Ein Versuch, ein mögliches Missverständnis aufzuklären.
Der diesem Beitrag zugrundeliegende Text beschreibt einige Formen der Philosophischen Praxis und stellt sie in Bezug zur klinischen Praxis. Zunächst soll dieser zusammenfassend dargestellt werden, um danach einen kleinen Einblick in das Fundament der Arbeit in meiner Philosophischen Praxis darzulegen.
Der Artikel nennt drei Formen des Einsatzes der Philosophie im therapeutischen Umfeld. Zunächst wird Wilhelm Schmid angeführt mit seinem Konzept einer philosophischen Seelsorge, in der eine Hermeneutik der Existenz eine zentrale Rolle spielt. Das zweite vorgestellte Konzept ist das einer Klinischen Philosophie, wie es von Martin Poltrum entwickelt wurde. »Das metaphysische Bedürfnis des Menschen« ist hier die Grundidee dahinter. Aber auch Fragen der Ästhetik, der »‚Leistungskraft des Schönen‘«, ist ein Absatz gewidmet. Schließlich mündet diese Form des Philosophie-Einsatzes in ein Konzept, das aus der Positiven Psychologie bekannt ist und die positiven Seiten der menschlichen Existenz in den Blick nimmt.
Schließlich wird als drittes Konzept das der Philosophischen Praxis vorgestellt, wie sie von Gerd B. Achenbach in den 1980er Jahren in Deutschland ins Leben gerufen wurde. Zentraler Begriff seines Konzeptes ist die Lebenskönnerschaft, was vor allen Dingen ein »Aushaltenkönnen des Unverfügbaren« meint. Anders als bei den beiden Ansätzen oben, zielt diese philosophische Praxis also nicht auf Therapie oder Gesundung ab, sondern auf ein zurechtkommen können mit dem Leben, wie es ist — weil darin ein tieferer Sinn geborgen liegt. So wird Eike Brock mit »›Dann zeigt sich, dass die Schwermut einen Sinn hat; und dieser Sinn korreliert mit ihrer Schmerzhaftigkeit: Der Intensität des Schmerzes entspricht die Tiefe des Sinns. Und endlich wirkt der entdeckte bzw. begriffene Sinn wiederum als Balsam auf den Schmerz zurück‹« zitiert.
Es schließen sich kurze Abrisse weiterer Formen der Philosophischen Praxis an. Einleitend dazu wird Karl Jaspers angeführt und ein Hinweis darauf gesetzt, dass Grenzen auch immer etwas Verbindendes haben. Es wird, ohne eine Quelle zu nennen, postuliert, »Für Philosophische Praktiker ist Denken nämlich nicht nur ein Reflexionsorgan, sondern in erster Linie auch ein Wahrnehmungsorgan.« und sodann eine Analogie zur Haut als größtes Wahrnehmungsorgan genannt. Der Hinweis auf den Austausch an Grenzflächen, als Prinzip physiologischer Austauschprozesse, schließt den Absatz, der Medizin mit Philosophie verbindet, ab. (Es sei der Vollständigkeit halber dazu erwähnt, dass Karl Jaspers über die Psychiatrie zur Philosophie kam.)
Als eine Vertreterin dieser Form wird Petra von Morstein genannt. Für ihre Philosophische Praxis ist Verbundenheit die essentielle Basis: »›Ein menschliches Problem ist deshalb niemals nur das Problem des Anderen, sondern immer auch meines‹«. Die Autoren stellen fest: »Als kritische Philosophie ist sie[die Philosophische Praxis der Verbundenheit,V.H.] primär Widerstand gegen die Entfremdung« und Thomas Polednitschek wird mit »›Selbstentfremdung und Weltentfremdung entsprechen sich‹« zitiert. Die treibende Kraft dieser Weise Philosophischer Praxis ist also das »Wider die Selbst- und Weltentfremdung«.
Als weitere Referenz für eine Form Philosophischer Praxis wird, ohne Kolleg/innen zu nennen, der Soziologe Hartmut Rosa und sein Konzept der Resonanz angeführt. »Der p[!;V.H.]hilosophischen Praxis entspricht eine Medizin, die sich als hörende Medizin versteht, welche um die Bedeutung von Resonanzerfahrungen zwischen Patienten und Ärzten weiß.«
Im darauf folgenden Absatz werden die Potenziale Philosophischer Praxis erörtert. Zunächst wird auf die Fähigkeit des Menschen, sich mit dem Ganzen in Beziehung zu setzen hingewiesen und mit »Philosophische Praxis will kranken Menschen helfen, durch Gelassenheit Kraft zu schöpfen.« auf die Gemütsruhe verwiesen. (Eine Tugend der griechischen Stoa und auch im Buddhismus findet sich dieser Ansatz.) Insgesamt zeigt dieser Absatz für den Autor dieses Beitrages hier die Verbundenheit der so verstandenen Philosophischen Praxis mit der christlichen Religion auf und bezieht sich namentlich häufig auf den Philosophen, Theologen, Psychologen, Psychotherapeuten und Philosophischen Praktiker Thomas Polednitschek.
