Über Archipele und Architekten, über Anarchie und Archäologie. Über das Erste.
Viele reden in diesen Zeiten von einer neuen Normalität, die kommen wird. Doch ist denn Normalität nicht ständig einem Wandel unterworfen? Ist das Aufkommen einer sogenannt neuen, letztlich nicht nur der Wandel der einen Normalität in eine andere Form und damit völlig normal? Wie auch wir, wenn wir in den Spiegel schauen, zwar stets den selben, doch nie den gleichen Menschen sehen. Manche Normalitätsflüsse sind sehr langsam, einem Mount Everest sieht man die stete Veränderung nicht so an wie einer Kirschblüte in ihrem Werden und Vergehen — dieses Vergehen, das ein Werden ist. Und dann gibt es rasend schnelle Normalitätswechsel. Börse, Hochfrequenzhandel: In Bruchteilen einer Sekunde sind völlig andere Bedingungen möglich, unter denen gekauft und verkauft, gehandelt wird. Andere Normalitäten, eben.
Wir wollen Ordnung in der Welt, sie soll für uns in Ordnung sein. So dass wir orientiert sind, wissen wo wir stehen, zuallererst. Planen können wo’s hingehen soll in nachgeordneter Rangfolge. Oder auch umgekehrt. Doch wenn wir nicht wissen wo wir stehen, wissen wir auch nicht wie wir zum Ziel kommen können. Und Hierarchien geben uns eine Ordnung im Kosmos. Ja, mehr noch: Mit Hierarchien bauen wir überhaupt unseren Kosmos, unsere Ordnung. Bringen Welt in eine Ordnung. Geben ihr Struktur. Machen sie uns handzahm oder eben zuhanden, wie das Martin Heidegger wohl gesagt hätte. Machen sie uns Untertan, wie es wohl die Bibel befiehlt.
Gerne geben wir dieser Struktur dann auch eine Ordnung im Sinne einer Reihenfolge. Wer ist zuerst, wer steht zuoberst? Was ist wichtig, was ist unwichtig? Wer ist wichtig, wer nicht? Menschenfreundlicher formuliert, Wichtigkeit allen zuschreibend: Wer ist wichtiger als Andere?
Im Moment ist der Boss, das Wichtigste in unserem Leben, über den gesamten Globus hinweg, das massenhafte Auftreten eines Virus, der jedem und jeder von den Unsrigen etwas bescheren kann. Eine Infektion, die keinen oder den Effekt einer Krankheit haben kann, die wohl in der deutlichen Mehrheit der Fälle mit schwachen bis mäßigen Symptomen einhergeht. Doch die auch mit dem Tod enden kann, wenn bestimmte Bedingungen im Wirt erfüllt sind, womöglich auch um die Wirtin herum. Ist das virale Geschehen der Boss?
Scheint nicht eher der Tod wieder ein Meister in Deutschland zu sein? Der Prinzipal. Der Chef. Der Vorstandsvorsitzende. Der, der bestimmt wo’s langgeht. Dem Tod kommt biblische Gottesmacht zu, könnte man fast sagen. In gewisser Weise unterwirft er uns seinem Willen, der da geschieht, ob wir es wollen oder nicht. Bremsen können wir diese göttliche Macht. Doch sterben müssen wir alle. Da ist kein Verhandlungsspielraum.
Das macht die Frage nach der Hoffnung auf, denn so betrachtet ist das sich zeigende Bild doch ein recht verzweifeltes. Nun können wir freilich hingehen und durch geschickte Multiplikation das Vorzeichen der Verzweiflung umkehren: Aus der Apokalypse wird das Paradies, Archipel der Wonne. Doch das ist typisch für ein Denken, wie wir es mit mit einem Wortgebilde wie „Entweder-Oder-Diktatur“ beschreiben können. Die Welt, wie sie ist, geht unter oder wird zur Allerbesten aller bestmöglichen Welten. Ein Dazwischen gibt es nicht. Die Katastrophe kommt und dann springt der Zustand der Welt von Unbestimmt auf Apokalypse und von Apokalypse auf Paradies. Oder gleich auf Paradies, ohne Apokalypse. Ist ja auch lästig, so eine Apokalypse. Diese Entschleierung, wenn das Wort nur übersetzt wird. Dann lieber gleich neben den Göttern, para diés, weilen. Nur dort sind solche Wortspielereien möglich.
