Studio

Die Ar­beit an der Philosophie ist
– wie viel­fach die Ar­beit in der Ar­chi­tek­tur –
ei­gent­lich mehr die Ar­beit an Ei­nem selbst.
An der ei­ge­nen Auf­fas­sung.
Dar­an, wie man die Din­ge sieht.
(Und was man von ih­nen ver­langt.)

Lud­wig Witt­gen­stein

Was ist das Sokratische Studio?

Das So­kra­ti­sche Stu­dio ist ein Ort für Re­fle­xi­on, Dia­log und ge­dank­li­che Be­we­gung. Es bie­tet Raum für Men­schen, die in­ne­hal­ten und nach­den­ken möch­ten — über sich selbst, über ih­re Mei­nun­gen und über die Welt. An­ders als in aka­de­mi­schen oder be­leh­ren­den Kon­tex­ten steht hier kei­ne ver­fer­tig­te Wahr­heit im Vor­der­grund, son­dern der ge­mein­sa­me Weg, Fra­gen zu stel­len, Be­haup­tun­gen auf­zu­stel­len und zu prü­fen, und so Per­spek­ti­ven auf die Wirk­lich­keit zu er­kun­den, da­bei viel­leicht neue zu ent­de­cken.

Im Mit­tel­punkt des An­ge­bots steht die Stär­kung des Mei­nens. Dies be­deu­tet, per­sön­li­che An­sich­ten nicht nur zu äu­ßern, son­dern sie auch zu hin­ter­fra­gen, zu prü­fen und im Aus­tausch mit an­de­ren wei­ter­zu­ent­wi­ckeln. Es geht nicht dar­um, ab­schlie­ßen­de Ant­wor­ten zu fin­den, son­dern ei­ne Hal­tung zu kul­ti­vie­ren, die mit Un­ge­wiss­heit und Am­bi­va­lenz be­wusst um­ge­hen kann.

Das Stu­dio lädt da­zu ein, die „Kunst des nicht wis­sen Kön­nens“ als Le­bens­hal­tung zu ent­de­cken. Die­se Kunst be­steht dar­in, das ei­ge­ne Den­ken nicht als fest­ste­hend zu be­trach­ten, son­dern als le­ben­di­gen Pro­zess – of­fen für Zwei­fel, Ver­än­de­rung und neue Ideen.

Was wird angeboten?

Das So­kra­ti­sche Stu­dio ist ein Ort des Den­kens — nicht als abs­trak­te Dis­zi­plin, son­dern als le­ben­di­ge Pra­xis. Hier ent­ste­hen Tex­te, Mi­nia­tu­ren, die Denk­an­stö­ße ge­ben sol­len: nicht mehr, aber auch nicht we­ni­ger. Sie schär­fen das Mei­nen, hin­ter­fra­gen Ge­wiss­hei­ten und öff­nen Per­spek­ti­ven. Wer dar­über ins Ge­spräch kom­men will, kann sich mit dem Au­tor be­ra­ten — nicht im Sin­ne ei­ner Be­leh­rung, son­dern als ge­mein­sa­mes Er­kun­den ei­ner Fra­ge­stel­lung.

Ein Raum für Fragen, nicht für Antworten

Im Stu­dio geht es nicht um das Ver­mit­teln von Wis­sen oder um vor­ge­fer­tig­te Ant­wor­ten. Es geht dar­um, Ge­dan­ken zu klä­ren, Ar­gu­men­te zu prä­zi­sie­ren und Zu­sam­men­hän­ge zu durch­leuch­ten. Ei­ne Fra­ge zu stel­len be­deu­tet hier, sich auf ei­ne Re­fle­xi­on ein­zu­las­sen, die nicht auf ein­fa­che Lö­sun­gen, son­dern auf tie­fe­re Ein­sich­ten ab­zielt. Die Be­ra­tung ist kei­ne Rat­ge­be­rei, son­dern ein ge­mein­sa­mes Be­trach­ten, ein ge­dank­li­ches In­vest­ment. Es geht al­so dar­um, sich zu be­ra­ten statt be­ra­ten zu wer­den. Dar­um, ei­nen Rat zu bil­den statt ei­nen ein­zu­kau­fen.

So­kra­tes nahm kein Ho­no­rar — er woll­te sei­ne Mit­bür­ger aus der geis­ti­gen Selbst­ge­fäl­lig­keit rei­ßen. Die So­phis­ten hin­ge­gen ver­kauf­ten Wis­sen als Wa­re. Das So­kra­ti­sche Stu­dio ist we­der das ei­ne noch das an­de­re: Hier wird Zeit und In­tel­lekt in­ves­tiert, um Fra­gen mit der Tie­fe zu be­han­deln, die sie ver­die­nen. Die­se Ar­beit hat ih­ren Wert — nicht als Han­dels­gut, son­dern als ernst­haf­te Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Den­ken selbst.

