gi­sche und kei­ne öko­no­mi­sche und gip­felt schließ­lich in der al­ten phi­lo­so­phi­schen Fra­ge nach dem Glück des Men­schen als In­di­vi­du­um ge­nau­so wie die nach dem Glück der Men­schen als Spe­zi­es. Das, manch’ Glau­ben nun fol­gend, da­von ab­hängt mit wel­chem Glück er über die Na­tur ob­wal­tet, die ihm zu be­herr­schen auf­ge­ge­ben wur­de, die er sich zum Un­ter­tan ma­chen sol­le – in den Wor­ten des Au­tors könn­te ge­sagt wer­den: Die zu ko­lo­nia­li­sie­ren Mensch von hö­he­rer Macht be­auf­tragt wur­de. Bzw. er sich da­zu be­ru­fen fühlt, sich selbst (als) hö­he­re Macht ge­bend. Die­se Per­spek­ti­ve kann öko­no­misch ge­nannt wer­den, die des Ge­gen­ein­an­ders, der Kon­kur­renz um Gü­ter, der Angst vor Man­gel und Tod. Die Öko­lo­gi­sche ist die der Ge­gen­sei­tig­keit, der »Ge­mein­gü­ter­wirt­schaft«, der Freu­de am Ge­nü­gen und am Le­ben.

Der Ge­dan­ke der Ge­gen­sei­tig­keit des Men­schen mit ei­ner be­leb­ten Na­tur – wo­zu auch Stei­ne zu zäh­len sind – durch­zieht den gan­zen Text. Stets mach­te er mich dar­auf auf­merk­sam, Na­tur und Kul­tur nicht in ei­ner Geg­ner­schaft, son­dern in ei­ner All­men­de, ei­ner Ver­sor­gung auf Ge­gen­sei­tig­keit ba­sie­rend, zu ver­ste­hen. Kul­tur ge­hört zur mensch­li­chen Na­tur, der Mensch ge­hört zur Na­tur, mit­hin ist An­thro­po-Kul­tur als Na­tur auf­zu­fas­sen. Ein für mich äu­ßerst sym­pa­thi­scher Ge­dan­ke.

Der mich zum Sin­nie­ren brach­te. In­wie­weit ist ein sol­ches Ge­gen­sei­tig­keits­prin­zip in der Po­li­tik, na­ment­lich des­sen, was im All­ge­mei­nen mit De­mo­kra­tie be­zeich­net wird, an­wend­bar? Ver­ste­hen wir Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on nicht mehr als ei­ne Geg­ner­schaft, de­ren Sinn dar­in be­steht, den an­de­ren, die Po­si­ti­on, zu be­sie­gen, al­so mit ei­ner ge­ne­rel­len Ko­lo­nia­li­sie­rungs­idee. Son­dern in ei­ner Ge­gen­sei­tig­keit, de­ren Sinn dar­in be­steht, den an­de­ren, die Po­si­ti­on, auf­zu­klä­ren. Wie sä­he dann das Wech­sel­spiel der Mäch­te in ei­ner De­mo­kra­tie aus?

Zu­nächst ein­mal ist der Preis der Macht, des Re­gie­rens, der Po­si­ti­on, die der Auf­klä­rung durch die Op­po­si­ti­on, die ach­tungs­voll hin­zu­neh­men ist. Op­po­si­ti­on er­hellt das Trei­ben der Re­gie­ren­den und stellt so­mit für die Wäh­ler­schaft die Fra­ge: „Wollt ihr das?“ Vor­nehm­lich die­se Auf­ga­be soll­te in ei­ner all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie die der Op­po­si­ti­on sein. Kon­rad Ade­nau­er for­mu­lier­te es so:

Ich hal­te ei­ne gu­te Op­po­si­ti­on in ei­nem Par­la­ment für ei­ne ab­so­lu­te Not­wen­dig­keit; oh­ne ei­ne wirk­lich gu­te Op­po­si­ti­on ent­steht Stick­luft und Un­frucht­bar­keit.

