Denkzettel 279

Der Mo­no­the­is­mus war kei­ne gu­te Er­fin­dung: Er ist das schlei­chen­de Gift ei­ner plu­ra­len För­de­ra­li­tät.

(Die Idee der fremd or­di­nier­ten, au­to­kra­ti­schen Ein­heit­lich­keit (d.i.: Ein­falt) wen­det sich ge­gen das Fak­tum der sich selbst ko­or­di­nie­ren­den, au­to­poie­ti­schen Viel­falt.)

Staatsmacht?

Von einer tatsächlichen Begebenheit. Über situativ angemessenen Vollzug besonderer Anordnungen. Über Autoritarismus.

Die kleins­ten Un­ter­of­fi­zie­re sind die stol­zes­ten.

Ge­org Chris­toph Lich­ten­berg

Wir schrei­ben Diens­tag, den 2. Ju­ni an­no 2020. Es ist der Diens­tag nach Pfings­ten, so um 11 Uhr des Vor­mit­tags, strah­len­der Son­nen­schein, 25°C, be­stimmt schon, ge­fühlt al­le­mal. Wo­chen­markt in Land­au in der Pfalz, Bun­des­land Rhein­land-Pfalz, Deutsch­land, auf dem so­ge­nann­ten al­ten Mess­platz. We­gen Co­ro­na-Pan­de­mie vom zen­tra­le­ren Rat­haus­platz ver­legt, um die Stän­de auf ei­ne grö­ße­re Flä­che zu ver­tei­len, ge­schätzt wohl dop­pelt so groß. Die Stän­de in der Flä­che groß­zü­gig auf­ge­stellt und viel we­ni­ger Stän­de als sonst, eben we­gen Pfings­ten; Marktbeschicker/innen möch­ten auch mal Pau­se ha­ben. So zwei Drit­tel bis Drei­vier­tel der sonst üb­li­chen Be­le­gung des Diens­tags, wo oh­ne­hin we­ni­ger Stän­de zu­ge­gen sind, grob ge­schätzt frei­lich nur. Das Haupt­ge­schäft läuft am sams­täg­li­chen Markt an glei­cher Stel­le. Und auch heu­te deut­lich we­ni­ger Pu­bli­kum als an den Sams­ta­gen, aber auch we­ni­ger als sonst an Diens­ta­gen. Al­les al­so sehr über­sicht­lich und fried­lich, mei­ne Ein­käu­fe konn­te ich oh­ne War­te­zei­ten er­le­di­gen. Sonst ist das ei­gent­lich nur mög­lich, wenn das Wet­ter nicht so das Wah­re ist.

Die Be­schrei­bung die­ses Markt­idylls ist für das Fol­gen­de wich­tig. Denn es kon­tu­riert noch ein­mal, auf was mit die­sem Text hin­ge­wie­sen wer­den will. Ich war so­eben auf dem Weg vom Platz weg, doch noch auf die­sem. In der Lich­te war nie­mand in Sicht, dem ich auf dem Weg zum Fahr­rad au­ßer­halb des Plat­zes, viel­leicht noch 50m, hät­te be­geg­nen kön­nen, oh­ne dass ich aus­wei­chen hät­te kön­nen. Dies um den der­zeit vor al­len an­de­ren Din­gen ge­bo­te­nen Ab­stand zu den Mit­men­schen, die mir be­geg­nen, ein­zu­hal­ten.

