Oder: Was macht ein Argument zwanglos zwingend besser?
Alan Turing stellte sich 1950 die Frage, wie man wohl feststellen könnte, ob eine Maschine, vom Computer ist die Rede, ein dem Menschen gleichwertiges Denkvermögen habe und entwickelte den nach ihm benannten Test1⇣https://de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test. In Zeiten sog. künstlicher Intelligenz eine Frage, die wir uns vielleicht des öfteren stellen (sollten), wenn wir am Telefon ein Telekommunikationsproblem lösen wollen oder in einem Chat in einer Unterhaltung uns befinden.
Jürgen Habermas prägte die Rede vom »zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments«. Ohne nun mit diesem großen Denker hier argumentieren zu wollen, der bestimmt dargelegt hat, was aus seiner Sicht unter dieser Sentenz begriffen werden soll, frage ich mich für mich: was macht eigentlich ein Argument ‚besser‘? Und wo kommt die Zwanglosigkeit her?
Ist es also denn schon ausgemacht, dass bei einer Argumentation ein objektiv (wann genau ist etwas ‚objektiv‘?) besseres Argument wirkt — oder die Zustimmung, die Anerkennung eines Arguments als gut oder gar besser als das eigene, vom logischen Gehalt des Argumentes abhängt und nicht von ganz anderen Bedingungen? (Ob ein Argument mir ein schlechtes Gewissen bereitet, bspw.)
»Der zwanglose Zwang des besseren Arguments« ist keiner, der logisch begründbar wäre — zumindest für uns Menschen nicht. Wäre dem so, müssten wir alle den Argumenten einer logischen Maschine ohne wenn und aber folgen. Mithin wären wir dann wohl selbst solche Maschinen bzw. würden uns darauf reduzieren. Was wohl niemand gerne machen will bzw. mit sich machen lassen will. Oder?
Ist die Bewertung von Argumenten für uns Menschen nicht vielmehr von der Sinnhaftigkeit, weiter gefasst: der Sinnlichkeit, eines Argumentes abhängig? Stimmen wir denn nicht jenen Argumenten zu, die für uns je Sinn geben? (oder auch: einfach nur (persönlich) nützlich sind. Und „Nutzen“ kann ja durchaus als Sinngrund herangezogen werden.)
Es gibt bestimmt eine Vielzahl rationaler Argumente, die für ein Tempolimit auf Autobahnen sprechen oder für das generelle Tragen von Mund-Nasen-Schutz außerhalb der eigenen vier Wände. Doch wer wird solchen Argumenten zustimmen (können), sich also zwanglos zwingen lassen — davon ausgehend, dass wir alle rationale Wesen sind?
Wohl nur jene, denen die Vorstellung, alle würden auf der Autobahn mit max. 135km/h unterwegs sein oder alle würden außerhalb privater Bereiche einen MNS tragen, ein aus welchen Gründen auch immer ‚gutes Gefühl‘ beschert — was durchaus auch rationale, rein logische Gründe sein können.
Doch die Rationalität ist nicht das Entscheidende für die Zustimmung oder Ablehnung eines Argumentes, für das sich Zwingen lassen. Das Entscheidende ist die Befindlichkeit, in die uns ein Argument zu versetzen vermag. Weil es uns ein ‚gutes Gefühl‘ beschert sagen zu können: „Alle sollten max. 135 km/h auf der Autobahn fahren, weil dies weniger CO2 bedeutet und das gut ist für uns alle.“ oder „Alle sollten außerhalb der privaten Bereiche MNS tragen, weil das auf alle Fälle bedeutet, dass sich weniger Menschen anstecken.“. Wir befürworten solche Argumente nicht, weil wir meinen, sie seien logisch glasklar und also ohnehin nicht angreifbar. Das ist es nicht, was die Zwanglosigkeit ausmacht.
