Ein Versuch, die Verschwörungstheorie-Bewirtschaftung zu verstehen. Über Angst und ihre Gesichter. Über Mut.
Auch ich spüre ein deutliches Unbehagen und möchte nichts über Todesraten und Reproduktionszahlen wissen, sondern Zahlen, mit denen ich das Risiko selbst einschätzen kann. Ich möchte relative Zahlen. Irgendein Maßstab, der angelegt wird. Ich möchte nicht, das Corona zum Maßstab gemacht wird. Absolutismus hat noch nie zu etwas Gutem geführt. Außer zur Aufklärung, natürlich.
Letztlich ist es die Angst, die sich da unbehaglich meldet, mit der ich umzugehen habe, mit der ich ein Verhältnis eingehen sollte. Doch ich bemerke, wie ich immer wieder ins Gefühl des Misstrauens falle. Haben die Vernünftigen die Unvernünftigen wirklich im Griff? Wie viele sind das eigentlich, die zusammenfassend mal als Aluhut-Fraktion bezeichnet sein mögen und wozu Reichsbürger:innen, rechte wie linke Extremist:innen, Antisemit:innen und was da noch so kreucht und fleucht an harmlosen und sehr viel weniger harmlosen ‚Freiheitskämpfer:innen‘, zu zählen sind? Im heute-journal vom letzten Freitag, glaube ich, sehe ich einen minutenlangen Bericht, Interviews mit fragwürdigen Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrierenden etc. und auch dem Anschein nach nicht fragwürdigen, doch trügt da gar der Schein? Und ich frage mich: Sind die doch derart systemrelevant, dass denen in einem TV-Leitmedium eine derartige Präsenz zugestanden wird? Sind das am Ende viel mehr als die von mir vermuteten 20% Depp:innen, gegen die ich allergisch bin, doch mit denen man nun mal zu leben hat wie mit den für manche mehr als lästigen Pollen? Oder, schlimmere Albphantasie: werden das immer mehr, weil aus dieser Ecke Klarheit suggeriert wird? Weil die derzeit Verantwortlichen nicht das Rückgrat haben klar zu stellen, dass die Situation vollkommen unübersichtlich ist, man aber aus dem Titanic-Desaster etwas gelernt hat und nun deshalb mit 1⁄132 Kraft sich vortastet durch dieses Eisbergfeld, in das dieses Land, ja: die Welt, hineingeraten ist? Wo wird in benannten Leitmedien über die von mir vermuteten 80% Vernünftiger berichtet, die sehr wohl ein Gefühl und Gespür für die Lage haben und eben einfach nur Aufrichtigkeit, Transparenz und Offenheit einfordern, ohne Polit- und/oder Medien-Spielchen, um orientiert sein zu können, und der Ansicht sind, dass das eine Bringschuld ist und nicht in speziellen Medien erst erforscht werden muss? Um ihr und das Risiko für andere realistisch einschätzen zu können? Um die Adäquatheit der Maßnahmen einschätzen zu können? Also so, wie ich das am Beginn des Schlamassels beobachten konnte und dann eben von Vertrauen schreiben konnte? Gibt es diese Vernünftigen vielleicht gar nicht? Bin ich der einzige meiner Art? Hat sich die Welt gegen mich verschworen? Vielleicht doch besser Aluhut? …
Jetzt schreibe ich über Misstrauen. Das kann mir nicht gefallen, überhaupt nicht, doch es muss doch wohl gesagt sein dürfen, das Misstrauen wie Furcht ein Ausdruck von Angst ist. Die Aluhut-Fraktion also Angstbürger sind und das ein gesellschaftliches Feld ist, das eben gerne von skrupellosen Machtfanatiker:innen bewirtschaftet wird, die damit auch nur ihrer Angst ein Gesicht geben, wie ich allzu gern vermuten mag. Angstbürger:innen, die sich eine Achtung verschaffen wollen, auch und vielleicht gerade sich selbst gegenüber, weil sie es in diesem System aus welchen Gründen auch immer nicht geschafft haben, eine solche aus kleinen und großen Erfolgen, Leistungen, insbesondere wirtschaftlichen, zu erlangen? Kann das sein? Für erfolgreiche „Systemkonforme“ ist das nicht nachvollziehbar. Und jetzt, mit Corona, wegen der Maßnahmen, steigt wohl die Anzahl derer, die im System nicht mehr erfolgreich sein können, an. Das könnte einer der Motoren sein, die einen Sog erzeugen: Die Befürchtung, den Selbstwert, der in Leistung gründet, zu verlieren. Da wächst sie dann, die Blockwart-Mentalität: Jeder bekommt einen Job! Im neuen Staat gibt es unendlich viele höchstwichtige Positionen zu besetzen, dünken mich die Funktionär:innen wie Funktionierenden der Faschismus-Industrie an.