Und auch drei Män­ner in Uni­form sind auf dem Platz un­ter­wegs. Auf den ers­ten Blick hielt ich sie für Po­li­zei, was ja viel­leicht auch be­ab­sich­tigt ist. Mit Schutz­wes­te, aber oh­ne Kopf­be­de­ckung. Ich wur­de von ei­nem der drei Män­ner mit Schutz­mas­ke und Son­nen­bril­le deut­lich er­mahnt Mund und Na­se zu be­de­cken, mit ver­tief­ter, an­herr­schen­der Stimm­la­ge. Ich hat­te die Mas­ke ja da­bei, doch eben ge­ra­de ele­gant als Dop­pel­kinn­hal­ter tra­gend – Körb­chen­grö­ße A, geht g’rad noch so – und bei den Stän­den auch vor Mund und Na­se ge­scho­ben. Wie es viel­leicht der­zeit an­ge­zeigt ist, wenn Men­schen re­la­tiv dicht ste­hen und ih­re An­ge­le­gen­hei­ten, im­mer be­glei­tet von münd­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on, er­le­di­gen. Doch auf der frei­en Ver­kehrs­flä­che, auf dem Weg von ei­nem Stand zum an­de­ren, da bin ich dann doch schon froh, den pri­mär ge­bo­te­nen Ab­stand pro­blem­los ein­hal­ten zu kön­nen und un­ge­fil­ter­te, fri­sche Luft at­men zu kön­nen, wie es die Na­tur für den Men­schen ja vor­ge­se­hen hat. An­sons­ten wä­ren wir mit ir­gend­ei­ner Art fle­xi­bler Mund-Na­sen-Be­de­ckung ge­bo­ren wor­den, die auch bei ei­ner sol­chen Wit­te­rung nicht un­an­ge­nehm wä­re. Na, in 200.000 Jah­ren viel­leicht, Mensch passt sich ja an. Zu­min­dest ta­ten wir das in den letz­ten paar Mil­lio­nen Jah­ren.

So schob ich al­so für die letz­ten 25 Me­ter die Mas­ke noch ein­mal hoch, frei­es Feld vor mir ha­bend, das Fahr­rad schon fast zum Grei­fen nah. Mür­risch in­dif­fe­rent pack­te ich mei­ne Ein­käu­fe in die Sat­tel­ta­schen, ent­rie­gel­te das Fahr­rad­schloss und woll­te mich schon auf den Weg ma­chen, hielt dann je­doch in­ne. „Was war da ei­gent­lich ge­ra­de pas­siert?“, frag­te ich mich.

So ent­schloss ich mich, die drei po­li­zei­lich auf­ge­mach­ten Her­ren zu be­ob­ach­ten und frag­te mich: „Ist das Po­li­zei? Ist das nicht et­was über­trie­ben?“ Ich späh­te, um mich ver­ge­wis­sern zu kön­nen, denn mir lag im Kopf, dass Po­li­zis­ten im Dienst ja ih­re Kopf­be­de­ckung zu tra­gen ha­ben, was hier nicht der Fall war. Co­ro­na-Ab­zo­cke? Ver­klei­de­te, die im Schutz von Mas­ke und Son­nen­bril­le ihr Un­we­sen trei­ben und un­be­schol­te­ne Bürger/innen ab­zie­hen? Da­ge­gen sprach das Na­mens­schild, des­sen ich aus dem Au­gen­win­kel ge­wahr war, als ich zur Ord­nung ge­ru­fen wur­de. Gut, wer’s d’rauf an­legt, will frei­lich recht au­then­tisch ’rü­ber­kom­men.

Al­so die Mas­ke doch noch ein­mal auf­ge­setzt und für Ge­wiss­heit ge­sorgt. Am Är­mel ei­nes der Män­ner ein Sti­cker mit Stadt­wap­pen, so­weit ich das se­hen konn­te, der Schrift­zug „Voll­zugs­dienst“ dar­über. Man sei vom Ord­nungs­amt, eben­falls recht mür­risch in­dif­fe­rent zur Aus­spra­che ge­bracht, auf mei­ne klä­ren­de Fra­ge hin, wäh­rend eif­rig et­was no­tiert wur­de. „Wohl doch al­les rech­tens.“ den­kend, troll­te ich mich wie­der zum Fahr­rad. „Wirk­lich?“ Ich ent­schloss mich, je­nes sich mir bie­ten­de Thea­ter noch et­was zu stu­die­ren.

Ei­ne Wei­le al­so das Ak­ti­ons­feld be­ob­ach­tend, konn­te ich se­hen wie bin­nen ei­ner ge­fühl­ten Mi­nu­te, oder so, drei Per­so­nen zur Kas­se ge­be­ten wur­den, weil oh­ne Mund-Na­sen-Be­de­ckung un­ter­wegs bzw. nicht im ord­nungs­ge­mä­ßen Ein­satz. 10 Eu­ro, wie sich spä­ter her­aus­stel­len soll­te, zu­min­dest für ei­nen der zur Kas­se be­stell­ten.

