Ausgeglichenheit als lebhafte Ruhestifterin.
Wer kennt sie nicht, die Kampfkunst Aikido (jap.: 合気道)? Wohl eher: viele. Andere Dinge mit „-do“ am Ende (nein, es ist kein Englisch und steht nicht für „tun“ … obgleich…) sind da geläufiger: Judo, zum Beispiel. Allerdings wird es sich im Großen und Ganzen damit auch schon erschöpft haben.
Das „-do“ stammt hier aus dem Japanischen und bedeutet „Weg“. Freilich ist nicht die Autobahn A5 gemeint, sondern „Weg“ meint hier eine Metapher. „道“, „DO“ in der sog. KUN-Lesung, so gibt das Kanji-Lexikon1⇣https://mpi-lingweb.shh.mpg.de/kanji/ — die im Japanischen verwendeten Schriftzeichen chinesischen Ursprungs werden Kanji genannt. zur Auskunft, meint:
(Präf. Hokkaido) | Gelehrsamkeit, Kunst | Methode | religiöse Lehre | sprechen | Straße | Taoismus | Weg der Tugend
Wenden wir uns noch kurz den beiden anderen Kanji zu und bedienen uns derselben Quelle zur Klärung der Bedeutung von „気“, KI:
Absicht | Atem | Atmosphäre, Luft | Aufmerksamkeit, Sorge | Bewusstsein, Geist, Seele | Charakter, Natur, Temperament | Gefühl, Stimmung
und schließlich „合“, AI: Hier schweigt sich das Lexikon zunächst aus. Nun schreibt hier kein Experte der japanischen Sprache, überhaupt nicht, so sei also auf das im Lexikon zu findende „a(u) あ(う)“ verwiesen mit den Bedeutungen
harmonieren, übereinstimmen | richtig gehen, stimmen | sich vereinigen
Der Text hier will keinen Unterricht im Japanischen erteilen, sondern sich um eine Interpretation der Zeichen bemühen. Das Triple ist ja vieldeutig und mithin klärungsbedürftig. Wobei vorneweg zu sagen ist: eine Interpretation — gewiss nicht die. Kann es eine solche geben? Wie auch immer, die Ausführungen hier verwerfen die gängige Interpretation nicht.
Das erste Anzeichen, worum es im Aikido gehen kann, ist bereits die Aussprache. Denn würde statt Aikido Aiki-Do geschrieben werden, würde sich schon anzeigen, um was es bei dieser Kampfkunst geht: Um Harmonie. Um Energie. Und die Kombination von beidem (er)gibt dann einen Weg.
Schon geht es los mit der Interpretation, zumal, wenn man des Japanischen eben nicht mächtig ist und sich dann so seine Gedanken um das irgendwie ominöse Triple macht. Womöglich wäre den Japaner/innen solche Überlegungen, wie sie hier angestellt werden, vollkommen fremd: schon Ludwig Wittgenstein meinte ja, die Bedeutung eines Wortes bestimme sich meist aus seinem Gebrauch2⇣Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, §43.. Ein solcher Satz eines Sprachphilosophen will freilich auf alle Sprachen anwendbar sein, soll es Philosophie sein.
Betrachten wir also das alles hier einmal als ein Spiel. Ein Spiel, das kein Wissen vermitteln will oder etwas lehren, sondern ein Spiel, das die Welt weiter machen will.
Zurück zur Interpretation: Ai und KI geben ein DO, einen Weg. (Und nein, hier ist weder von ‚artificial intelligence‘ noch von ‚künstlicher Intelligenz‘ die Rede, der menschliche Geist (gibt es eigentlich noch einen anderen?) reicht vollkommen, um dem Spiel zu folgen.) Das KI wird gerne mit „Energie“ übertragen, doch schauen wir uns die Übersetzung oben an, gibt das Kanji das eigentlich gar nicht her. Allerdings klingt es so schön ‚fremd‘, geheimnisvoll, klandestin und umgibt das Ganze mit einen Hauch des Esoterischen, der überhaupt nicht nötig ist, um dem, na: einem möglichen Prinzip, neben anderen, einer Auslegung des Aikido näher zu kommen.