Im So­kra­ti­schen Stu­dio gibt es kei­ne fer­ti­gen Lö­sun­gen. Statt­des­sen ent­steht mit der Be­geg­nung ein Raum, in dem die Frei­heit des Den­kens und die Ver­ant­wor­tung der Re­fle­xi­on glei­cher­ma­ßen ge­för­dert wer­den. Die­ses An­ge­bot steht al­len of­fen, die Lust ha­ben, sich auf das Aben­teu­er des Den­kens ein­zu­las­sen. Sei’s mit dem Le­sen der Pros­ami­nia­tu­ren, sei’s im Dia­log mit dem Au­tor.

Welcher Sokrates?

Der Na­me So­kra­tes ruft un­ter­schied­li­che Bil­der und Vor­stel­lun­gen her­vor. Da ist zum ei­nen der his­to­ri­sche So­kra­tes, der in Athen des 5. Jahr­hun­derts v. Chr. leb­te, lehr­te — und durch sei­ne Wei­ge­rung, Kom­pro­mis­se ein­zu­ge­hen, zum Sym­bol für das Phi­lo­so­phie­ren als Le­bens­hal­tung wur­de. Doch von die­sem his­to­ri­schen So­kra­tes wis­sen wir kaum et­was Si­che­res.

Was wir von ihm ken­nen, stammt vor al­lem aus li­te­ra­ri­schen Dar­stel­lun­gen. Pla­ton hat So­kra­tes als sei­nen Leh­rer idea­li­siert und ihn in sei­nen Dia­lo­gen zum Sprach­rohr sei­ner ei­ge­nen phi­lo­so­phi­schen Ge­dan­ken ge­macht. Auch Xe­no­phon schrieb über ihn, aus ei­ner eher prag­ma­ti­schen Per­spek­ti­ve, wäh­rend Aris­to­pha­nes in sei­ner Ko­mö­die „Die Wol­ken“ ein sa­ti­ri­sches, fast ka­ri­ka­tur­haf­tes Bild des So­kra­tes zeich­ne­te. Spä­te­re Au­toren wie Ci­ce­ro oder Nietz­sche grif­fen den So­kra­tes eben­falls auf, teils be­wun­dernd, teils kri­tisch — und form­ten so im­mer neue Fa­cet­ten die­ses schil­lern­den Den­kers.

Im So­kra­ti­schen Stu­dio geht es je­doch nicht um den his­to­ri­schen So­kra­tes oder um die Lehr­me­tho­den ei­nes be­stimm­ten Au­tors. Viel­mehr steht ein „ar­che­ty­pi­scher“ So­kra­tes im Mit­tel­punkt: ein Den­ken­der, der sich durch ra­di­ka­le Of­fen­heit, durch Mut zum Nicht­wis­sen und durch die Kunst des Fra­gens aus­zeich­net. Es geht nicht um ei­ne Me­tho­de im stren­gen Sin­ne, son­dern um ei­ne Hal­tung — ei­ne Hal­tung, die uns lehrt, den Zwei­fel als pro­duk­ti­ve Kraft zu ver­ste­hen und das Den­ken als stän­di­gen Pro­zess zu be­grei­fen.

Sokrates und Nietzsche: Skepsis, Kritik und Lebensbejahung

Nietz­sche hat So­kra­tes mit schar­fen Wor­ten kri­ti­siert. In sei­nem Werk „Die Ge­burt der Tra­gö­die“ nennt er ihn den „Tod des Tra­gi­schen“ und sieht in ihm den An­fang ei­ner Ära, die das Le­ben nur noch ra­tio­nal durch­drin­gen will — und da­mit sei­ne Tie­fe und sei­ne ur­sprüng­li­che Kraft ver­liert. Nietz­sche be­trach­tet So­kra­tes als den Ar­chi­tek­ten ei­ner Skep­sis, die dem in­stink­ti­ven und schöp­fe­ri­schen Le­ben ei­ne Gren­ze setzt. Doch ge­nau hier­in zeigt sich ei­ne in­ter­es­san­te Wen­dung: Die­se Skep­sis, die Nietz­sche so ve­he­ment an­greift, bil­det pa­ra­do­xer­wei­se den Kern des­sen, was man als „So­kra­ti­sche Me­tho­de“ ver­ste­hen könn­te.