Wil­ly Brandt fass­te es noch kür­zer:

Mehr De­mo­kra­tie wa­gen.

Frei­lich ge­hört zu ei­ner frucht­ba­ren Op­po­si­ti­on – »Frucht­bar­keit« ist im Üb­ri­gen auch im Buch ein Wort, das mir auf­ge­fal­len ist – nicht nur zu me­ckern, son­dern ei­ne Al­ter­na­ti­ve für die­ses po­si­tio­nel­le Tun auf­zu­zei­gen. Und da­für zu wer­ben, die­sen an­de­ren Weg doch zu ge­hen mit dem Re­gie­rungs­auf­trag an die ak­tu­el­le Op­po­si­ti­on durch die Wäh­ler­schaft bei der nächs­ten Wahl.

Wo­mit die Sei­ten ge­wech­selt wer­den und nun je­ne, die es an­ders ma­chen wol­len, im Licht der Auf­klä­rung durch die neue Op­po­si­ti­on ste­hen, die vor­mals die Po­si­ti­on ver­tra­ten. Op­po­si­ti­ons­ar­beit ist so nicht Mist, son­dern ein Ga­rant für die Gü­te des Re­gie­rens. So ent­steht ei­ne Ge­gen­sei­tig­keit. Um nicht zu sa­gen: ei­ne Für­sor­ge.

Nun sind hier Wor­te ge­fal­len, »Al­ter­na­ti­ve«, »die­sen an­de­ren Weg«, die die Her­zen man­cher Gesell*n, vor­nehm­lich am mehr oder we­ni­ger po­pu­lis­ti­schen rech­ten Rand, wo­mög­lich hö­her schla­gen las­sen. Die Na­tür­lich­keit ih­res Tuns näm­lich als hin­rei­chend be­grün­det an­zu­se­hen und nun zu sa­gen: „Ja! Ge­nau das ma­chen wir ja! Das ist ge­sun­der Men­schen­ver­stand, das ist ver­nünf­tig!“

Mit­nich­ten.

Op­po­si­ti­on be­deu­tet stets, ei­nem wirk­lich an­de­rem Kon­zept zu fol­gen, das sich aus ei­ner an­de­ren Hal­tung er­gibt und so über­haupt erst ein­mal in die La­ge ver­setzt zu wer­den, Auf­klä­rungs­ar­beit zu leis­ten. Um es räum­lich zu for­mu­lie­ren: Re­giert ei­ne ‚rech­te‘ Welt­auf­fas­sung, ist ‚rechts‘ Po­si­ti­on, ist ei­ne noch ‚rech­te­re‘ kei­ne Op­po­si­ti­on da­zu. Ei­ne ‚lin­ke‘ Hal­tung ist da­zu in Op­po­si­ti­on zu set­zen, nichts an­de­res, will das Wort „Op­po­si­ti­on“ der Be­deu­tung, die ich ihm hier ge­ben möch­te, ge­recht wer­den.

Ver­su­chen wir es mit Far­ben, in ei­nem ge­wis­sen Sin­ne das Kom­ple­men­tär­prin­zip der Ge­gen­sei­tig­keit auf­zei­gend: Noch schwär­zer, bis ins Braun fal­lend (was nun frei­lich nur et­was ver­deut­li­chen soll), ist kei­ne Ge­gen­sei­tig­keit, son­dern Ein­sei­tig­keit. Die Op­po­si­ti­on zu schwarz, das Kom­ple­men­tär eben, ist weiß, in die­sem Ge­dan­ken­gang. Und frei­lich gilt auch hier: Bei ei­ner wei­ßen Po­si­ti­on ist das noch wei­ße­re kei­ne Op­po­si­ti­on, son­dern eher Blen­dung. Wie das noch schwär­z­e­re als Ver­dun­ke­lung an­ge­se­hen wer­den kann. Bei­des trübt die Klar­heit ein.