Die aus­führ­li­che Be­schrei­bung der Sze­ne­rie un­ter blau­em Him­mel mag ge­hol­fen ha­ben, sich in die Si­tua­ti­on hin­ein­zu­ver­set­zen. Und dann kann hier, darf und soll, ja: muss viel­leicht so­gar die Fra­ge nach der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit ge­stellt sein, oh­ne so­gleich in die rechts-lin­ke, mehr oder we­ni­ger ex­tre­mis­ti­sche pseu­do­kri­ti­sche Ecke mit oder oh­ne Alu­hut ge­stellt zu wer­den. Auch an­ge­sichts der Schutz­wes­ten stellt sich die­se Fra­ge, denn da keimt ei­nem ja so­fort der Ge­dan­ke auf, dass das wohl ein hoch­ge­fähr­li­cher Ein­satz ist, den die drei Män­ner da durch­füh­ren. Of­fen­bar traut man den Besucher_innen des Mark­tes an die­sem Diens­tag­mor­gen al­les zu, hin bis zum Ge­brauch von Stich- oder gar Schuss­waf­fen. Ich fühl­te mich, als ich von ei­nem die­ser Uni­for­mier­ten an­ge­spro­chen wur­de, so­fort als üb­lich ver­däch­tig. Kein schö­nes Ge­fühl. Und in kei­ner Wei­se för­der­lich, mein Ver­trau­en in den Voll­zugs­dienst zu stär­ken. Denn ge­wiss ist das Tra­gen ei­ner Mund-Na­sen-Be­de­ckung zu­min­dest in ge­rin­gem Um­fang hilf­reich, wenn sich in ge­schlos­se­nen Räu­men auf­ge­hal­ten wird oder über län­ge­re Zeit an un­be­lüf­te­tem Ort kom­mu­ni­zie­rend zu­sam­men­ge­stan­den wird. Doch so­viel Mün­dig­keit soll­te mir sei­tens des städ­ti­schen Ord­nungs­de­zer­na­tes oder der Lan­des­re­gie­rung oder gar Bun­des­re­gie­rung schon zu­ge­stan­den wer­den, wann es nach der­zei­ti­gem Stand des All­ge­mein­wis­sens über Tröpf­chen­in­fek­ti­on, Ae­ro­so­le und Ab­stand ge­bo­ten ist, Mund und Na­se zu be­de­cken und wann die­se Maß­nah­me schlicht un­nö­tig ist und leicht als Gän­ge­lei auf­ge­fasst wer­den kann. Ei­ne sol­che ver­nunft­ge­lei­te­te Ab­wä­gung kann man mir schon zu­mu­ten und zu­trau­en, wie be­stimmt 80% der Mitbürger/innen auch. Für die rest­li­chen 20% ist dann das Ord­nungs­amt zu­stän­dig. Lei­der. Doch man­che sind eben ein­fach re­ni­tent, aus wel­chen Grün­den auch im­mer, oder an­der­wei­tig un­wil­lig, Vor­schrif­ten ein­zu­hal­ten. Ger­ne mit dem Po­chen auf De­mo­kra­tie und Frei­heit und so.

Die An­spra­che ei­ner der Be­lang­ten, eben ge­nau we­gen der Ver­hält­nis­mä­ßig­keit, gab ne­ben der Aus­kunft über die Hö­he des Ord­nungs­gel­des ei­ne über­ra­schen­de Ant­wort be­züg­lich der auf­ge­rüs­te­ten Ord­nungs­hü­ter: „Die kön­nen ei­nem leid tun.“ Recht hat er. Und Leid an­tun kön­nen sie ei­nem auch. Un­nö­ti­ger­wei­se. Doch eben: Im Auf­trag.

