Was kann bleiben nach Corona?
Und von dieser Grundmauer könnte man beinahe sagen,
sie werde vom ganzen Haus getragen.
Ludwig Wittgenstein
Es sind bewegte und für manche bestimmt auch bewegende Zeiten. Ich zähle mich da durchaus zu den Letzteren mit dazu, aus rein individuellen und letztlich persönlichen Gründen. Ich ziehe für mich ein zufriedenstellendes Fazit: Soweit ich das zu diesem Zeitpunkt überblicken kann, hat mir die Ausnahmesituation, in der sich Landau – mein Wohnort in der Pfalz – und der Rest der Welt befindet, durchaus etwas gebracht. Ahh, das ist jetzt zu gewagt und eitel. Umgekehrt: Die Welt und damit auch Landau.
Und so liegt eine Folgerung nahe, die bestimmt der Eine oder die Andere auch als Gedanken in sich vorgefunden hat: Dass
ganz sicher nichts mehr so sein wird, wie es vorher war
Nun, ich selbst bin solchen Weltveränderungsemphasen – stillschweigend ist ja bereits vorausgesetzt, dass es besser wird – überhaupt gar nicht abgeneigt. Ich bin mir jedoch ehrlich gesagt nicht so ganz sicher, ob es im Danach dieses Momentes wirklich anders sein wird. Ich kann mir mit gleicher Eindringlichkeit vorstellen, dass wir ganz rasch wieder in unsere alten, gewohnten Muster fallen und alles so weitergeht, wie es vorher war. Der ‚Impact‘, der Impuls des Moments sich also verflüchtigt, ohne nachhaltige Wirkung. Vielleicht bleibt bei einigen Wenigen ein anderes Bewusstsein. Doch bis ein solches Bewusstsein sich in der Gesellschaft ausgerollt hat, werden wohl Jahrzehnte, vielleicht gar Jahrhunderte, vergehen. Und bis dahin ist das Potential, das sich uns da derzeit offenbart, wahrscheinlich schon wieder vergessen. Die Euphorie war beim Ende der deutschen Teilung auch enorm. Doch, ich bin aufrichtig: Wo sind sie denn, die blühenden Landschaften? Nach dreißig Jahren ist in vielen Köpfen doch immer noch „Ost“ und „West“, mit mehr oder weniger eindeutigen Konnotationen.
Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und vom Gewohnten nur schwer abzubringen. Ja, man könnte da etwas Evolutionäres dahinter vermuten, eine „Macht der Gewohnheit“, eben — auch dort wird es eine helle und eine dunkle Seite geben. Der Seitenblick ins »Star Wars«-Universum sei hier erlaubt.
Will sich nun, ich wende mich mal der hellen, lichten Seite zu, nachhaltig etwas ändern, also neue Gewohnheiten entstehen, wird das, so denke ich, viel mit der Fähigkeit zur Offenheit, mit der Fähigkeit zum nicht-Wissen-können, mit der Bereitschaft zur Unschärfe und Unbestimmbarkeit zu tun haben (müssen?). Erst wenn Mensch mutiger geworden ist und sich „blank“, also (ganz?) ohne technische Hintertürchen, (wieder?) auf das Unbestimmbare einlassen kann, den Mut zum Selbstvertrauen (wieder?) wagt, könnte sich eine Veränderung einstellen, ein anderes Bewusstsein in der Gesellschaft ausrollen — und nicht nur von einigen Wenigen wirkungslos gepflegt werden; eher so im Sinne der Konservierung für die nächste Gelegenheit, bei der es dann bestimmt endlich klappt mit der längst überfälligen Revolution.
Einen Wandel in der Gesellschaft – und welcher vernünftige Mensch will ihn nicht, angesichts des Wandels des Klimas – wird, folge ich meinem Gedanken weiter, wohl erst eintreten können, wenn „Sicherheit“ nicht mehr „von außen zugekauft“ wird, z.B. durch technischen Fortschritt, oder „von innen konstruiert“ wird, z.B. durch verschärfte Überwachung. Und wohl erst recht nicht durch eine Kombination von beidem.
Sondern in einem weiten Sinne aus einem Selbstvertrauen entsteht, welches sich aus der aktuellen besonderen Situation generiert und vielleicht aus jeder außergewöhnlichen Situation geboren werden sollte, geboren werden kann. Was dann wohl einer Regeneration gleichkäme. Einer Regeneration von Selbstverständlichkeiten, Gewohnheiten. Und freilich meint das Wort „Regeneration“ nicht eine Wiederherstellung des Althergebrachten. Es will eher verstanden werden als Generator für ein Novum. Das „Re“ will sich also auf das aus „Renovierung“, der Erneuerung, beziehen. Das „Regeneration“ hat sich in den Gedanken eingeschlichen, den ich hier ausrollen lasse, weil es so gut zum Wort „Generator“ passt. Und der Ausnahmezustand, den wir erleben, nehme zumindest ich auch als Generator wahr.
Ja, diese Situation erzeugt in mir ein anderes Denken, ein anderes Weltverständnis, ein anderes Selbstverständnis. Es ist ungewohnt. Ich erlebe mich anders. Doch ich übe mich in Offenheit. Und bemerke dabei ein Wiedererwachen von etwas, das ich erst jetzt bemerke, dass es mir abhanden gekommen war, obgleich ich fest daran glaubte, über es zu verfügen: Vertrauen.
Was ich für Vertrauen hielt und woran ich gewöhnt war, war Sicherheit. In gewissem Sinne: nicht-Vertrauen. Und ich merke, dass ich mich daran, an die eigentliche Antwort auf Unsicherheit, erst wieder gewöhnen muss.
Muss? Nicht wirklich. Kann. Ja, das ist es. Ich kann. Sowohl vom Vermögen her als auch von der Möglichkeit aus. Ob es die Gesellschaft als ganzes, die Landauer, die Rheinland-Pfälzische, die Deutsche, die Europäische, die Weltgesellschaft kann, weiß ich nicht. Doch da ist es eben, ich kann es nicht übersehen: Vertrauen. Aus dem ein Zutrauen erwächst. Ja, ich traue es den Menschen, ich wage mal ein großes Wort: der Menschheit, zu, dass sie es wagen, sich vom Kopf auf die Füße zu stellen und dabei etwas noch nie Dagewesenes geboren wird.
Ob es etwas nützen wird, dieses Zutrauen? Wer wagt, gewinnt, heißt es ja so schön. Wäre dann mal ein ganz anderes Kapital, das sich da aufbauen kann. Und dieser Aufbau könnte womöglich schon in ein, zwei Jahren beginnen und für Jede/n deutlich spürbar werden.
Oder ist uns da ein Kapital doch nur schlicht in Vergessenheit geraten? Dann passt die Regeneration freilich doch.