Nun, ja, klar, wer möchte nicht, völlig unabhängig vom institutionalisierten oder persönlichen Bildungsgrad ‚objektiv‘ wie ein Gott sein und so für immer davor geschützt sein, Argumenten zu folgen, die mit einer unserer oder gar allen unseren Logiken als falsch zu bewerten ist? Das ist doch ein verlockendes Gefühl, nichts mehr falsch machen zu können, keinen leeren Versprechungen mehr zu folgen, weil man diese als eben solche erkennen kann. Nicht mehr an der Nase herumgeführt zu werden, weil die Falschheit der Argumente des Anderen völlig klar durchschaut werden können? Ehrlich, Hand hoch, wer das nicht möchte!
Wer Argumenten folgt tut dies nicht – das Postulat, und mehr kann es nicht sein, sei wiederholt – weil ein Argument besser wäre als ein anderes, und das vielleicht sogar noch zwingend, je nach angewandter Logik. Argumenten wird gefolgt, weil sie einem ein ‚gutes Gefühl‘ geben. Da steckt die Zwanglosigkeit und macht ein Argument zwingend besser!
Selbst beim allergrößten Rationalisten (w/d/m) aller Zeiten, wer immer das war, ist oder sein wird, ist das so — wenn nicht, müsste ich davon ausgehen müssen, es nicht mit einem Menschen zu tun zu haben. Oder mit einem Menschen, der gerne eine Maschine sein möchte — beides sind für mich Vorstellungen, die mir überhaupt kein gutes Gefühl bescheren, eher ein mulmiges Unbehagen.
Doch mit welchem Argument sollte ich jemanden dazu bewegen können, sich nicht als Maschine zu denken und zu geben, wenn dies ihm doch ein ‚gutes Gefühl‘ gibt, aus welchen Gründen auch immer? Nur wenn ich diese Gründe erschüttern könnte, den mehr oder weniger tiefen Zweifel an der eigenen Überzeugung wecken könnte, besteht eine Möglichkeit, das dieser Mensch seine Position als nicht mehr so behaglich empfindet — und ändern will, zunächst einmal. (Lassen wir die Richtung dieser Änderung einmal außer Acht.)
Diese Erschütterung der eigenen Gründe ist es, was uns dazu bewegt, die Argumente der eigenen Position zu überdenken. Und so kann ein durchdachtes irrationales Argument mehr bewirken als ein durchgestyltes rationales. Wir sind nämlich nicht nur rationale Wesen. Wir sind vor allem empfindende Wesen. Die Ratio sollten wir dazu gebrauchen, um zum Mond zu fliegen. Nicht aber, um Argumente abzuwägen.
Und wenn wir das Für und Wider von Maßnahmen in Situationen abwägen, treffen wir unsere Entscheidung, finden wir unsere Meinung, nehmen wir unsere Haltung ein — nicht, weil irgendeine Logik uns dazu zwanglos zwingen würde. Wir schauen einfach nur, wo’s am wenigsten ‚wehtut‘. Dem folgen wir dann. Ganz zwanglos.
Allerdings ist es nun auch so, dass wir lernfähig sind. In dieser Rede übersetzt bedeutet dies, das wir schmerztoleranter werden können, mehr aushalten können, tougher werden, fitter. Ja, vielleicht sogar zur Einsicht kommen, das mancher ‚Schmerz‘ nur eingebildet war, einer Gewohnheit folgend und nie überdacht. Und dann auch Argumenten folgen können, die wir zuvor als Unmöglichkeit abgelehnt haben. Jedoch nicht, weil dieses Argument nun plötzlich rationaler wäre als zuvor. Oder wir klüger geworden wären.
Einfach nur, weil’s nicht mehr so ‚weh‘ tut. Das Weniger an Leid ist’s, was ein Argument zwanglos zwingend besser macht. Und da Maschinen nicht leiden können – was freilich auch für den Menschen eine allzumenschliche Verlockung ist, diese Vorstellung des nicht leiden könnens – können diese auch nicht einem Argument folgen, wenn es sich mit ihrer eingebauten Logik nicht erschließen oder folgern, also: errechnen, lässt. Und freilich hat das Ergebnis dieser Rechnung sowohl ‚wahr‘ zu sein als auch ‚gut‘. Völlig objektiv.