Kaum ein/e Politiker/in wird mir zustimmen können, wenn ich sage: lasst uns doch über Angst reden statt über Aluhüte. Lasst uns doch lernen, mit Angst besser umgehen zu können. Corona ist da ein heftiges Lernlabor, sicher, doch vielleicht macht das schlicht nur darauf aufmerksam, was in der Vergangenheit seit Helmut Kohl verabsäumt wurde. Stabile politische Verhältnisse mit jahrzehntelang gleichem Gesicht an der obersten Spitze der Exekutive mag Sicherheit vermitteln — doch das lullt die Angst nur ein; wir haben womöglich verlernt, mit ihr umzugehen. Wir haben uns in Sicherheit gewogen und damit letztlich ein Stück Freiheit verloren.
Angst ist nicht unser Feind, den wir besiegen müssten. Sie kann unsere beste Freundin sein. Im Grunde ist sie ja so etwas wie ein Kriminaldauerdienst, ständig aufmerksam, wo Unbill lauern mag. Die, die uns präventiv agieren lässt. Wenn wir wollen, in jeder Situation. Und welcher Situation kann nicht auch etwas Gefährliches abgewonnen werden? Es ist ja letztlich eine Frage des Blickwinkels. Außer im Paradies, natürlich.
Aber wie das nun mal mit besten Freunden so läuft: Über die reden wir viel zu wenig, sie haben so etwas Selbstverständliches. Dafür echauffieren wir uns umso mehr über jene, die wir nicht als Freunde haben wollen. Und das macht sie größer, als sie sind. Bis sie zu Feinden geworden sind. Und als solche immer größer werden.
Mutig ist, wer über die Gesichter der Angst reden kann, sich nicht scheut, ihr Antlitz zu schauen. Sei’s das des Furcht-Monsters oder das des Misstrauens-Albs oder in welchen sonstigen gruseligen Gestalten sie daherkommen mag. Und ist in einer Krise nicht Mut der bessere Ratgeber? Ist es nicht die Angst, die uns vor Übermut schützt und unser Sorgen um und für andere vor Leichtsinnigkeit, ‚Untermut‘?
Doch Mut hat seine individuellen Grenzen. Deshalb ist es freilich angezeigt, mit den Gesichtern der Angst nur mit je gesunder Dosis zu hantieren. Und wenn uns Angst vor Übermut und Sorge um Untermut schützt, dann ist es vielleicht die rechte Mischung von Angst und Sorge, die den Mut wachsen lässt, ohne dass er wuchert.
Die Angst ist die Wurzel aller Politik, soll Aristoteles in seiner Rhetorik angemerkt haben1⇣Jens Soentgen: Klima: Was heißt nun politisches Handeln?, in: DIE ZEIT № 21, 14. Mai 2020, S. 47.. Ohne in dieses Werk nun blicken zu können (Schande im Bücherschrank, gewiss; und auch das Internet bietet nichts brauchbares) will mir das doch meinen wollen, dass es die Angst ist, die die Menschen sich hat zivilisieren lassen, zur Sorge geführt hat. Der Wunsch nach Kultur es ist, die den Mut zum Staat brachte. Denn ohne Kultur geht gar nichts. Gleichwohl könnte der Satz auch ausgelegt werden als Mahnung an die Politik: Angst nutzen, um nicht übermütig zu werden, Sorge – es könnte ein Gesicht der Lust sein, bereitet uns das Sorgen für andere doch im allgemeinen Freude –, um nicht leichtsinnig zu werden. Auch Politiker:innen dürfen Angst haben. Ja, sie sollten das sogar. Und sie sollten auch darüber reden können um so zu zeigen, dass sie nicht stärker als ihre Angst, aber vertrauter mit den Gesichtern der Angst sind als es einem Normalbürger (w/d/m) abzuverlangen nötig wäre. Und dass sie deshalb gewählt wurden. Und nicht, um mächtig zu sein. Die Macht liegt im Volk.