So­kra­tes’ Skep­sis ist kei­ne zer­stö­re­ri­sche Ab­leh­nung, son­dern ein schöp­fe­ri­sches In­fra­ge­stel­len. Sie for­dert uns auf, das schein­bar Selbst­ver­ständ­li­che zu hin­ter­fra­gen und uns von Ge­wiss­hei­ten zu lö­sen. Nietz­sche hin­ge­gen warnt da­vor, dass sol­che Skep­sis – wenn sie sich selbst über­stei­gert – in ei­nen Ni­hi­lis­mus mün­den kann, in dem je­de Form von Sinn auf­ge­löst wird. Hier setzt er sein ei­ge­nes Kon­zept ent­ge­gen: das „amor fa­ti“, die Lie­be zum Schick­sal und die ra­di­ka­le Be­ja­hung des Le­bens, so wie es ist.

Be­trach­tet man So­kra­tes und Nietz­sche zu­sam­men, er­gibt sich ein in­ter­es­san­tes Span­nungs­feld, fast wie ein west­lich ge­präg­tes Yin-Yang. Die Skep­sis So­kra­tes’ schützt uns da­vor, in ei­nen blin­den Szi­en­tis­mus oder ideo­lo­gi­schen Dog­ma­tis­mus zu ver­fal­len, wäh­rend Nietz­sches Le­bens­be­ja­hung ei­nen Ge­gen­pol zur Ge­fahr des zer­set­zen­den Zwei­fels dar­stellt. Ge­mein­sam bie­ten sie ei­nen Weg, der we­der in kal­te Ra­tio­na­li­tät noch in gleich­gül­ti­gen He­do­nis­mus führt.

In die­ser Syn­the­se kön­nen wir ei­ne Ba­lan­ce fin­den: die pro­duk­ti­ve Kraft des Fra­gens und Zwei­felns ei­ner­seits, und die vi­ta­li­sie­ren­de En­er­gie der Le­bens­freu­de und des Schick­sals­ver­trau­ens an­de­rer­seits. Bei­de Denk­fi­gu­ren schüt­zen uns so vor Ex­tre­men und la­den da­zu ein, das Le­ben mit kla­rem Kopf und of­fe­nem Her­zen zu ge­stal­ten. Ein Zu­sam­men­spiel von So­kra­tes und Nietz­sche zeigt, dass wah­re Phi­lo­so­phie kei­ne Ein­sei­tig­keit dul­det — son­dern in der Be­we­gung zwi­schen Ge­gen­sät­zen le­ben­dig wird.

Von Sokrates und Nietzsche zu Rorty: Die Triangel für das Sokratische Studio

Mit Ri­chard Ror­ty tritt ein mo­der­ner Prag­ma­ti­ker in den Dia­log, der das Den­ken von So­kra­tes und Nietz­sche in die Ge­gen­wart hin­ein ver­län­gert. Ror­ty, der in sei­nem Werk „Der Spie­gel der Na­tur“ mit tra­di­tio­nel­len Vor­stel­lun­gen von Er­kennt­nis auf­räumt, schlägt vor, Phi­lo­so­phie we­ni­ger als Su­che nach uni­ver­sel­len Wahr­hei­ten zu ver­ste­hen, son­dern viel­mehr als Werk­zeug, das uns hilft, in ei­ner sich stän­dig wan­deln­den Welt zu na­vi­gie­ren. Wahr­heit, so Ror­ty, ist kein sta­ti­sches Ab­bild der Rea­li­tät, son­dern ein Pro­dukt un­se­rer Kon­ver­sa­tio­nen, ein Er­geb­nis des so­zia­len Aus­tauschs und der Pra­xis. Man könn­te es auch „Wirk­lich­keit“ nen­nen.

Die­ser An­satz fügt der Skep­sis So­kra­tes’ und der Le­bens­be­ja­hung Nietz­sches ei­ne wei­te­re Di­men­si­on hin­zu: den Kon­text. Wäh­rend So­kra­tes durch das In­fra­ge­stel­len un­se­re Ge­wiss­hei­ten er­schüt­tert und Nietz­sche uns zur ak­ti­ven An­nah­me des Le­bens her­aus­for­dert, zeigt Ror­ty, dass wir un­se­re Über­zeu­gun­gen stets in ei­ner Ge­mein­schaft und in ei­nem ge­schicht­li­chen Rah­men ent­wi­ckeln. Er­kennt­nis ist nichts Ab­so­lu­tes, son­dern et­was, das durch die Dy­na­mik un­se­rer Be­zie­hun­gen und Hand­lun­gen ent­steht.

So ent­steht ei­ne „Tri­an­gel“, die die Ar­beit im So­kra­ti­schen Stu­dio tö­nen lässt und so er­fahr­bar macht:

  • So­kra­tes steht für die Kunst des Fra­gens und den Mut zum Nicht­wis­sen.
  • Nietz­sche ver­kör­pert die Kraft der Le­bens­be­ja­hung und die Über­win­dung des Ni­hi­lis­mus.
  • Ror­ty be­tont die Rol­le des Dia­logs und der Pra­xis in ei­ner plu­ra­lis­ti­schen Welt.

