Spalten, um zu beherrschen, als anthropologisches Prinzip.
Es liegt wohl in der Natur des Menschen, zu spalten. Seine Erfindung „Gott“ spaltet ein Ganzes in Tag und Nacht. Für den Menschen gibt es rechts und links. Und Computer, Menschenzeug, arbeiten nach dem Prinzip „Entweder ‚1‘ oder ‚0‘“. Schließlich – doch dafür können wir nichts, oder doch? – gibt’s Männchen und Weibchen.
Spaltung, so kann gemeint werden, schafft, wenn nicht Ordnung, so doch mindestens Orientierung und vor allen Dingen: Die Möglichkeit zum Verhältnis. Denn wo kämen wir hin, wenn wir nicht dual wären, im Prinzip, unser Denken, zumindest? Wir würden uns wohl in einem Kontinuum eben nicht wieder finden können. Wir würden wohl, unser Geist, zerfließen, wären ganz und gar das Ganze.
Wir wollen spalten, so ist wohl die Natur unseres Bewusstseins. Deshalb spalten sich Gesellschaften und der Mensch die Atome. Wir brechen ständig auf, brechen alles auseinander, um es begreifen zu können. Unser Geist ist zu schwach, um als Ganzes sein zu können. Und so brechen wir auch die Natur, nur um sie zu begreifen, und letztlich will das: (be)herrschen. „divide and conquer“, „dividiere und bezwinge“ ist ein anthropologisches Prinzip, so scheint es auf.
Viele gehen nun eben davon aus, so sei eben die Natur des Menschen und selbiger ist ja Teil der Natur als Ganzem. Dass der Planet, unser Habitat, dabei zu Bruch geht: so what? Wir können ja (in) neue Welten aufbrechen, neue Habitate schaffen, Nischen (er)finden, klaffende Brüche, in denen wir existieren können. Der Mensch ist nun mal ein durch Zerstörung erschaffendes – die Zerstörung ausnutzendes, ausbeutendes – Wesen, was will man machen?
Schon scheint die Gegenseite auf: Zusammen! Zusammen! Doch das heilt die Wunden nicht, die der Mensch reißt. Das, was wohl helfen kann, die Aufbruchswut zu bändigen, ist die Unterlassung. Freilich erfahren wir uns dann als verloren in einem Ganzen. Weil uns der Mut fehlt, im Ganzen zu sein, das Ganze zu sein, auch wenn wir nicht damit rechnen können. Wir müssten uns dann hingeben, hätten keine Kontrolle mehr, wären Getriebene und nicht Treibende (oder, Wortspiel: eben doch, gerade dann?), wären Tiere, nicht Menschen. Gleichwohl: Denkende. Würde der Mensch sein Tiersein mehr wagen, das ‚Schwimmen‘, wir hätten wohl weder Klimawandel noch Pandemie (vielleicht allerdings auch: noch nicht). Doch der Mensch: Ein Tier, das denkt und fühlt, dabei vage; und kein Geschöpf seiner selbst, das rechnet und aufbricht, dabei eindeutig? Undenkbar!
Eher: Unberechenbar, deshalb zu verwerfen. Manchmal auch: zu zerstören.
Die Gesellschaften, in denen wir leben, existieren, die wir schaffen, werden nicht gespalten. Sie waren es immer schon. In Krisenzeiten wird die Spaltung, diese Organisation der Gesellschaft als Ganzes, sichtbarer, spürbarer. Überwinden können wir sie nicht: wir wären orientierungslos, wüssten nicht mehr wer hierarchisch oben und wer unten, wer politisch rechts und wer links, welche wissenschaftlich und technisch vorne und hinten sind.
Und auch nicht, wer wir waren und wer wir sein möchten. Gegenwart, Vergegenwärtigung: Der Spaltpilz in der Zeit.
So tun wir uns auch schwer in und mit indiskreten Kontinua, aus dem Scheinen von Wahrem geboren, zu denken, in der unabzählbare Qualität waltet und nicht das Quantum, sondern wollen mit distinkten Werten rechnen. Mit Zahlen spalten wir das Ganze auf, quantifizieren es, um es zu begreifen. Wenn dabei nur nicht immer dieser vermaledeite, sich jeder Berechenbarkeit widersetzende Rest bliebe. Pi, 3,14…: unfassbar. Mithin ist der Umfang eines Kreises, die Grenze eines Landes, die Fläche des Planeten nicht exakt berechenbar. Es bleibt eine Ungenauigkeit übrig. Ein unbestimmbarer Rest, wir können nur näherungsweise rechnen. Prinzipiell, freilich. Um die Umlaufbahn des Mondes zu berechnen und vorhersagen zu können, wann er wo sein wird um auf ihm zu landen, dafür ist’s genau genug. Das Universum scheint groß genug dafür zu sein, der Fehler mithin lässlich. Unauffällig.