Vielleicht könnte man diesen Akt der Anpassung, diese Verringerung des Leides, einfach auch „Einsicht“ nennen?
Schauen wir doch einmal so auf die aktuellen Ereignisse in Berlin und ja, auch hier in Landau in der Pfalz. Sogenannte Rechtsextreme machen da auf sich aufmerksam und der gesunde Menschenverstand fragt sich: „Was treibt diese Leute an? Weshalb ergeben sie sich nicht den zwanglos zwingend besseren Argumenten einer rechtsstaatlichen Demokratie?“
Weil ihnen diese Argumente ‚weh‘ tun. Sie leiden darunter. Und stemmen sich dagegen, lehnen sich dagegen auf. Für sie, in dieser Betrachtung hier, ist das alles nur Weh und Ach. Auf der anderen Seite, einer nicht-rechtsextremen und deshalb noch nicht linksextremen, tun die Argumente Jener jedoch auch weh. Auch da wird sich gewehrt und dagegen gestemmt.
Wie soll da, bei soviel ‚Schmerz‘ auf allen Seiten, irgendein Argument noch zwanglos Zwingen können?
Die Technik der rechtsextremen Vertreter/innen ist doch recht klar: Sie versuchen die Gründe der Anderen zu erschüttern. Um so eben ihre Argumente zwanglos zwingend werden zu lassen. Letztlich geht es Ihnen wohl darum, weniger zu Leiden. Wer will ihnen das verübeln?
Wo aber nun kommt dieses Leid Jener denn her? Ja, man könnte sie fragen — doch empfinden sie sich denn überhaupt als leidend? Sind sie nicht schon in jener Stufe der Leidimmunisierung angekommen, wo die ideologische Überzeugung das Leid übertönt, betäubt, und das Leid auf Andere projiziert wird, den Fremden, dem Anderssein an sich und sich so vermeintlich des Leids entledigt wird? Doch sind denn diese Menschen nicht auch schon anders, schon allein deshalb, weil jeder Mensch anders ist als alle anderen? Leiden sie vielleicht im Grunde an ihrem Anderssein? Einem Anderssein, dass es ihnen nicht ermöglicht in dieser Gesellschaft Geltung zu erlangen? Einem Anderssein, das es ihnen nicht möglich macht, im „Mainstream“ mitzuschwimmen? Einem „Mainstream“ der vor allem auf Geltung aufbaut? In der nur Jene zählen, die Leistung erbringen können, zum Beispiel? Die mit der neuesten Technik zurande kommen? Die mit den Wendungen der Zeitläufte keine Mühen haben? Die nicht meinen ihre Würde zu verlieren, wenn sie nicht bedeutend sind?
Des Extremismus Gründe zu erschüttern könnte womöglich bedeuten, nicht jene mit besseren Argumenten überzeugen zu wollen. Sondern deren Leid zu sehen, deren tatsächliche oder nur individuelle empfundene Abgehängtheit vom „Mainstream“.
Vielleicht kommen sich diese Menschen einfach nur noch wie Maschinen vor, wie Mittel, deren Zweck nicht anerkannt wird. Die Tabubrüche und Angriffe gegen den demokratischen Rechtsstaat
erscheinen dann nur noch als deren Mittel: Sie vergelten Leid mit Leid und kommen so zur Geltung. Ihnen selbst kann das womöglich als Würde erscheinen.
Vielleicht rechnen diese Menschen einfach so. Und jene, die diese Abgehängten ausnutzen und eine ganz andere Rechnung im Kopf haben, jedoch vom gleichen Bild der Bedeutungslosigkeit motiviert sind, auch.
Mir scheint es nur wenig Sinn zu geben, einfach eine Gegenrechnung aufzumachen und sie gegenüber Jenen als die bessere hinzustellen. Doch ein Erdbeben in deren Gründe vermag ich auch nicht auszulösen. Und so stehe auch ich rat- und fassungslos vor und in den Ereignissen und kann nur auf eine Erschütterung warten.
Leider.
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