Ich möchte KI hier einmal mit „Wesen“ übertragen. Und anders, als es zunächst anmuten mag, spreche ich hier damit ein substantiviertes Verb aus. Ein Verb? Ja, wirklich, dieses Verb „wesen“ gibt es, der Duden kennt sich da ja aus:
[als lebende Kraft] vorhanden sein
Auch sei ein Blick auf die Herkunft geworfen, um die Ähnlichkeit, Verwandtschaft mit den Bedeutungen des „気“, KI, an- und auszudeuten:
mittelhochdeutsch wesen, althochdeutsch wesan = sein; sich aufhalten; dauern; geschehen, ursprünglich = verweilen, wohnen
Schon schwindet die ominöse „Energie“, dieser Begriff, unter dem sich wohl jeder etwas vorstellen kann, und wohl keiner nun sagen kann, was genau es denn sei, substantiell, essentiell. Üben wir uns also auch hier im etymologischen Spiel; das Wort Energie stammt aus dem Altgriechischen:
enérgeia (ἐνέργεια) ‘Wirksamkeit, wirkende Kraft’, zum Adjektiv griech. energḗs (ἐνεργής) ‘wirkend, kräftig’, einer Bildung zu griech. érgon (ἔργον) ‘Werk, Sache’
So gibt das »Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache« (DWDS) Auskunft. Schon bandelt die Energie mit dem Wesen an: schließlich geschieht da etwas, da, wo Energie sich aufhält, „wohnt“. Und wem nun die Verbindung zur Wirksamkeit fehlt, möge daran denken: auch „wesen“ ist ein Tun, wie rechnen, sprechen, schreiben, Kartoffeln schälen, Feuerholz schleppen und Wasser tragen. Fließende, also in Bewegung gekommene, Kraft. Verwirklichtes Potential.
Wenden wir uns dem „合“ zu, Ai, a(u), wie auch immer. Wie beim KI die Energie, taucht für das Ai die „Harmonie“ im Repertoire der Übertragungen auf. Auch dieses Wort stammt seiner Herkunft nach aus dem Griechischen:
‘Wohlklang, Übereinstimmung, innere Geschlossenheit, Ebenmaß’. Lat. harmonia, aus griech. harmonía (ἁρμονία) ‘Verbindung, Bund, passendes Verhältnis, Übereinstimmung, Einklang, Melodie’
wie DWDS kundtut. Womit die Bedeutung auch auf etwas hinweist, das unausgesprochen ist: Es bedarf mindestens zweier Dinge, um eine Harmonie, a(u), Ai, überhaupt in die Welt bringen zu können. Denn es ist ja nun mal so: eine Sache, mit sich selbst ins Verhältnis gesetzt, sagt überhaupt nichts, außer, dass da etwas ist. Rechnerisch formuliert: Das Ergebnis eines Selbstverhältnisses ist immer 1.
Worauf also bezieht sich nun das Ai im Triple Ai/KI/DO? Na, das ist doch evident, offensichtlich, sagt der Augenschein: Freilich hat man in Harmonie mit der Energie zu sein, das ist der Weg, also eben Aiki-Do. Ein feiner Satz, der der Interpretation bedarf, damit sich zeigen kann, was er zu sagen vermag.
Was bei solcherlei, durchaus gängigen und mit Sicherheit berechtigten Betrachtungen dann gerne außer Acht gelassen wird: das Triple steht in einem dynamischen Verhältnis zueinander. Und zudem will der folgende Gedanke auf eine Perspektive hinweisen, die den Bezug, den Weg, nicht in der Harmonie eines unausgesprochenen Selbst mit irgendeiner mysteriösen Energie sieht, die die Geschicke dieser Welt lenkt. Sondern will dazu anbieten, den Aufruf zur Harmonie, zur Stimmigkeit, zwischen KI und DO anzusetzen. Also, ins Schriftbild gesetzt: Ai-Kido.