Um es zum Schluss noch mal ganz klar zu stel­len: All­tags­mas­ken kön­nen hel­fen, das In­fek­ti­ons­ge­sche­hen zu kon­trol­lie­ren. Doch die stu­re Durch­set­zung ei­ner Pflicht oh­ne si­tua­ti­ve An­pas­sung, ge­gen die ich mich hier aus­drück­lich stel­le, das ist Ent­mün­di­gung, zu­min­dest kann ich leicht ei­nen sol­chen Ver­such ver­mu­ten. Un­ter be­stimm­ten Be­din­gun­gen sinn­vol­le Vor­schrif­ten oh­ne An­ge­mes­sen­heits­er­wä­gung re­ni­tent zu ahn­den, das neh­me ich als ei­ne Form von will­kür­li­cher Ge­walt wahr. Ja, das ist wohl über die Spit­ze ge­trie­ben und soll ver­deut­li­chen, dass ein Po­li­zei­staat nicht von heu­te auf mor­gen in der Welt ist, son­dern sich in die Ge­sell­schaft ein­schleicht, und ge­wis­se äu­ße­re Be­din­gun­gen das be­güns­ti­gen kön­nen. Und die der­zei­ti­ge Co­ro­na-Si­tua­ti­on scheint mir bei ei­ni­gen da­hin­ge­hend in den Kopf zu stei­gen. Ei­ne ver­nünf­ti­ge He­gung von Pflich­ten sieht zu­min­dest für mei­ne li­be­ral-so­zia­le Grund­ein­stel­lung völ­lig an­ders aus. Und wer denkt, an­ge­sichts der Pu­tins und Trumps und wie sie al­le hei­ßen, in Deutsch­land, und in der schö­nen Pfalz kön­ne so­was ja schon über­haupt gar nicht pas­sie­ren, der irrt sich wo­mög­lich ge­wal­tig. Der au­to­ri­tä­re Cha­rak­ter1⇣vgl. Theo­dor W. Ador­no. ist je­der­zeit und über­all und wir soll­ten al­le auf der Hut sein und kleins­te An­zei­chen so­fort zur Spra­che brin­gen, da­mit ist schon viel ge­tan. Wie bei Sars-Co­V‑2 auf der po­li­ti­schen Sei­te ist auch im Um­gang mit den po­li­tisch Ver­ant­wort­li­chen und de­ren Ent­schei­dun­gen auf der ge­sell­schaft­li­chen Sei­te um­sich­ti­ge, viel­leicht manch­mal über­trie­be­ne, Vor­sicht bes­ser denn reu­ige Nach­sicht.

Lie­ber las­se ich mir ein paar mal ei­ne ab­sur­de Un­ter­stel­lung vor­wer­fen, mir auch vor­wer­fen, ich ge­hö­re ja auch nur zu die­sen 20% über­be­sorg­ten Bürger_innen, die nur da­ge­gen sind, um ge­gen et­was sein zu kön­nen, als – am End’ noch we­gen eben je­ner 20% – un­ter ei­nem Dik­tat le­ben zu müs­sen, weil ei­ne Min­der­heit den Ton an­ge­ge­ben hat und die Po­li­tik es an Ver­trau­en in die Bür­ger­schaft hat feh­len las­sen. Die­ses aber von eben je­nen ver­langt bzw. still­schwei­gend vor­aus­setzt, denn man ist ja schließ­lich ge­wählt wor­den. Und in ei­nem au­to­ri­ta­ris­ti­schen Staats­kli­ma dann wo­mög­lich noch mit ei­nem schlech­ten Ge­wis­sen, wel­ches mir mein Schwei­gen ein­ge­bracht hät­te, ein gu­tes Le­ben zu füh­ren hät­te, was dann wohl un­mög­lich wä­re, zu­min­dest für mich. Denn ich ha­be die An­fän­ge ja ge­se­hen und mir mei­ne Ge­dan­ken ge­macht. Und den Rest mei­nes so­la­la ge­führ­ten Le­bens müss­te ich dann mit Ei­nem zu­sam­men­le­ben, der ge­schwie­gen hat, wo es bes­ser ge­we­sen wä­re, die Stim­me zu er­he­ben. Nur weil er in kei­ne Ecke ge­stellt wer­den woll­te, wo er nicht hin­ge­hört.

Ak­tua­li­sie­run­gen
12.6.2020:
Sie­he auch den Bei­trag von Nils Mark­wardt auf philomag.de vom 9.6.2020: In vie­len Län­dern mi­li­ta­ri­siert sich die Po­li­zei. Das führt zu ei­ner ge­fähr­li­chen Um­stül­pung der Freund-Feind-Lo­gik nach in­nen — und ver­stärkt da­mit je­nen Ras­sis­mus, ge­gen den ge­ra­de welt­weit pro­tes­tiert wird.
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Re­fe­ren­ces
1 vgl. Theo­dor W. Ador­no.