Das Verschwinden der Welt, wie wir sie kennen, ihr Untergang, ist ein völlig normaler Vorgang in der Welt, den wir tagtäglich beobachten können. Die Sonne geht auf, das Paradies ist da, die Sonne geht unter und mit ihr die Welt, wie wir sie kannten. Am Freitag verschwindet eine ganze Woche in einem Abgrund aus purem Nichts und ein strahlendes Wochenende steht in Aussicht. Bis Montag, wo die Apokalypse wieder ihr Werk verrichtet und ein Paradies oder auch eine ganz normale Welt in Stücke reißt. Oder auch nicht. Es kommt ja immer d’rauf an, doch das Prinzip steht. Am Anfang des Frühjahrs erfreuen wir uns an den aufgehenden Blüten, die zu Beginn des Sommers schon wieder verschwunden sind. Und wenn im Herbst die letzten Früchte vom Baum gefallen sind, ist die Welt für eine Zeit eine vollkommen andere, es herrscht die Normalität des Winters.
Und wir geben diesem alltäglichen Wandel eine Hierarchie. Für die Einen steht der Frühling an erster Stelle, für die Anderen ist es der Winter, der das ganze Jahr bestimmt. Für Bauern ist es bestimmt der Herbst und für die Sonnenhungrigen mag es wohl mehrheitlich der Sommer sein.
Doch neben dieser hierarchischen Weise, in der die Ordnung eine Rangordnung ist, sehe ich noch eine andere Möglichkeit, einen Kosmos zu bauen. Ich nenne sie „Heterarchie“. Und diese Heterarchie, sie hat viel mit Hoffnung zu tun. Nein, nicht mit jener Hoffnung, die ein „Alles wird gut“ zur Pflicht macht. Es ist ein Verständnis von Hoffnung, die die Erwartung, die das Hoffen repräsentiert, auf Offenheit stellt. Wortbildlich gestaltet: Eine Verständigkeit, vielleicht kann auch gesagt werden: eine Vernunft, die das „H“ im Hoffen raubt, verschluckt. Es verunmöglicht das paradiesische „Alles ist gut“ in keiner Weise, macht es jedoch eben nicht zur verzweifelten Pflicht. Es ist eine Hoffnung der Wahlmöglichkeit. Der Alternativenfülle. Der Freiheit.
In Heterarchie steht das Anderssein, Fremdsein, Ungleich sein, Verschieden sein, kulminieren wir es im Nomen „das Fremde“, an erster Stelle. Nein, so kann das gar nicht gesagt werden. Denn in Heterarchie gibt es kein Erstes oder Letztes mehr, denn in der Grundidee ist Heterarchie eine Hierarchie mit der Losgröße 1, Erstes und Letztes fallen in Eins. Natürlich bleibt das ‚ICH‘, das Ego, auch hier, um dieses kommen wir doch eh’ nicht herum, ohne Erstes geht es nicht. Doch in Heterarchie ist dieses ‚ich‘ stets im Anblick von Anderem, zu denen auch Andere gehören. Es ist ein Selbst. Der König oder die Königin hat nur genau einen Untertanen, sich selbst. Das Prinzip der Rangordnung, der Macht und Mächtigkeit bleibt erhalten, denn der Untertan hat seine Obrigkeit, daran ändert sich gar nichts. Nur der Bezugsrahmen, der Wirksamkeitsraum der Macht, der ist, nun ja, unwesentlich kleiner. Man ist sich in Heterarchie sozusagen selbst Herr wie Knecht. Das ist freilich ein Paradies. Denkt Jede/r nur an eine/n Andere/n, ist an alle gedacht. Doch jedes Paradies braucht seine apokalyptischen Reiter oder leck’ren Äpfel, sonst ist es nur eine stinknormale, langweilige Welt, eine öde Ordnung ohne die Spannung der Differenz. Ohne die Bewirtschaftung der Apokalypse ist der Verkauf eines Paradieses quasi unmöglich. Man könnte das auch Langeweilekultivierung nennen.
In diesem Gedankenspiel gibt es keine apokalyptischen Reiter, sondern nur etwas, das ohne Lob und Tadel ist: Das Fremde. Eben nicht der oder die Fremde, nein: das Fremde. Dem Fremden wird Achtung gewährt, weil es uns zu entschleiern vermag und kein Gewicht oder eine Mächtigkeit zugeschrieben, weil es uns beherrschen könnte. Die Macht des Fremden ist, dass es mit uns etwas machen kann, weil wir damit etwas machen können. Uns verändern. Die Normalität ins Fließen bringen. Das ist das Prinzip des Fremden.
