Eine Kommentierung zur philosophischen Provokation „Du lebst falsch!“ von Wilhelm Reichart.
Mit dem kleinen Büchlein schickt sich jemand an, sich einmischen zu wollen — was auf ein wenig Erwiderungslust des hier Kommentierenden stößt, der sich nun durchaus provoziert fühlt, zu einigen Sätzen des Autors, mithin dem Text als solchem, ein paar Gedanken in Worte und also Sätze zu packen.
Wer die Philosophie an die Universität verbannt, verkennt ihren Anspruch auf Allgemeingültigkeit.S. 25
Meine kontra-Akademik-Rede seit langem. „Verbannt“ erscheint nun allerdings etwas schwierig, denn ich denke nicht, dass es die nicht-Akademiker·n sind (hier nun auch jene akademisch graduierten, die nicht an einer Universität als Forschende und/oder Lehrende arbeiten, gemeint), die die Philosophie an die Uni verbannen und so aus dem Alltagsleben ausschließen. Ich denke eher, dass die Akademie im Großen und Ganzen dazu tendiert, eine Kultur des Philosophischen nur für sich zu zelebrieren, so dann das Philosophische an Instituten einsperrt, auch um sich einer Wissenschaftlichkeit zu rühmen und sich mithin als autoritäre „Mutter aller Wissenschaften“ zu gerieren, ihre Autorität als relevante Größe in lebenspraktischer Hinsicht dabei preisgebend. Wer sich da ’raus wagt (wie ein Peter Bieri, beispielsweise, vielleicht auch ein Richard Rorty), muss damit rechnen, von seines- wie ihresgleichen nicht mehr ernst genommen zu werden. Ausgenommen sind da wohl jene Berufsphilosoph·n, die sich neben der akademischen Tätigkeit in die Niederungen der (mehr oder weniger populären) Publizistik begeben: Hier ist Neid auf Beachtungserfolg bei den weniger öffentlich Agierenden dann wohl nicht ausgeschlossen. (Der Kommentator beruft sich bei dieser These darauf, dass Mutmaßen ja wohl nicht verboten ist.) Von ökonomischem Erfolg, wie ihn ein Wilhelm Schmid wohl realisieren konnte, ganz zu schweigen. Gut, es gibt auch Vertreter und ‑innen wie einen R. D. Precht, beispielsweise, der sich, mit meinen Augen beschaut, vor allem damit auszeichnet, sich prächtig darstellen zu können (was nichts über dargestellte Inhalte sagt). Dennoch sind auch solche Repräsentanten ‚gemeiner‘ – in diesem Sinne: politischer, alltäglicher – Kultur des Philosophischen Möglichkeiten für einen beliebigen Menschen, das Philosophische in sein oder ihr Leben zu lassen und dieser wie diese es so wagen könnte, sich seine und ihre Art und Weise davon zu kultivieren.
Sie interpretieren die Forderung, auf Wohlstand zu verzichten, als Attacke auf ihr Selbstbestimmungsrecht.S. 38
Das lese ich als Kernpunkt des Textes heraus, der Konnex von Wohlstand und Selbstbestimmungsrecht. Ein Versuch der Übersetzung vor psychologischem Hintergrundrauschen: Der Wohlstand wird als ein, vielleicht gar das, Symptom der Selbstwirksamkeit verstanden. Mehr soll dazu hier nicht platziert werden. Wo der Text recht hat, hat er einfach recht. Da gibt’s nicht mehr zu kommentieren, außer man will Textzeilen füllen, damit ein Absatz nicht gar so dünn daherkommt.
