Karl Jaspers: Vom europäischen Geist. Über Achtung und Freundschaft.
Ein guter Freund hat mir die gedruckte Version – ein merkwürdiges Gefühl, ein Büchlein in der Hand zu halten, das 1947 in Nördlingen gedruckt und in München herausgegeben wurde; als hielte man Geschichte in den Händen – eines Vortrages von Karl Jaspers im Jahr 1946 zukommen lassen: »Vom europäischen Geist«. Ein gehaltvoller Text, den Jaspers da gesetzt hat. Sehr bedenkens- und mehrmaliger Lektüre wert, und seien es nur einzelne Kapitel. Da ist so manches zu lesen und das nun aus einer Perspektive, die die Annahmen, die dort gemacht wurden, prüfen kann. Sehr aufschlussreich, wie ich finde.
Vor dem ersten Weltkrieg galt die Gemeinschaft der europäischen Nationen, die Einheit Europas als selbstverständlich. Es erscheint uns wie eine paradiesische Zeit, als man ohne Paß aus Deutschland nach Rom fuhr und nur die Merkwürdigkeit feststellte, daß, wenn man nach St. Petersburg fahren wollte, man einen Paß brauche. (S. 5)
Diese Betrachtung hier beschäftigt sich nicht mit diesem Inhalt sondern gibt einen Gedanken wieder, der bei der Lektüre auftauchte, und beginnt mit einem „Allerdings“: Die große Hürde meines Zugangs zu Jaspers sind dessen Reden von Gott, sein für mich etwas sehr undurchsichtiges Verhältnis zum Christentum, und seine Idee vom „liebenden Kampf“. Es mag ein spannungsreiches Oxymoron sein, gut gemeint, dem Menschen in Summa gerecht werdend. Doch mir gefällt es nicht; ich denke: Wie kann man Krieg in einen solchen Euphemismus setzen? Ist das nicht etwas naiv? Oder, in Anbetracht der Jahreszahl des Druckwerks: Ausdruck einer Verzweiflung? Ein Versuch das Gute im und des Menschen retten zu wollen, und das im Angesicht der physischen wie psychischen Trümmerhaufen?
Statt eines Gottes — womit ich einen höheren Willen impliziert sehe — verlangt mir nach etwas wie „heilige Offenheit“. Statt „liebenden Kampf“ möchte ich so etwas wie ein „wohlwollendes, verbindendes Spiel“ sehen. Und statt der „Liebe“ – ein von Jaspers auch gerne gebrauchtes Wort, wie mich dünkt – schließlich, jener so schrecklich überladenen Begrifflichkeit, die eben deshalb nicht mehr zu verstehen ist und in seiner Vieldeutigkeit nichtssagend wird, wäre mir die Rede von „achtender Freundschaft“ wünschenswert. Was ein Pleonasmus wäre, der da dem Oxymoron entgegengestellt wird.
Deren dialektisches Gegenstück mitnichten die „verachtende Feindschaft“ ist, sondern hier mir eine „gleichgültige Zugewandtheit“ erstrebenswert scheint und unter Menschen – man kann ja nicht alle mögen und von allen gemocht werden – wohl unausweichlich. Ein Mensch, der nicht geachtet wird, wird so nicht verachtet, wenn er nicht beachtet wird. Er soll, aus guten persönlichen und privaten Gründen wünschenswert, halt nur für’s eigene Dasein keine Rolle spielen.
Zuweilen ein sehr schwierig zu realisierender Anspruch.
Verachtung und Feindschaft sind dagegen simpel, die Liebe allerdings halte ich da für verlogen.
Der Anspruch der Freiheit ist daher, nicht aus Willkür, nicht aus blindem Gehorsam, nicht aus äußerem Zwang zu handeln, sondern aus eigener Vergewisserung, aus Einsicht. Daher der Anspruch, selbst zu erfahren, gegenwärtig zu verwirklichen, aus eigenem Ursprung zu wollen durch Suchen des Ankers im Ursprung aller Dinge. (S. 10)
Wer sich dem Selbstsein (ganz unironisch sei schon hier, dem nächsten Zitat vorgreifend, darauf hingewiesen, dass in „Kommunikation“ „Unikat“ steckt) verweigert (also: seinem Leiden und dessen Überwindung, d. i. Existenz), und so (es hieße, sich seiner Existenz berauben zu müssen) das Leiden vernichten will (z. B. durch Preisgabe des individuellen Selbst in eine Herde Unselbst(ändiger)iger, Unmündiger, angeführt von einem irrealen, ideologischen, kollektischen, übergriffig alles vereinnahmen wollenden „Überselbst“, das alle Schuld für’s je eigene Leiden auf all jene Anderen lädt, die sich einer solcher Ideologie nicht unterstellen wollen, ihr nicht dienen wollen, die, die sich der Versklavung durch eitle Dummheit widersetzen), kann von meiner Seite her nichts Besseres erwarten als mürrische Indifferenz, im Schlechtesten entnervte Abgewandtheit. Das Übel nur: Diese Gesten werden von jenen – für mich letztlich: eben auch, nicht nur, selbstverschuldet Elenden, Miserablen – nicht verstanden. Denn, oh ihr blinden Queren, ihr verblendeten Verschwörungsgläubigen und alle deren Anverwandte, also all ihr Frömmelnden, gleich welchen Glaubens: Ihr schafft euch selbst die Welt, die ihr nicht wollt. Die ihr verachtet. Doch ihr seid offenbar derart damit beschäftigt, euer persönliches Leiden zu vernichten, dass ihr den Blick auf jene, die euch benutzen für ihre eigene Vernichtung ihres persönlichen Leides, mit einer rosaroten Brille verklärt, zu Wissenden erhebt und so blind in euer selbst geschaffenes Unglück lauft. Freilich berauscht vom Morphium des Glücksgefühls, nun endlich was zu gelten in dieser Welt, Bescheid zu wissen, beachtet zu werden, wenn auch nur verachtend. Der Kater wird furchtbar, ihr werdet es wohl selbst in Erfahrung bringen — wollen.
Weil der Mensch nur frei sein kann, wenn seine Mitmenschen frei sind, muß er die sich isolierende, kommunikationslose Freiheit verwerfen. Überall, und auch in Europa, gab es das Ausbrechen der einzelnen als Eremiten, Philosophen, Heilige, die, von der Welt nicht mehr betroffen, eine hohe, bewunderungswürdige persönliche Souveränität errangen. Aber konkrete Freiheit erwächst nur im Miteinander als Verwandlung des Menschen mit seiner Welt. (S. 14)
Doch wie gesagt: Anspruchsvoll. Stets lockt der einfache Weg der Verachtung. Dies letztlich die Spiegelung dessen, was mir da – womöglich aus nachvollziehbaren Gründen und dennoch nicht akzeptabel und tolerierbar – entgegengebracht wird von solcherlei mir unerwünschten Charakteren: die „dunkle Seite der Macht“.
Der philosophisch ernste Europäer steht heute vor der Entscheidung zwischen entgegengesetzten philosophischen Möglichkeiten. Will er in die Beschränkung fixierter Wahrheit, der am Ende nur zu gehorchen ist — oder will er in die grenzenlos offene Wahrheit? (S. 30)