Der Mensch selbst als vier­tes und ent­schei­den­des Mo­ment steht im Zen­trum als Spie­ler der Tri­an­gel — als Han­deln­der, Fra­gen­der und Ge­stal­ten­der, der die­se Aspek­te ei­nes gu­ten Le­bens in sei­nem Le­ben zur Ent­fal­tung bringt.

Die­se Tri­an­gel ist we­der ein star­res Sche­ma noch ei­ne vor­ge­fer­tig­te Me­tho­de, son­dern ein of­fe­ner Denk­raum. Es schützt vor der Er­star­rung in rei­ner Skep­sis, vor dem Ab­sturz in dog­ma­ti­schen Ni­hi­lis­mus und vor der Selbst­ge­fäl­lig­keit des prag­ma­ti­schen Re­la­ti­vis­mus. Es lädt da­zu ein, Phi­lo­so­phie nicht als eli­tä­res Un­ter­fan­gen zu be­grei­fen, son­dern als et­was, das mit­ten im Le­ben ge­schieht — im Den­ken, im Tun und im Aus­tausch mit an­de­ren.

Das So­kra­ti­sche Stu­dio ver­steht sich da­her als ein Raum, in dem die­se vier Kräf­te mit­ein­an­der in Dia­log tre­ten kön­nen. Hier wird das Den­ken selbst zu ei­ner Le­bens­hal­tung, die of­fen ist für Fra­gen, oh­ne die Freu­de am Le­ben aus den Au­gen zu ver­lie­ren — ein Zu­sam­men­spiel von Skep­sis, Be­ja­hung, Kon­text und Mensch­lich­keit.

Wittgenstein als kritischer Zuhörer und Kommentator

Lud­wig Witt­gen­stein, des­sen Wor­te die Sei­te ein­lei­ten, ist ein Den­ker, der die Phi­lo­so­phie auch als ei­ne Form der Selbst­ar­beit be­greift. Für ihn geht es nicht nur um das Er­schaf­fen kom­ple­xer Theo­rien oder das Auf­stel­len end­gül­ti­ger Wahr­hei­ten, son­dern dar­um, die ei­ge­ne Sicht auf die Welt zu klä­ren. Phi­lo­so­phie, so Witt­gen­stein, hilft uns, die Ver­wir­run­gen auf­zu­lö­sen, die aus un­se­rem Um­gang mit Spra­che und Den­ken ent­ste­hen. Sie führt uns da­zu, un­se­re Auf­fas­sun­gen zu hin­ter­fra­gen und die Art und Wei­se, wie wir die Din­ge se­hen, be­wuss­ter zu ge­stal­ten.

Die­se Per­spek­ti­ve macht Witt­gen­stein zu ei­nem stil­len Be­glei­ter des So­kra­ti­schen Stu­di­os. Sei­ne Be­to­nung der Klar­heit, des ge­nau­en Hin­se­hens und des Ver­zichts auf vor­schnel­le Ur­tei­le er­gänzt das Den­ken von So­kra­tes, Nietz­sche und Ror­ty auf ein­drück­li­che Wei­se. Wäh­rend So­kra­tes durch Fra­gen pro­vo­ziert, Nietz­sche das Le­ben selbst af­fir­miert und Ror­ty den Dia­log in den Mit­tel­punkt stellt, lenkt Witt­gen­stein den Blick nach in­nen: auf die Struk­tu­ren un­se­res Den­kens, auf die Be­din­gun­gen un­se­rer Vor­stel­lun­gen und dar­auf, was wir von der Welt ver­lan­gen.

Witt­gen­steins An­satz, Phi­lo­so­phie als Ar­beit an der ei­ge­nen Hal­tung zu ver­ste­hen, ist zu­gleich die Quint­essenz des­sen, wor­um es im So­kra­ti­schen Stu­dio geht. Hier wird kein Wis­sen ver­mit­telt, das von au­ßen auf­ge­setzt wird. Statt­des­sen wer­den die Grund­la­gen der ei­ge­nen Wahr­neh­mung und der per­sön­li­chen Wer­te frei­ge­legt — ein Pro­zess, der nie­mals ab­ge­schlos­sen ist und uns im­mer wie­der da­zu auf­for­dert, die Din­ge an­ders und kla­rer zu se­hen.

So könn­te man sa­gen, dass Witt­gen­stein im So­kra­ti­schen Stu­dio als ein Kom­men­ta­tor im Hin­ter­grund wirkt: Er gibt kei­ne Ant­wor­ten, son­dern for­dert da­zu auf, un­se­re ei­ge­nen Fra­gen ge­nau­er zu stel­len — im­mer mit der Be­reit­schaft, die ei­ge­nen Auf­fas­sun­gen neu zu den­ken.