Zum Ende hin wird die Möglichkeit der Zusammenarbeit von Ärzten und Philosophen kurz mit einem Verweis auf ein mögliches Einsparpotential durch beschleunigte Rehabilitation und der Minderung von Behandlungsbarrieren dargelegt. Das praktische Beispiel im Umgang mit dem Adhärenzproblem (also dem nicht-Befolgen der ärztlichen Anweisungen durch den Patienten) und die abrundenden Bemerkungen »Leider sind bisher keine ausreichenden, evidenzbasierten Daten zu möglichen finanziellen Vor- und Nachteilen des philosophischen Praktizierens im stationären und ambulanten Bereich verfügbar, um das oben genannte Konzept der Philosophischen Praxis zu unterstützen.« und »Erfahrungen klinischer Praxis zeigen, dass Familien während des Krankenhausaufenthaltes am meisten vermisst haben, dass Ärzte und Krankenschwestern nicht genug Zeit hatten, um die Auswirkungen der Krankheit auf ihr Leben zu erklären.« zeigen abschließend auf, »dass Patienten und ihre Familien von dem philosophischen Ansatz profitieren können.«
Soweit der Blick auf den Beitrag »Philosophie als Therapie? – Perspektiven für die medizinische Versorgung« von Jürgen Mannemann und Jochen Ehrich in der »Zeitschrift für medizinische Ethik«, 65. Jg. 2019, Heft 2, S. 129 – 141 (Bezugsquellenlink siehe unten) aus meiner Perspektive.
Mein Ansatz – vielleicht ist eher von einer Gewichtung zu sprechen – der beruflichen Philosophischen Praxis aber auch der privaten philosophischen Praxis hat als archimedischen Punkt die Philosophie des Ludwig Wittgenstein. Nicht nur das philosophische Werk dieses Denkenden, sondern auch der Mensch in seinem Ringen und Denken um und über das Menschsein.
Eine hier relevante Bemerkung – es sei nochmals betont, dass ich bei Wittgenstein nur schwerlich Leben und Werk trennen kann – ist §255 in den Philosophischen Untersuchungen (PU) zu finden:
Der Philosoph behandelt eine Frage; wie eine Krankheit
Man könnte, etwas sehr überpointiert, sagen, dass sich hier wohl das wichtigste Semikolon der gesamten Philosophiegeschichte finden lässt. Denn es steht dort nicht: „Der Philosoph behandelt eine Frage wie eine Krankheit.“
Wir haben es also mit zwei Sätzen zu tun:
„Der Philosoph behandelt eine Frage.“
„Wie eine Krankheit.“
Es liegt nahe, den zweiten Satz zu einem vollständigen Satz zu erweitern:
„Wie ein Arzt eine Krankheit.“
Das Verb beider Sätze ist „behandeln“ und zu einem Satz zusammengefügt kann gelesen werden: „Der Philosoph behandelt eine Frage wie ein Arzt eine Krankheit behandelt.“
Schauen wir uns das Verb „behandelt“ näher an, und gehen zunächst vom Arzt aus. Behandelt ein Arzt oder eine Ärztin einen Patienten, so stehen ihm dafür diverse Methoden zur Verfügung, je nach Diagnose. Diese sind über die Jahre, Jahrzehnte, Jahrhunderte erprobt, modifiziert, adaptiert und spiegeln den aktuellen Stand medizinischen Wissens, zumindest sollte man davon ausgehen.
Gehen wir von einer kleinen Schnittwunde aus (was nun nicht unbedingt eine Krankheit genannt werden kann, doch zur Illustration soll es zulässig sein). Die Patientin wird durch die Ärztin z.B. wie folgt behandelt: säubern der Wunde; Insichtnahme auf tiefere Verletzungen; wenn solche, Überweisung an entsprechende Stelle; wenn nicht, Desinfizieren der Wunde; auftragen einer heilfördernden Salbe; verbinden der Wunde; positiver Satz zum Abschluss: „Das wird wieder. In zwei Tagen kann der Verband ab.“
Nun ist der Autor dieser Zeilen kein praktizierender Arzt, sondern praktizierender Philosoph, und so kann ich nur wünschen, diesen Algorithmus im wesentlichen korrekt wiedergegeben zu haben. Den Witz, wie ein Philosoph eine solche Wunde behandelt, spare ich mir, der Phantasie der Leserschaft sei da freien Lauf gelassen.
Viel entscheidender ist: Womit hat es ein/e Philosoph/in zu tun? Mit Wittgenstein mit einer Frage. Verstehen wir also nun, um in der eröffneten Analogie zu bleiben, eine Frage als Wunde. Wie sieht nun der Algorithmus der Behandlung aus?
Tja, „es kümmt darauf an…“ (Der aus dem Zusammenhang gerissene Verweis auf Karl Marx sei an dieser Stelle erlaubt.)
Ich kürze ab: Eine Frage ist keine Wunde. Eine Frage verstehe ich als eine Offenheit. Es ist etwas ungeklärt. Unklar. Fragen tun nicht weh und führen auch nicht zum Tode. Dennoch können sie ein Loch reißen in die Wohlgefügtheit unserer Selbstverständlichkeiten. Wie ein Schnitt in die Haut.
