Von einer tatsächlichen Begebenheit. Über situativ angemessenen Vollzug besonderer Anordnungen. Über Autoritarismus.
Georg Christoph Lichtenberg
Wir schreiben Dienstag, den 2. Juni anno 2020. Es ist der Dienstag nach Pfingsten, so um 11 Uhr des Vormittags, strahlender Sonnenschein, 25°C, bestimmt schon, gefühlt allemal. Wochenmarkt in Landau in der Pfalz, Bundesland Rheinland-Pfalz, Deutschland, auf dem sogenannten alten Messplatz. Wegen Corona-Pandemie vom zentraleren Rathausplatz verlegt, um die Stände auf eine größere Fläche zu verteilen, geschätzt wohl doppelt so groß. Die Stände in der Fläche großzügig aufgestellt und viel weniger Stände als sonst, eben wegen Pfingsten; Marktbeschicker/innen möchten auch mal Pause haben. So zwei Drittel bis Dreiviertel der sonst üblichen Belegung des Dienstags, wo ohnehin weniger Stände zugegen sind, grob geschätzt freilich nur. Das Hauptgeschäft läuft am samstäglichen Markt an gleicher Stelle. Und auch heute deutlich weniger Publikum als an den Samstagen, aber auch weniger als sonst an Dienstagen. Alles also sehr übersichtlich und friedlich, meine Einkäufe konnte ich ohne Wartezeiten erledigen. Sonst ist das eigentlich nur möglich, wenn das Wetter nicht so das Wahre ist.
Die Beschreibung dieses Marktidylls ist für das Folgende wichtig. Denn es konturiert noch einmal, auf was mit diesem Text hingewiesen werden will. Ich war soeben auf dem Weg vom Platz weg, doch noch auf diesem. In der Lichte war niemand in Sicht, dem ich auf dem Weg zum Fahrrad außerhalb des Platzes, vielleicht noch 50m, hätte begegnen können, ohne dass ich ausweichen hätte können. Dies um den derzeit vor allen anderen Dingen gebotenen Abstand zu den Mitmenschen, die mir begegnen, einzuhalten.
Und auch drei Männer in Uniform sind auf dem Platz unterwegs. Auf den ersten Blick hielt ich sie für Polizei, was ja vielleicht auch beabsichtigt ist. Mit Schutzweste, aber ohne Kopfbedeckung. Ich wurde von einem der drei Männer mit Schutzmaske und Sonnenbrille deutlich ermahnt Mund und Nase zu bedecken, mit vertiefter, anherrschender Stimmlage. Ich hatte die Maske ja dabei, doch eben gerade elegant als Doppelkinnhalter tragend – Körbchengröße A, geht g’rad noch so – und bei den Ständen auch vor Mund und Nase geschoben. Wie es vielleicht derzeit angezeigt ist, wenn Menschen relativ dicht stehen und ihre Angelegenheiten, immer begleitet von mündlicher Kommunikation, erledigen. Doch auf der freien Verkehrsfläche, auf dem Weg von einem Stand zum anderen, da bin ich dann doch schon froh, den primär gebotenen Abstand problemlos einhalten zu können und ungefilterte, frische Luft atmen zu können, wie es die Natur für den Menschen ja vorgesehen hat. Ansonsten wären wir mit irgendeiner Art flexibler Mund-Nasen-Bedeckung geboren worden, die auch bei einer solchen Witterung nicht unangenehm wäre. Na, in 200.000 Jahren vielleicht, Mensch passt sich ja an. Zumindest taten wir das in den letzten paar Millionen Jahren.
So schob ich also für die letzten 25 Meter die Maske noch einmal hoch, freies Feld vor mir habend, das Fahrrad schon fast zum Greifen nah. Mürrisch indifferent packte ich meine Einkäufe in die Satteltaschen, entriegelte das Fahrradschloss und wollte mich schon auf den Weg machen, hielt dann jedoch inne. „Was war da eigentlich gerade passiert?“, fragte ich mich.
So entschloss ich mich, die drei polizeilich aufgemachten Herren zu beobachten und fragte mich: „Ist das Polizei? Ist das nicht etwas übertrieben?“ Ich spähte, um mich vergewissern zu können, denn mir lag im Kopf, dass Polizisten im Dienst ja ihre Kopfbedeckung zu tragen haben, was hier nicht der Fall war. Corona-Abzocke? Verkleidete, die im Schutz von Maske und Sonnenbrille ihr Unwesen treiben und unbescholtene Bürger/innen abziehen? Dagegen sprach das Namensschild, dessen ich aus dem Augenwinkel gewahr war, als ich zur Ordnung gerufen wurde. Gut, wer’s d’rauf anlegt, will freilich recht authentisch ’rüberkommen.
Also die Maske doch noch einmal aufgesetzt und für Gewissheit gesorgt. Am Ärmel eines der Männer ein Sticker mit Stadtwappen, soweit ich das sehen konnte, der Schriftzug „Vollzugsdienst“ darüber. Man sei vom Ordnungsamt, ebenfalls recht mürrisch indifferent zur Aussprache gebracht, auf meine klärende Frage hin, während eifrig etwas notiert wurde. „Wohl doch alles rechtens.“ denkend, trollte ich mich wieder zum Fahrrad. „Wirklich?“ Ich entschloss mich, jenes sich mir bietende Theater noch etwas zu studieren.
Eine Weile also das Aktionsfeld beobachtend, konnte ich sehen wie binnen einer gefühlten Minute, oder so, drei Personen zur Kasse gebeten wurden, weil ohne Mund-Nasen-Bedeckung unterwegs bzw. nicht im ordnungsgemäßen Einsatz. 10 Euro, wie sich später herausstellen sollte, zumindest für einen der zur Kasse bestellten.