Oben wurde ja schon dargelegt, dass KI hier mit „Wesen“ übertragen wird. Und das DO soll nun hier in seinem Sinne als Methode aufgefasst werden, wo sich im eigentlichen griechischen Ursprung „Nachgehen“ der „Weg“ auffinden lässt:
méthodos (μέθοδος) f. ‘nach bestimmten Regeln geordnetes Verfahren’, eigentlich ‘das Nachgehen, Verfolgen, Nachforschen, Untersuchen’
Die Kunst in der Kampfkunst Aikido bestünde also, so betrachtet, in der Harmonie des Wesens mit seinen Methoden. Gängig ist die Interpretation die Kunst (= Methode) der Harmonie mit der Energie. Mir ist das zu abgehoben, „Energie“ zu unklar, irgendetwas dunkel andeutend. Und nicht zuletzt ruft Ernst Tugendhat dazu auf »Anthropologie statt Metaphysik«3⇣Tugendhat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007. zu betreiben.
Ein wichtiger Aspekt fehlt nun hier noch, ein Viertes, dass das Triple ergänzt, bzw., das ist ja eigentlich der Witz, durch selbiges entsteht: das Geschehen. Wo sich Wesen treffen, und also: in ein Verhältnis treten, waltet Geschehen. Zwei Weisen des Wesens, also in Summa Gestaltungen des Verweilens, des Wohnens (im übertragenen Sinne freilich), der Natürlichkeit, zwei Formen des bewusst Seins, unterschiedliche Absichten, Sorgen, Gefühle, Stimmungen, u. dgl. mehr treffen aufeinander. Und stören sich unter Umständen, überkreuzen sich, verstricken sich — schon ist der Kampf da. Der Frömmste kann nicht in Frieden leben, wenn’s einem Nachbarn nicht gefällt, räsonierte Schiller4⇣Wilhelm Tell IV, 3. (Tell)..
Ein „Kampf“ allerdings, der leicht in Krieg ausartet, mehr oder weniger. Denn ginge es um einen Kampf, so wäre es das beidseitige Ringen um Harmonie — denn: wer will nicht in Frieden leben? Auch das, so denke ich, hat Karl Jaspers in die Wendung »liebender Kampf«5⇣Z.B.: Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie, München/Berlin 332019, S. 22. gesetzt:
Kommunikation nicht bloß von Verstand zu Verstand, von Geist zu Geist, sondern von Existenz zu Existenz hat alle unpersönlichen Gehalte und Geltungen nur als ein Medium. Rechtfertigen und Angreifen sind dann Mittel, nicht um Macht zu gewinnen, sondern um sich nahe zu kommen. Der Kampf ist ein liebender Kampf.
Das Prinzip Aikido, das hier vertreten sein will – Ai-Kido
–, will sich darin üben, hier nun den ‚guten‘ Weg zu finden, eben den im Einklang, in Stimmigkeit mit dem eigenen Wesen. Die Frage ist nun nur: Wenn Wesen und Methode sich in einer Disharmonie befinden, so ist diese mit mindestens einer Veränderung herbeigeführt bzw. aufzuheben: Eine Veränderung des Wesens (Wittgenstein würde hier wohl sagen: der Lebensform) oder einer Veränderung der Methode.
Und das Schwierige nun an diesem Kampf, dieser Arbeit an und mit sich selbst: Verändert sich die Methode, verändert sich das Wesen, verändert sich das Wesen, verändert sich die Methode: Was da, bei dieser Sicht hier, in Harmonie gebracht werden will, steht in einer Wechselwirkung. Wie, in eine Analogie gepackt, bei einer zweiarmigen Waage — die beständig nach Ausgleich strebt, diese jedoch nicht erlangt. Die Dynamik, die Bewegung ist nicht zum Stillstand zu bringen, eine statische Harmonie unmöglich: die ‚absolute Harmonie‘ ist immer ein Punkt, ein Moment, das in der Dynamik durchschritten, nie aber darauf verweilt werden kann. Die allegorische Waage erstarrt nicht im Gleichgewicht, sondern fällt sogleich wieder in ein Ungleichgewicht. Man könnte meinen, sie lebt durch und vom Impuls, der von der Balance ausgeht.