Der Grund­ge­dan­ke ei­ner all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie ist nicht Macht, son­dern Ver­ant­wor­tung. Ver­ant­wor­tung auch da­für, dass das Prin­zip der Ge­gen­sei­tig­keit auf­recht er­hal­ten wird.

Ei­ne Auf­wei­chung die­ses Prin­zips, in­dem schwarz und weiß sich zu ei­nem grau ver­ei­ni­gen, ver­dun­kelt das Re­gie­rungs­ge­sche­hen. Die Kraft, die nun noch op­po­si­tio­nell wir­ken kann und so­gar muss, will das Prin­zip ge­ret­tet wer­den, ist die Öf­fent­lich­keit. Die Me­di­en, die Bür­ger selbst, gar. So wer­den je­doch die Me­di­en und die Bür­ger in das Macht­spiel hin­ein­ge­zo­gen und letzt­lich zum Geg­ner der Re­gie­rung, den es zu be­sie­gen gilt. Die Me­di­en ver­lie­ren so ih­ren Sta­tus, über das Ge­sche­hen in ei­ner all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie zu be­rich­ten, auch kom­men­tie­rend. Auf dass der Wäh­ler­schaft klar wer­den kann, ob die ak­tu­el­le Kon­zep­ti­on noch trägt oder durch ei­nen Wech­sel der Spiel­rol­len das Prin­zip der po­li­ti­schen All­men­de auf­zu­fri­schen ist. In Er­in­ne­rung ge­ru­fen wer­den soll.

Die Me­di­en ver­lie­ren den Sta­tus neu­tra­ler, re­flek­tie­ren­der Be­ob­ach­ter, die Bür­ger­schaft ver­liert den Sta­tus der Frei­heit. Weil je­ne, die in Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on be­auf­tragt wur­den, für eben je­ne Frei­heit von Macht­kämp­fen der Bür­ger­schaft zu sor­gen, da­mit die­se für sich sor­gen kann, ver­sa­gen. Sinn der Re­prä­sen­ta­ti­on ist es, statt selbst kämp­fen zu müs­sen, po­li­ti­sche Ak­teu­re zu be­auf­tra­gen, mit de­mo­kra­ti­schem Rin­gen Sor­ge für und um die Ge­sell­schaft zu tra­gen. Und für die Klar­heit zu sor­gen, die es der Wäh­ler­schaft er­mög­licht zu be­ur­tei­len, ob ein Wech­sel in den Spiel­rol­len an­ge­zeigt ist. Ei­ne Klar­heit, die dann durch die Me­di­en ins Land ge­tra­gen wird.

So ent­steht ein Wech­sel­spiel von Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on, das dann eben als Wech­sel­wir­kung Kraft ent­fal­tet; ein Land, ei­ne Ge­sell­schaft, wei­ter­bringt, oh­ne dass da­bei die Sach­the­men, z.B. Kli­ma, Mi­gra­ti­on, sog. Di­gi­ta­li­sie­rung, ver­nach­läs­sigt wer­den. Denn sach­lich, ver­nünf­tig be­trach­tet sind die­se Pro­ble­me kei­ne ei­ner po­li­ti­schen Hal­tung. Son­dern Fra­gen, die wis­sen­schaft­li­ches Trei­ben auf­zu­hel­len ver­mag. Ob die Lö­sun­gen zu die­sen Pro­ble­men mit wei­ßen oder schwar­zen Hand­schu­hen an­ge­gan­gen wer­den, mit ro­ten oder grü­nen, gel­ben oder blau­en,… ist den The­men und wohl auch der Wäh­ler­schaft völ­lig egal: Die Ge­sell­schaft hat sich zu die­sen Pro­ble­men zu ver­hal­ten.