Die ausführliche Beschreibung der Szenerie unter blauem Himmel mag geholfen haben, sich in die Situation hineinzuversetzen. Und dann kann hier, darf und soll, ja: muss vielleicht sogar die Frage nach der Verhältnismäßigkeit gestellt sein, ohne sogleich in die rechts-linke, mehr oder weniger extremistische pseudokritische Ecke mit oder ohne Aluhut gestellt zu werden. Auch angesichts der Schutzwesten stellt sich diese Frage, denn da keimt einem ja sofort der Gedanke auf, dass das wohl ein hochgefährlicher Einsatz ist, den die drei Männer da durchführen. Offenbar traut man den Besucher_innen des Marktes an diesem Dienstagmorgen alles zu, hin bis zum Gebrauch von Stich- oder gar Schusswaffen. Ich fühlte mich, als ich von einem dieser Uniformierten angesprochen wurde, sofort als üblich verdächtig. Kein schönes Gefühl. Und in keiner Weise förderlich, mein Vertrauen in den Vollzugsdienst zu stärken. Denn gewiss ist das Tragen einer Mund-Nasen-Bedeckung zumindest in geringem Umfang hilfreich, wenn sich in geschlossenen Räumen aufgehalten wird oder über längere Zeit an unbelüftetem Ort kommunizierend zusammengestanden wird. Doch soviel Mündigkeit sollte mir seitens des städtischen Ordnungsdezernates oder der Landesregierung oder gar Bundesregierung schon zugestanden werden, wann es nach derzeitigem Stand des Allgemeinwissens über Tröpfcheninfektion, Aerosole und Abstand geboten ist, Mund und Nase zu bedecken und wann diese Maßnahme schlicht unnötig ist und leicht als Gängelei aufgefasst werden kann. Eine solche vernunftgeleitete Abwägung kann man mir schon zumuten und zutrauen, wie bestimmt 80% der Mitbürger/innen auch. Für die restlichen 20% ist dann das Ordnungsamt zuständig. Leider. Doch manche sind eben einfach renitent, aus welchen Gründen auch immer, oder anderweitig unwillig, Vorschriften einzuhalten. Gerne mit dem Pochen auf Demokratie und Freiheit und so.
Die Ansprache einer der Belangten, eben genau wegen der Verhältnismäßigkeit, gab neben der Auskunft über die Höhe des Ordnungsgeldes eine überraschende Antwort bezüglich der aufgerüsteten Ordnungshüter: „Die können einem leid tun.“ Recht hat er. Und Leid antun können sie einem auch. Unnötigerweise. Doch eben: Im Auftrag.
Um es zum Schluss noch mal ganz klar zu stellen: Alltagsmasken können helfen, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren. Doch die sture Durchsetzung einer Pflicht ohne situative Anpassung, gegen die ich mich hier ausdrücklich stelle, das ist Entmündigung, zumindest kann ich leicht einen solchen Versuch vermuten. Unter bestimmten Bedingungen sinnvolle Vorschriften ohne Angemessenheitserwägung renitent zu ahnden, das nehme ich als eine Form von willkürlicher Gewalt wahr. Ja, das ist wohl über die Spitze getrieben und soll verdeutlichen, dass ein Polizeistaat nicht von heute auf morgen in der Welt ist, sondern sich in die Gesellschaft einschleicht, und gewisse äußere Bedingungen das begünstigen können. Und die derzeitige Corona-Situation scheint mir bei einigen dahingehend in den Kopf zu steigen. Eine vernünftige Hegung von Pflichten sieht zumindest für meine liberal-soziale Grundeinstellung völlig anders aus. Und wer denkt, angesichts der Putins und Trumps und wie sie alle heißen, in Deutschland, und in der schönen Pfalz könne sowas ja schon überhaupt gar nicht passieren, der irrt sich womöglich gewaltig. Der autoritäre Charakter1⇣vgl. Theodor W. Adorno. ist jederzeit und überall und wir sollten alle auf der Hut sein und kleinste Anzeichen sofort zur Sprache bringen, damit ist schon viel getan. Wie bei Sars-CoV‑2 auf der politischen Seite ist auch im Umgang mit den politisch Verantwortlichen und deren Entscheidungen auf der gesellschaftlichen Seite umsichtige, vielleicht manchmal übertriebene, Vorsicht besser denn reuige Nachsicht.
Lieber lasse ich mir ein paar mal eine absurde Unterstellung vorwerfen, mir auch vorwerfen, ich gehöre ja auch nur zu diesen 20% überbesorgten Bürger_innen, die nur dagegen sind, um gegen etwas sein zu können, als – am End’ noch wegen eben jener 20% – unter einem Diktat leben zu müssen, weil eine Minderheit den Ton angegeben hat und die Politik es an Vertrauen in die Bürgerschaft hat fehlen lassen. Dieses aber von eben jenen verlangt bzw. stillschweigend voraussetzt, denn man ist ja schließlich gewählt worden. Und in einem autoritaristischen Staatsklima dann womöglich noch mit einem schlechten Gewissen, welches mir mein Schweigen eingebracht hätte, ein gutes Leben zu führen hätte, was dann wohl unmöglich wäre, zumindest für mich. Denn ich habe die Anfänge ja gesehen und mir meine Gedanken gemacht. Und den Rest meines solala geführten Lebens müsste ich dann mit Einem zusammenleben, der geschwiegen hat, wo es besser gewesen wäre, die Stimme zu erheben. Nur weil er in keine Ecke gestellt werden wollte, wo er nicht hingehört.
⇡1 | vgl. Theodor W. Adorno. |
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