In Heterarchie lebend, leben wir nicht unter einem Joch des Fremden. Wir leben mit dem Fremden. In Heterarchie ist uns das Fremdsein vertraut. Es bedarf gar keiner Rangordnung, weil keine Furcht vor dem Fremden existiert. Das Fremde ist ein Gast, dem wir mit Freundlichkeit begegnen. Wir folgen der Maxime der Gastfreundschaft. Was in keiner Weise meint, der Gast sei König und könne tun und lassen, was er oder sie möchte. Wir legen dem Gast keine Welt zu Füßen, stellen ihn auf keinen Sockel, erheben ihn nicht, genauso wenig wie wir ihn erniedrigen. Wir erwarten von unserem Gast, dass er/sie sich an die Regeln hält. Denn es ist unser Haus, in dem er weilt. Und in diesem Haus gelten unsere Regeln. Begibt man sich als Gast in Heterarchie, so weiß man sich als Gast zu benehmen. Meint man in Heterarchie die oder der Oberste sein zu wollen oder zu können, als Gast oder Gastgeber/in, nun, so wird man alsbald zu spüren bekommen, das Gastfreundschaft nehmend wie gebend seine Grenzen hat. Eingehegt ist. In gute Sitten.
Wenn die Virendinger das nur wissen könnten! Doch es sind eben Dinger, diese Viren, und keine Lebewesen. Krieg gegen Steine führen? Wozu? Sie fürchten? Weshalb? Mit den Steinen umgehen. Häuser damit bauen. Auch wenn’s beim Bau tödliche Unfälle geben kann. Das Leben ist eine Baustelle. Und das es auf einer Baustelle heute anders aussieht als gestern und morgen anders als heute, das ist normal. Das Bauarbeiter/innen kommen und gehen, die einen unauffällig, die anderen mit großem tragischem oder komischem Drama, ist normal. Eine Baustelle, die jeden Tag eine andere Normalität hat, wo das Normale fließt und nicht erstarrt ist, das ist völlig normal. Kein Mensch stört sich daran, ja: wir erwarten das sogar. Und selbst die Statik eines Hauses ist dem Wandel der Zeit unterworfen. Freilich hoffen wir hier auf eine lange Dauer, einem langsamen Fluss der Normalität. Wir wollen ja lange darin wohnen. Bevor es in sich zusammenfällt. Wenn es überhaupt je fertig ist. Und nicht am anderen Ende wieder angefangen wird, wenn der eine Anfang gerade fertig geworden ist.
Aber, Ach!, wir leben nach wie vor hierarchisch, rufen nach den Architekt_innen, die uns sagen, wie das Haus gebaut werden soll und werden das wohl auch weiterhin tun. Weil wir das Fremde fürchten, das keinen-Plan-haben, das nicht-Wissen-können; so sind wir nun mal, die einen mehr, die anderen weniger. Doch es wird wohl
Jedem und Jeder mulmig, die oder der in stockdunkler Nacht auf dieser gigantischen Baustelle steht, mit all den Gruben und Stolpermöglichkeiten, den rostigen Nägeln und wackeligen Baustofftürmen. Und das nur mit einer Fackel ausgestattet, die einen kleinen Umkreis fahl ausleuchtet und einer inneren Stimme lauschend, die da sagt: „Geh! Weiter!“ Sonst: Stille. Da wird dann gerne eine fremde Macht, eine über-Macht, zur Chefin der Baustelle gemacht und ihr zugeschrieben, einen Plan zu haben. Freilich nur bis zum nächsten Morgen. Und dann wieder mit der nächsten Nacht.
Das Fremde ist doch: Das Unbekannte. Das Unbestimmte. Auch bis hin zum Unbestimmbaren?
Nein. Dann stünde ein Konzept ‚Gott‘ an erster Stelle. Etwas, das die Unbestimmbarkeit in ein Bestimmtes wandelt, welches uns dann überhaupt nicht fremd ist. Heterarchie ist keine Monarchie oder Anarchie. Es ist eine Art Archeologie. Nein, kein Schreibfehler.
Und die Viren? Uralte Dinger, mit denen wir umzugehen haben. Auch wenn es uns befremden mag.
Archeologie !=! Trademark Volker Homann!