Nicht egal dürf­te der Wäh­ler­schaft al­ler­dings sein, mit wel­cher Stim­mung, grund­le­gen­den Hal­tung die Lö­sung die­ser Pro­ble­me an­ge­gan­gen wird. Mit der Wahl von Par­tei­en wird die­se Stim­mung ge­schaf­fen – so denn über­haupt Hal­tun­gen zur Wahl ste­hen und nicht viel­mehr ei­ne, ver­meint­lich kon­ser­va­ti­ve, so laut brüllt, dass die nicht-kon­ser­va­ti­ve er­schro­cken in ei­nen Mu­tis­mus fällt und man so mei­nen könn­te, es gä­be nur die­se, sich ra­tio­nal-prag­ma­tisch ge­ben­de, Stim­me, letzt­end­lich. Und die­se dann ‚wählt‘, auch wenn man sie nicht ha­ben will. Um mit ei­nem sol­chen Pro­test dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass die Stim­mung, die Hal­tung, die die Wäh­ler­schaft sich wünscht, nicht er­kenn­bar ist, eben nicht wähl­bar ist. Ei­ne Hal­tung der All­men­de, sicht­bar durch das An­ge­bot, Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on in ei­nem de­mo­kra­ti­schen Par­la­ment in ih­ren Rol­len neu be­set­zen zu kön­nen.

Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on, nicht Po­si­ti­on und Re­po­si­ti­on. Und schon gar nicht ei­ne ‚Mit­te‘, die jeg­li­che Po­si­ti­on ver­mis­sen lässt und so­mit Op­po­si­ti­on ver­un­mög­licht. Po­li­tik hat auch die­sen Frei­raum für die Bür­ger­schaft zu schaf­fen, ei­ne ent­spann­te, po­li­tisch un­be­setz­te Mit­te, aus de­ren neu­tra­ler Per­spek­ti­ve her­aus das Trei­ben der sich all­men­die­ren­den De­mo­kra­tie durch die Wäh­ler­schaft be­trach­tet, be­ur­teilt und ge­steu­ert wer­den kann.

Im Üb­ri­gen möch­te ich ab­schlie­ßend noch all je­ne, die sich als Pro­test­wäh­ler ver­ste­hen, da­zu auf­ru­fen, statt frag­wür­di­ge und un­durch­sich­ti­ge Hal­tun­gen zur Macht zu ver­hel­fen, ih­ren Wunsch nach ei­ner frei­en Mit­te durch die Ab­ga­be ei­nes sog. un­gül­ti­gen Stimm­zet­tels zu be­zeu­gen. Ein un­gül­tig ge­nann­ter Stimm­zet­tel heißt nicht, dass die Stim­me un­gül­tig ist, er heißt nur, dass die ab­ge­ge­be­ne und al­so ge­zähl­te Stim­me bei der Zu­sam­men­set­zung des Par­la­ments kei­ne Rol­le spielt.

14% ‚un­gül­ti­ge‘ Stimm­zet­tel
soll­ten die Po­li­tik wohl dar­an er­in­nern kön­nen, dass sie aus Sicht des Sou­ve­räns an ih­rem de­mo­kra­ti­schen Ver­ständ­nis zu ar­bei­ten hat.

Lit.:
We­ber, An­dre­as: In­di­ge­nia­li­tät
Ni­co­lai, Ber­lin 2018. 120 S., 20,00€
(auch als e‑Book er­hält­lich)

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Die Mitte

Anmerkung zu Giovanni Di Lorenzos Artikel „Wer reanimiert die Mitte?“ | ZEIT № 9/2018 (Print)

Erst wo ein links und rechts ‑oder, un­po­li­tisch: oben und un­ten, vor­ne und hin­ten, vor­her und nach­her- kann es über­haupt ei­ne Mit­te ge­ben. Fal­len rechts und links in­ein­an­der, ver­schwin­det nicht nur der Deut­schen liebs­tes, wohl nicht nur po­li­ti­sches Kind: Die be­ru­hig­te und be­ru­hi­gen­de Mit­te. Nor­mal, halt.