Und so, um diesen Rest doch noch fassbar, dingfest, zu bekommen, spalten wir munter weiter. Denn irgendwann, so sagt’s uns unsere Logik, muss der Rest ja mal 0 sein. Verschwunden. Das Ganze vollkommen aufgelöst, vollständig erklärt; also aufgeklärt, der Fall „Sein“ gelöst. Und mithin die letzte metaphysische, gar: mystische, Bastion verschwunden. Ja, wo isses denn nu hin, datt Janze? Hat es es jemals gegeben?
Hält der unaufklärbare Rest, nennen wir es mal: das Romantische, am Ende die Welt zusammen, bewahrt sie vor dem Verfall? Ist das Unlogische, das Irrationale, das, was die »Welt im Innersten zusammenhält«? Das Intuitive der Leim in der diskursiv zerstückelten Welt?
Wer Fortschritt will, braucht einen Plan. Wer einen Plan haben will, braucht Quantitäten, die eine Ratio (hier ist das nicht nur ein Anglizismus!) bilden können. Und wer einen Plan hat, ist orientiert. Und orientiert zu sein ist für den Menschen wichtig: dann sieht er die Welt in Begreiflichkeiten vor sich, sie ist für ihn begreifbar und kein Fluidum, welches ihm zwischen den Fingern zerrinnt, unfassbar, unhaltbar. In dem er schwimmt und sich manchmal mühsam, manchmal leicht, an der Oberfläche hält, weil er das Versinken fürchtet. Dann kann er Antworten geben auf die Fragen, die ihn so bewegen. Manche Exemplare zumindest, meist die jüngeren: Wo bin ich? Wo gehe ich hin? Wer bin ich? Was will ich?
Doch weggehen, fortschreiten, heißt: es verfällt etwas, wird nicht mehr zusammengehalten, ist aufgebrochen worden. Das Romantische scheint gegen diesen Verfall (der Sitten, des Früher,…) etwas zu haben. Es will auf der ungebrochenen Scholle verharren, sie bewahren vor ihrer Vergänglichkeit. „Oh Augenblick, verweile doch!«
Doch ebenso lässt dieser Fortschritt, schauen wir doch in die Welt!, die Erstarrung unseres Geistes fortschreiten. Der Fluss kommt zum Erliegen. Das Fluidum zwischen den Bruchstücken verschwindet. Der Rest ist 0, die Welt als ein Ganzes berechenbar, vorhersagbar, vollkommen erklärbar. Das Vorher und das Nachher zur Gänze aufgeklärt. Tot.
Nun ist gegen Fortschritt freilich nichts einzuwenden und es liegt ja nun eben wohl auch in der Natur des Menschen. Die Frage nur: Wie vor der Erstarrung, der Kristallisation, schützen? Wie im Fluss bleiben, damit auch weiterhin gelten kann: »panta rhei«? Wie die Welt nicht als Dividuum begreifen, begreifbar machen, also als ein erstarrtes, auseinandergebrochenes, kristallisiertes Etwas? Wie die Lebendigkeit am Leben, im Fluss, halten — und dennoch fortschreiten? Wie im Ganzen tauchen?
Nun, der Augenschein legt es nah: In-Dividuum! Das Unteilbare, Unspaltbare, der vermaledeite Rest! Das, was mit nichts identisch ist, sich nicht teilen lässt. Das Dazwischen, das alles zusammenhält, ein Metaxy. Die Welt wird, solange es mindestens ein In-Dividuum gibt, nicht als Ganzes berechenbar sein, mögen es auch nur zwei Teile sein! Freiheit! Unfassbar(keit)!
Der Mensch braucht, offenbar, ein Zwischen-sein, ein „inter esse“. Es ist die Lebenswelt, die er sich mit seiner Kraft zur Spaltung geschaffen hat. Er kann anders nicht überleben.
Wirklich? Nun: Er wüsste nur nichts über seine Existenz logisch auszusagen, gleichwohl mehr von ihr sinnvoll zu erzählen. Oder auch, die Worte Verstand und Vernunft ins Spiel gebracht: Er würde weniger verstehen wollen und so womöglich mehr vernehmen können.