Solches vernahm ich am Anfang der auch „Corona-Krise“ genannten Zäsur. Viele Vertreter:innen der Politik wirkten auf mich merkwürdig menschlich nah. Wirklich vertrauenserweckend, als für mich zu spüren war, dass auch ihnen, den Vollprofis (w/d/m), offenbar die Muffe ging. Doch sie zeigten eben Mut, d. i. Lust mit dem Gesicht der Besonnenheit. Einige besser als andere, doch das tut dem Ganzen keinen Abbruch. Ich spürte die Macht, das Vermögen sich von Ängsten, also den Gesichtern der Angst, nicht ins Bockshorn jagen zu lassen. Und jetzt, die gröbsten Wellen haben sich geglättet, beginnt auch in der Politik wieder der Alltag Einkehr zu halten. Mit einer anderen, neuen Normalität, wie es ja jetzt lautstark heißt. Doch an der Mentalität scheint sich, fürchte ich, nicht oder noch nicht wirklich etwas geändert zu haben. Bald sind wieder Wahlen, 16 Monate nur noch, Machtansprüche müssen geltend gemacht werden. Ansprüche an das Bestimmen sollen, was in diesem Staat wie zu passieren hat. Das Regierungsmandat will erkämpft sein. Wahlkampf ist Krieg.
Und da kommt es dann, das Misstrauen, das, was mich irrational umtreibt, weil die Angst kein anderes Gesicht findet. Die Befürchtung der Ohnmächtigkeit der gewählten Volksvertreter:innen vor den Verlockungen der Macht. Vor einer Politik also, die alle Angst und Sorge, die alle Gesichter der Angst und Sorge vergessen machen will. Die Befürchtung eines Patriarchats oder ihrer mütterlichen Form, dem Matriarchat, das alle Sorge und Ängste vergessen machen will. „Wir kümmern uns d’rum! Versprochen! Vertrauen Sie mir!“ Beschränkung der Autonomie, auf Dauer gestellte Heteronomie. Die Fremdbestimmung soll mehr wiegen als die Selbstbestimmung. Hierarchie ist mächtiger als Heterarchie. Denn Hierarchie ist auch nur eine Form von Monotheismus.
Das nicht nur derzeit monströseste Gesicht meiner Angst ist häufig, dass dieses Land ungewollt und unbemerkt in einen Autoritarismus rutscht und sich vielen Gesellschaften angleicht. Und AfD und andere Führungshammel der Aluhut-Fraktion als Steigbügelhalter agieren. Alles ohne Absicht, es passiert einfach so, das ist das Unheimliche an diesem phobischen Gedankenbild. Persönlichkeiten wie ein Markus Söder sind in unklaren Lagen gewiss echtes Gold wert. Doch sie müssen auch zurücktreten können vom Krisenmanagement-Modus, damit keine ständige Lust auf die starke väterliche oder stille mütterliche Hand, die alles
zu regeln gewillt ist, hinterlassen wird. Und es sind eben die Bürger, die selbst ins Krisenmanagement eintreten sollen. Die Verantwortung übernehmen für die Gesichter ihrer Angst. Das kann und darf, vielleicht sogar: soll ihnen zugemutet und zugetraut werden. So gut ihnen das nur möglich ist. Hier ist es wahrlich der gute Wille, der zählt. Die ihre Freiheit wahrnehmen, vernünftig und mit ohne Aluhut. Und wenn selbst der Bundespräsident sich gemüßigt, um nicht zu sagen: genötigt sieht, etwas zu Aluhüten zu sagen2⇣https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-corona-107.html |18.5.2020 – 11:00 — wo leben wir? Wie wollen wir leben?