Doch die von den politischen Gegnern regelmäßig aufgestellte Behauptung, radikaler Umweltschutz sei ideologisierend, entkommt in ihrem Automatismus nur schwer dem Verdacht, selbst ideologisierend zu sein.S. 41
Hier vermerkt der Text in der Tat ein Zeitphänomen, welches nun allerdings wohl zu allen Zeiten gilt: Je komplexer die Lage, je unbestimmter die Zukunft, umso mehr haben Ideologien, ganz allgemein, Hochkonjunktur. Ob nun eine Ideologie der/des Rechten, der/des Linken, der Mitte, des Kapitals, des Sozialen, des Glaubens, der Macht, der Demokratie, des Autoritarismus, des Denkens, des Handelns, der Individualität, der Rationalität, …, das ist letztlich völlig beliebig. Ideologien verschaffen Gründe in einem vagen, nebulösen Umfeld, so, dass man sich auf festem Boden glaubt und sich also orientiert fühlt, zumindest in der Vertikalen: Wer Grund hat, kann aufrecht stehen. Und dass diese kultürlichen Gründe dann als natürliche Ursachen interpretiert werden, kann dann mit dem Punkt auf S. 38 relationiert werden. Und auch der Punkt auf S. 25 ist hier angesprochen: Gerade die akademische Kultur des Philosophischen ist doch oftmals sehr darin bemüht, Gründe wie Ursachen zu behandeln und so zu Vorhersagen zu kommen, oder nicht? Wozu sonst sollte man Wissen schaffen, wenn nicht um in die Zukunft zu schauen und die dort hausende Unbestimmtheit zu reduzieren und/oder universelle ethische Wahrheiten zu produzieren à la Gravitation oder »der bestirnte Himmel« über einem (was ja letztlich Verhalten von Individuen vorhersagbarer macht; also das Universelle, nicht die Gravitation oder die Sterne …)? Es ist eine sehr zu kritisierende Anmaßung modernen, aufgeklärten, Denkens, der Natur „Gesetze“ geben zu wollen. Natürlich rhythmisierende Regelmäßigkeiten sind es, die wir Takt-Menschen beobachten können und so sollten sie dann auch benannt werden. Statt das Wort „Gesetz“ ins Spiel zu bringen, was ein willkürlicher Akt, eine kultürlich gesetzte, vereinbarte, Regelmäßigkeit darstellt … der Gedanke muss hier jetzt versickern, ich schweifte ab, sorry …
Der Zweck von Informationswissen besteht darin, probate Mittel zu Erhalt und Steigerung der menschlichen Lebenstüchtigkeit bereit zu stellen. […] Reflexionswissen ist eher im geisteswissenschaftlichen Bereich angesiedelt und führt aufgrund seiner begrenzten pragmatischen Anwendbarkeit zunehmend eine Randexistenz.S. 49
Hier wird, „walk in my shoes“, etwas miteinander in Beziehung gebracht, verglichen, was indes wohl nicht so recht passen möchte. Das vom »Informationswissen« („Faktenwissen“) unterschiedene »Reflexionswissen« ist doch, recht eigentlich, kein Wissen — von daher wird da versucht, in bildliche Sprache gesetzt, nicht einen Apfel mit einer Birne, sondern einen Apfel mit einem Stein in Beziehung zu setzen. Kann gemacht werden, doch so recht stimmig wird das dann nicht. Reflexion kann kein Wissen verschaffen, wohl indes eine Meinung, die es dann zu prüfen gilt, inwieweit sie Wirklichkeit repräsentieren kann oder eine ‚eigengemeine‘ und/oder allgemeine wünschenswerte Wirklichkeit {er-|ver-}schaffen kann. Und eine Meinung ist nichts anderes, so sei es hier reflektiert, als ein ‚Henkel‘ zur Wirklichkeit. Ein Instrument, um sich zur Wirklichkeit verhalten zu können, in eine Relation mit ihr zu treten, auf sie bezogen zu sein. Ob die Meinung „wahr“ ist oder nicht – in diesem Sinne: rational – spielt hierbei letztlich keine Rolle, denn es geht zunächst um irgendeine Art der Handhabbarkeit, »Zuhandenheit«, sozusagen. Wer in der Welt agieren will, hat sich mit ihr in ein Verhältnis zu setzen. Und steht Mensch Phänomenen wie dem Klimawandel, Kriegen und sonstigen – luxeriösen oder existenziellen — Krisen gegenüber, neigt er dazu, dieser sich durch Faktenwissen, „Wahrheit“, zu ermächtigen, um diese kontrollieren zu können. Doch mit zunehmender Komplexität werden die so der Wirklichkeit abringbaren Wahrheiten für ein Individuum stetig dünner und immer mehr Menschen sind mehr und mehr auf Meinung angewiesen, um nicht völlig tatenlos zusehen zu müssen, was passiert, so in eine Resignation zu fallen und sich als Opfer zu inszenieren. Der Ausweg aus einer Komplexitätsinflation durch die Etablierung einer Expertokratie, in der nur Wissen zählt und Meinung sich gänzlich erübrigt hat, bedient wohl eine Sklavenmoral des Menschen im Allgemeinen und eine falsch verstandene Herrenmoral einiger weniger Wissenden.