Es gibt also diesen Punkt absoluter Ausgeglichenheit — doch er verschwindet in dem Moment, mit dem er aufscheint. Diesen „Punkt“, dieses Moment, könnte nun als ein „Zwischen“ aufgefasst werden. Es ist wohl so, wie es sich auch mit der Gegenwart wohl verhält: Sich die Frage gestellt, wie lange denn Gegenwart bitte dauere, müsste, resolut gedacht, „0 Sekunden“ geantwortet werden: Gegenwart, oder, schärfer ins Wort gesetzt: Jetzt, das Zwischen von Vergangenheit und Zukunft, existiert nicht für sich (kann also nicht in ein Selbstverhältnis gesetzt werden), sondern eben nur als Zwischen von Vergangenheit und Zukunft (ist ein Kind des Verhältnisses dieser beiden menschlichen Temporalquantitäten). Wir können dieses Zwischen vergegenwärtigen und dabei, beiläufig bemerkt, sehr frei von Zukunft und Vergangenheit sein, was den Eindruck erweckt, es mit ‚Etwas‘ zu tun zu haben; doch dieses Etwas ist quasi leer, weshalb wir Menschen es vernehmen, indes nicht messen können wie z.B. die Lufttemperatur. Wäre unser Geist, unser Wesen, nicht zur Vergegenwärtigung fähig, zum Schaffen eines ‚Jetzt‘, es gäbe für uns weder Vergangenheit noch Zukunft, und damit gäbe es womöglich uns selbst nicht, will meinen: das Bewusstsein unser Selbst.
Das Streben nach Harmonie, Ai, von KI und DO ist durchaus vergleichbar mit dem Streben nach Weisheit in der Philosophie. Obgleich sie nicht erreichbar ist – allein schon deshalb, weil wohl keiner weiß, was genau das ist bzw. es für Jede/n – im Extremfall – etwas anderes ist, in einen anderen Begriff gepackt ist – streben wir danach, zumindest hat Jede/r prinzipiell die Möglichkeit dazu. Die Methode des AiKI, oder eben die Harmonie des KIDO, sind Ideale. Deshalb sind kein/e absoluten Meister/innen, Heilige, Gurus des Aiki-Do zu finden, genauso wenig einer oder eine eines Ai-Kido — wohl aber jene Aikido-Lehrenden, die schon lange auf diesem Weg sind, diese Methode üben und damit Wissen geschaffen haben. Wissen um Techniken, gleichwohl Erfahrungen der Praxis, die nicht als Wissen vermittelt werden können, da diese Erfahrungen nur von Subjekten gemacht werden können. Ganz genauso, im Grunde, wie das Streben nach Weisheit nicht nur deshalb sinnvoll ist, weil bei diesem Streben Wissen entsteht, etwas ironisch gefasst: abfällt, sondern auch wegen der Lebenserfahrung, die anfällt. Und so erscheint dann eben auch ob der Unerreichbarkeit der Weisheit die Unendlichkeit des Wissens und die andauernde Rätselhaftigkeit des Lebens. Auf Aikido übertragen: Der Weg findet kein Ende, führt nirgendwo hin, in das Zentrum des Nirgendwo, das überall ist.
Nur unsere Lebensspanne begrenzt den Weg der Suche nach der Harmonie, der Balance von Wesen und Methode, dem Moment, und während unseres Weges verändern wir uns fortlaufend: Wir lernen uns (zu) kennen und werden doch nie wissen, wer wir sind. Mit Ernst Bloch:
Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.
Es gibt dafür ein Wort, nicht nur im Aikido: Anfängergeist. Auf Japanisch: Shoshin 初心6⇣Shunryu Suzukis sagte dazu: »In the beginner’s mind there are many possibilities, in the expert’s mind there are few.« … Weiterlesen….
⇡1 | https://mpi-lingweb.shh.mpg.de/kanji/ — die im Japanischen verwendeten Schriftzeichen chinesischen Ursprungs werden Kanji genannt. |
---|---|
⇡2 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, §43. |
⇡3 | Tugendhat, Ernst: Anthropologie statt Metaphysik, München 2007. |
⇡4 | Wilhelm Tell IV, 3. (Tell). |
⇡5 | Z.B.: Jaspers, Karl: Einführung in die Philosophie, München/Berlin 332019, S. 22. |
⇡6 | Shunryu Suzukis sagte dazu: »In the beginner’s mind there are many possibilities, in the expert’s mind there are few.« https://street-philosophy.de/shoshin-anfaengergeist . |