Das Fun­da­ment der De­mo­kra­tie ist nicht die Mit­te, es ist die Wech­sel­wir­kung von Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on, die ei­ne Mit­te eben über­haupt erst ent­ste­hen lässt.

Die AfD ist kei­ne Op­po­si­ti­on, sie ist ein Sym­ptom ei­ner lä­dier­ten De­mo­kra­tie. Zu­min­dest je­doch ei­nes de­mo­kra­ti­schen Un‑, Miss- oder auch Al­ter­na­tiv­ver­ständ­nis­ses — wie es die Um­fra­ge­wer­te der SPD wohl auch in­di­zie­ren mö­gen. Ram­po­niert, weil CDU&CSU&SPD ‑oder soll­te man sa­gen: die CSPU- in der be­hag­li­chen und be­que­men Mit­te sein und aus ihr her­aus un­be­hel­ligt re­gie­ren will — statt die­se für die Bür­ger­schaft zu er­öff­nen, für die es wohl ein Sehn­suchts­ort ist. So wie jetzt und in den letz­ten Jah­ren wird sie, die Mit­te, durch die Wei­se der Po­li­tik be­setzt. Sie wird in ih­rer ver­mit­teln­den Funk­ti­on im Spiel der Vek­to­ren de­mo­kra­ti­scher Kraft ‑oder, all­ge­mei­ner: der Kraft des Wan­dels, wo­mit und wo­durch sie ih­ren Weg fin­det- blo­ckiert.

Die Mit­te ge­hört der Bür­ger­schaft, nicht der Po­li­tik, und sie ist al­lein durch die Bür­ger­schaft ver­tret­bar: Tä­ti­ge De­mo­kra­tie.

Al­so schafft sich die Wäh­ler­schaft ‑zu­min­dest ver­sucht sie sich dar­in und sieht da­bei lei­der viel zu kurz- durch die Wahl von Ex­tre­men wie­der ei­ne Mit­te, er­obert sie sich zu­rück. In der sie sich wohl füh­len kann, wäh­rend um die­ses Au­ge der Sturm aus The­se und An­ti­the­se, aus Po­si­ti­on und Op­po­si­ti­on, aus öf­fent­li­cher Dis­kus­si­on, par­la­men­ta­ri­scher De­bat­te, me­dia­lem Dis­kurs über Für und Wi­der fegt und das Land und des­sen Ge­sell­schaft wie auch die ‑nicht nur po­li­ti­sche- Kul­tur mit sich nimmt, sie ent­wi­ckelt und ent­fal­tet.

Die Me­ta­pher des zie­hen­den Sturms zeigt auch: Die Mit­te ist ei­ne Sphä­re, die sich be­wegt und de­ren Kurs sich er­gibt. So die­ser Ne­xus, die­ser Na­bel, die­se Na­be in Ru­he ge­las­sen wird, nicht be­setzt und da­mit zu kon­trol­lie­ren ver­sucht wird. Sie leer und da­mit frei ge­las­sen wird. Sie nicht nach links oder rechts, vor­wärts oder rück­wärts zu be­stim­men ver­sucht wird. Wenn ihr ein­fach Raum ge­ge­ben wird, in dem es sich gut le­ben lässt, wäh­rend der Wel­ten­lauf sei­nen Gang nimmt. Der von ei­nem si­che­ren Ort aus ver­folgt wer­den kann. Über den sich hie und da auf­regt und ge­är­gert wer­den kann. Sich hin und wie­der an ihm er­freut oder er als lä­cher­lich be­fun­den und ab­ge­tan wer­den kann. Über den sich zu­wei­len auch ge­ängs­tigt wird. Und der, sel­ten zwar, so­gar Mut ma­chen kann.

Der aber nie still­steht. Wie man selbst in der Mit­te nie da bleibt, wo man war. Son­dern im­mer mit­ge­nom­men wird vom Rad der Ge­schich­te und Ge­schich­ten.

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