Wie auch immer.S. 53
Der Text, der in toto wohl nach einer neuen Gesellschaftstheorie ruft, um nicht zu sagen: sie fordert – deren Grundzüge sich für mich aus dem Text nicht griffig ergaben, von Forderungen nach Beschränkung und Verzicht abgesehen, doch das ist ja nun nicht theoretisch, sondern höchst praktisch –, hinterlässt beim Kommentator am Ende den Eindruck der Resignation und es bleibt dem Text nur noch der – nun etwas mager erscheinende, Verzweiflung kundtuende – Aufruf zur Provokation. Doch Provokationen haben meinem Erachten nach die Welt noch nie verändert, eher schaffen sie Widerstand und sorgen so für eine Erhärtung des Bestehenden (Lemma: Ideologie), was als Veränderung wahrgenommen werden kann. Die Kunst einer lehrenden, bildenden, Kultur des Philosophischen sollte darin bestehen, von der lustvoll-autoritären Provokation zur verschmitzt-edifikativen Evokation zu reifen: In Menschen den Gedanken evozieren zu lassen, statt ihn direkt provozieren zu wollen, dass am eigenen Leben durchaus etwas verändert werden kann. Und man auch dazu frei ist und ganz nebenher, idealiter: unbewusst, die Bedingungen des eigenen naturellen wie kulturellen Habitats auch für alle anderen verbessern kann. Man könnte vielleicht sagen: Die Welt reparieren kann, ohne sie verbessern zu wollen. Worin dann ein überraschender Gewinn liegt! Ironie der Freiheit, sozusagen: Natürliche, selbstverständliche Selbstwirksamkeit, die als solche überhaupt nicht mehr ins Bewusstsein zu treten braucht — man muss sich seiner Wirklichkeit nicht vergewissern, weil man nicht an ihr zu zweifeln braucht. Womit die Verzweiflung verschwindet und nicht einer bestimmten Hoffnung, einem anvisierten Ideal – entstanden aus tradierten Überzeugungen –, dafür indes der Fähigkeit zur Identifikation und Realisierung einer unter vielen anderen noch unbestimmten Möglichkeiten für eine andere Wirklichkeit hier und jetzt Faktizitätspotential verschafft — um nicht zu sagen: sich dazu überreden lässt.
Damit genug der Kommentierung, es gäbe noch einiges zu zeigen, es sei nun damit bewendet, ist schon umfangreich genug. Wem Analytik liegt und sich von provokanten, vielleicht verstörenden, Verzichtsforderungen nicht abschrecken lässt, für jene könnte sich die Lektüre lohnen. Anderen Interessierten sei sie anempfohlen, um sich zur Übung verleiten zu lassen, eigene Meinung zu evozieren, ohne sie gleich als Wissen zu deklarieren, sondern sie im Dialog dazu reifen zu lassen oder als Windei zu entlarven. Trifft dann womöglich nicht ganz die Intention des Textes, doch man könnte diskutable Punkte finden, womit ja schon viel gewonnen ist, nicht wahr? Und vielleicht, nachdem man sich der im Text dargebotenen »Problematik einer evolutionären Weltsicht« gewidmet hat, für sich die Frage beantworten, inwieweit die Provokation tatsächlich eine philosophische ist — und nicht vielmehr eine soziologisch-politische.
Reichart, Wilhelm:
Du lebst falsch!
Eine philosophische Provokation.
Books on Demand, 2023.
56 S., Taschenbuch, 7,90€;
e‑Book 5,99€.
Wer die Verbannung der Philosophie an die Universität verantwortet, ob die nicht-akademischen Philosophen, die universitären Philosophen oder gar das System Universität, steht vorerst nicht zur Debatte. Entscheidend ist die Falschheit des Vorgangs. Indes, vielleicht ist dieser Vorgang auch nur einer von vielen möglichen. Sollte Reflexion ihres Anspruchs auf Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit verlustig gehen und… Weiterlesen »
Danke für diese Rezension, die ich zu ganz großen Teilen nach Lektüre des von Wilhelm Reichart dankenswerterweise auch mir überlassenen Buches unterschreiben kann, wenngleich ich mich hie und da anders zum Ausdruck gebracht hätte. Mir scheint, dass das „Freiwillige“ im verantwortungsbewussten Handeln, vielleicht gar das „Spielerische“ gerade für die Generation Z (ff.) vorzuziehen ist, um… Weiterlesen »