Die Behandlung einer Frage durch eine/n Philosophierende/n besteht für mich nun darin, die Unklarheit zu beseitigen. Wenn allerdings die Unklarheit beseitigt ist, was passiert dann mit der Frage? Ja, genau: Sie verschwindet. So schreibt Wittgenstein in §133 der PU:
Denn die Klarheit,
die wir anstreben, ist allerdings eine vollkommene. Aber das heißt nur, dass die philosophischen Probleme vollkommen verschwinden sollen.
Im gleichen Paragrafen findet sich auch dies:
Es gibt nicht eine Methode der Philosophie, wohl aber gibt es Methoden, gleichsam verschiedene Therapien.
Philosophen heilen nicht; sie begleiten beim Klären.
Das wäre als Credo meiner Philosophischen Praxis über die Eingangstür zu hängen, freilich gleich neben dem „Gnothi seauton“ (Erkenne Dich selbst), dem „Meden agan“ (Nichts im Übermaß) und dem „Ei“ (Du bist).
Heilen denn Ärzte? Oder ist es nicht vielmehr so, dass eine Ärztin sich darin übt, dem Körper eines Patienten ein inneres wie äußeres Umfeld bzw. Infeld zu schaffen, in und mit dem er sich erholen kann, eben: heilen kann? Therapie (im griechischen Ursprung des Wortes bedeutet es „Dienst, Pflege, Heilung“) will philosophisch vielleicht so verstanden werden, als es eben um Bedingungen geht, die zu verändern sind, um dem Körper die besten Möglichkeiten zur Genesung anzubieten, je nach Stand des Wissens. Für die Psychotherapie kann dieses Verständnis auch sinnvoll erscheinen: Nicht der Therapeut heilt, der Patient heilt sich. Die Therapeutin übt sich darin, für diesen Heilungsprozess die bestmöglichen Bedingungen zu schaffen.
Wie sieht es nun mit dem Therapie-Verständnis in meiner Philosophischen Praxis aus? Nun ist hier freilich ergänzend hinzuzusetzen, dass Wittgenstein von philosophischen Problemen spricht. Und so ist darauf zu achten, dass in einer Philosophischen Praxis ein Problem, eine Frage, zu einem philosophischen Problem, einer philosophischen Frage gemacht wird. Denn hier haben wir es eben nicht mit psychologischen, psychiatrischen, medizinischen, betriebswirtschaftlichen, theologischen… Problemen, also Fragen, zu tun, sondern wollen philosophische Probleme, also Fragen, erörtern: zum Verschwinden bringen.
Doch hier tut sich eine ganz große Frage auf, sozusagen eine unheilbare, klaffende Wunde: Was macht ein Problem philosophisch? Wie mache ich aus einem medizinischen Problem, greifen wir’s viel weiter: einem Lebensproblem, eine philosophische Frage? Wenn ich Fragen nach dem Lebensvollzug stelle, sind wir vielleicht viel näher an etwas wie Religion als an Philosophie – auch wenn die Frage des gelingenden Lebens bereits bei Sokrates eine philosophische war. Doch das waren andere Zeiten.
Wittgensteins Werk, soweit von mir rezipiert, gelesen und verstanden, ist ein Ringen um und mit der Klarheit. Immer wieder geht es darum, Klarheit zu schaffen. Und ich denke, aus meinem Zugang heraus, auch Wittgenstein selbst lag es an einer Klarheit sich selbst gegenüber, um ein anständiger Mensch sein zu können.
Und so kann ich sagen: Wie wir nur Freunde der Weisheit sein können, eben Phil-o-soph/innen, können wir auch nur Freunde der Klarheit sein. Phil-o-saph/innen (aus σαφήνεια, sapheneia: „Klarheit, Deutlichkeit“ [Pape 1880]). Ein/e solche/r übt sich in enargeia, «ἐν-άργεια, ἡ, Klarheit, Deutlichkeit, lebendige Darstellung von Etwas, so daß man es deutlich vor Augen zu sehen glaubt« [ebd.].
Diese Deutlichkeit, Klarheit hat auch in der Philosophie einen Fachwort: Evidenz.
Und diese Haltung mache ich mir zu eigen, wenn ich in meiner Philosophischen Praxis tätig bin. Ich heile nicht, denn ich glaube nicht, dass Philosophie heilen kann. Ich kläre nicht, denn ich glaube, dass Klarheit stets nur durch ein Subjekt in der Weise produziert werden kann und wird, wie es für eben dieses Individuum in jener Situation, diesem Sachverhalt, zuträglich ist.
Alles, was ich tue, worin ich mich übe, ist, dabei zu unterstützen, einen „Raum“, eine „Praxis“, ein „Labor“ zu eröffnen, in dem diese Klarheit zugegen sein darf. In dem ein Problem verschwunden sein darf. Und ein Blick darauf erhascht werden kann, was das wohl für das eigene und das Leben anderer bedeuten könnte.
Was es für einen Unterschied macht, ohne ein Problem zu sein. Ob es sinnvoll ist.