Deswegen ist mir nicht die Verwendung einer Mund- und Nasenbedeckung in bestimmten Situationen ein Menetekel, sondern die Pflicht, die da ausgerufen wurde. Denn ohne dass ich das will, fällt mir dabei sofort Hannah Arendts „Banalität des Bösen“ ein, hier freilich schlicht deshalb, weil die Maskentragerei letztlich eine Banalität ist. Irrational, ja. Doch so ist es nun mal, wenn die Angst ein Gesicht sucht, um sich ausdrücken zu können, fassbar zu werden, begreifbar. Denn zu einer Angst ohne Gesicht ist kein rationales Verhältnis möglich. Damit aus dem ganzen Virengedöns keine selbstverschuldete Unmündigkeit wird, dazu braucht unsere Angst Gesichter.
Alles übertriebene Panikmache, völlige Fehleinschätzung der Situation, angstgetriebene, misstrauensgenerierte Paranoia? Mag sein, man ist ja auch nur Mensch. Doch es gibt ja Viren in der Welt, und deren natürliche Vermehrungsdynamik kann ja zumindest für eine Analogie herhalten. Die Pandemie hat auch nur mit einem einzigen infizierten Menschen (w/d/m) begonnen, der von seiner Infektion vielleicht sogar gar nichts wusste, symptomfrei war, gar. Natur lässt sich nicht überlisten. Viren sind immer. Überall. Auch in den Köpfen.
Temperamentvoller Gedankenreichtum eines überbesorgten Bürgers mit lebhaftem Gemüt? Mag sein, Menschsein ist eine Mannigfaltigkeit. Vielleicht jedoch auch ein Plädoyer für die bürgerliche Mündigkeit. Denn die Bürgerschaft bürgt letztlich für diesen Staat — eine Folge des Art. 20, Abs. 2 GG3⇣https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html|18.5.2020 – 12:00. (Das ist die Stelle mit der Macht und dem Volk. Und nicht nur die ‚Widerständler‘ seien an Abs. 4 erinnert: Widerstand nur, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist. Aufklärung ist eine Abhilfe.)
Und zumindest ich möchte als Zeichen dieser Bürgschaft weder Aluhut noch Fremdenhass, in welcher Form auch immer, identifizieren müssen. Selbstachtung, die möchte ich als Zeichen der Bürgschaft wahrnehmen können. Und derzeit zeigt sich die in Abstand, Abstand, Abstand. Und Mund-Nasen-Bedeckung, wo es geboten ist, in vollen Läden, vollen U‑Bahnen, Bussen, Bahnen. Auf stark belebten offenen Plätzen, wo es Mühe macht, den Abstand zu wahren. Beim Umgang mit besonders gefährdeten Personen, nach Ermessen unserer aktuell gesicherten, als wahr begründbaren Meinung, unserem Wissen.
Ganz ohne Pflicht. Aus dem reinen Willen zur Vernunft. Aus der puren Lust auf Freiheit mit der Geschmacksrichtung Verantwortung. Mit dem Mut zum nicht-wissen-Können. Denn wir sind nicht vollkommen und kein Mensch kann das große, alles umfassende, alles regelnde, das 100% sichere Megakonzept, das alles erklärt und alles vorhersagbar macht, also den absolut übermächtigen Plan, die Weltformel, haben. Keine/r. Niemand. Allein schon gar nicht und auch nicht als Bund, geheim oder nicht. Deshalb kann auch Keine/r was davon wissen. Weil es einen solchen oder Teile eines solchen Layouts schlicht nicht gibt. Nicht geben kann, weil das hier keine Matrix ist. Mit einem solchen Design oder einer Teilstrategie eines solchen Ansinnens kann also leistungsunabhängige Selbstachtung und Mut zum nicht-wissen-Können nicht ersetzt werden.
Sorry; is’ blöd, is’ aber nun mal so. Gruß, auch an Nietzsche, Gott.
⇡1 | Jens Soentgen: Klima: Was heißt nun politisches Handeln?, in: DIE ZEIT № 21, 14. Mai 2020, S. 47. |
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⇡2 | https://www.tagesschau.de/inland/steinmeier-corona-107.html |18.5.2020 – 11:00 |
⇡3 | https://www.gesetze-im-internet.de/gg/art_20.html|18.5.2020 – 12:00 |