Zeit – Dauer = Vergänglichkeit Foto: Aron Visuals | Unsplash

Lebe lang und erfolgreich!

Sterben in Zeiten einer Pandemie.

Viel wird da jetzt ge­gen Boris Palmer ge­wet­tert, ge­gen Wolfgang Schäuble nicht, zu­min­dest so­weit ich die Me­di­en­land­schaft ver­fol­ge. Ob­wohl bei­de im Grun­de das Glei­che sag­ten. Der ei­ne in ju­gend­li­chen, un­er­fah­re­nen Leicht­sinn, der an­de­re mit dem Ge­wicht der hö­he­ren Le­bens­er­fah­rung. Al­lein der Jah­re we­gen, doch oh­ne Schwer­mut.

„Sie müs­sen ster­ben!“ hallt es durch die Ge­sell­schaft.

Ma­chen wir uns doch mal ehr­lich, wa­gen wir es ein­mal: „Aber na­tür­lich müs­sen sie ster­ben.“

Und na­tür­lich er­schre­cken wir an­ge­sichts der ho­hen Zahl an To­ten in Ita­li­en und er­schre­cken, wenn wir uns Bil­der aus New York in Er­in­ne­rung ru­fen. „So vie­le To­te! Ei­ne schreck­li­che Pan­de­mie!“

Mit ei­nem nüch­ter­nen wie er­nüch­tern­den sta­tis­ti­schem Blick, wie wir ihn aus dem Wet­ter­be­richt z.B. ge­wohnt sind, in dem von durch­schnitt­li­chen Re­gen­men­gen und Son­nen­schein­dau­ern die Re­de ist und wie viel noch nach­zu­ho­len oder wie viel im Über­maß zum sta­tis­ti­schen Mit­tel, über Mo­na­te, Jah­re, Jahr­zehn­te, ge­fal­len ist, er­scheint die Sa­che in ei­nem an­de­ren Licht. Ist es mit dem Ster­ben viel an­ders? Kön­nen wir denn nicht er­war­ten, all un­se­rer Er­fah­rung nach, dass dem Hoch ein Tief folgt? Wei­ten wir nur un­se­ren Blick ge­nug, zie­hen ihn über ei­ne Dau­er. Wir ver­su­chen durch Ab­stand­hal­ten die Kur­ve ab­zu­fla­chen, den Berg nicht zu steil zu ma­chen, da­mit er für uns über­steig­bar bleibt. Auch für je­ne, die kei­ne Rein­hold Mess­ners sind, me­ta­pho­risch ge­spro­chen. Doch der Berg, der ver­schwin­det nicht. Der steht da. Mit­ten im Weg. Fla­cher kön­nen wir ihn ma­chen; nicht aber ab­tra­gen, zum Ver­schwin­den brin­gen. Wir kön­nen nicht so tun, als wä­re der nicht da.

Ne­ben der ho­hen Sterb­lich­keit zur ei­nen Zeit gibt es ei­ne nied­ri­ge zu ei­ner an­de­ren. Wir kön­nen ein Mit­tel er­mit­teln zwi­schen dem höchs­ten Punkt der Kur­ve und dem nied­rigs­ten und se­hen, wie sich das ober­halb und un­ter­halb aus­gleicht. Vie­le Wan­dern­de ma­chen sich so zu­nächst ein Bild über die La­ge, über die An­stren­gung, die wohl auf­zu­brin­gen sein wird, um ei­ne Stre­cke zu meis­tern. Denn sie ha­ben Kar­ten mit Hö­hen­li­ni­en. Vor­aus­ge­setzt ist frei­lich, dass sie die­se le­sen kön­nen.

Viel­leicht nicht in ei­ner Zeit­span­ne von ei­ner Wo­che, viel­leicht auch nicht in ei­nem Mo­nat oder drei­en kann das aus­glei­chen­de Mo­ment der Zeit be­ob­ach­tet wer­den. Zie­hen wir die Dau­er ei­nes Jah­res her­an, wird es schon ba­lan­cier­ter. Und je wei­ter wir den Blick wa­gen, des­to waag­rech­ter wird die Mit­tel­li­nie – per­fek­ter Aus­gleich, Gleich­ge­wicht. Es wird nicht mehr und nicht we­ni­ger ge­stor­ben. Die Mit­tel­li­nie steigt nicht und fällt nicht. Es wird ein­fach ge­stor­ben.

Mit Ge­bur­ten, bei­läu­fig, kön­nen wir das Glei­che ma­chen. Und wenn wir al­le Wan­de­run­gen un­se­res Le­bens ex­akt pro­to­kol­liert hät­ten, wür­den wir viel­leicht er­staunt fest­stel­len kön­nen, dass wir we­der hö­her noch nied­ri­ger sind als wir es am Be­ginn un­se­rer Le­bens­wan­der­schaft wa­ren.

Ei­ne ho­he Sterb­lich­keit jetzt be­deu­tet so ei­ne nied­ri­ge da­vor oder da­nach. So kann der Blick aus­ge­rich­tet wer­den. Zur Zeit, schau­en wir in die Zu­kunft, wird frü­her ge­stor­ben. Wen­den wir den Blick in die Ver­gan­gen­heit, stel­len wir wo­mög­lich fest, dass jetzt spä­ter ge­stor­ben wird. Die Sterb­lich­keit der letz­ten, mal ein­fach so ei­nen Rah­men ge­setzt, zehn Jah­re al­so recht nied­rig war, re­la­tiv zu ei­ner Mit­tel­li­nie. Und so be­trach­tet – der Mensch ist ja ger­ne, es kann schon ge­sagt wer­den, al­lein der Au­gen we­gen: na­tür­li­cher­wei­se, nach vor­ne ge­rich­tet und kann so nur das Le­ben le­ben, wel­ches er je­doch nur rück­wärts ver­ste­hen kann – wird frü­her ge­stor­ben in die­sen Zei­ten.

Doch ge­stor­ben wird im­mer. Mir scheint – wirk­lich zum Stau­nen bringt es mich je­doch nicht – die­sen Aspekt des „Ge­stor­ben wird im­mer.“ ver­drän­gen wir, wol­len ihn nicht wahr­ha­ben.

Und mich deucht, wenn ich mir die Dis­kus­si­on um das Ster­ben in SARS-CoV-2-Zei­ten so an­schaue, ein sich mir zei­gen­des Bild in der Me­di­en­land­schaft al­so stu­die­re, ein lan­ges Le­ben wird wie ei­ne Leis­tung an­ge­se­hen. „Ohhh, hun­dert Jah­re! Was für ei­ne Leis­tung! Glück­wunsch!“ Und wer frü­her stirbt, ist halt nicht nur län­ger tot, er oder sie war halt nicht so leis­tungs­fä­hig wie sie hät­ten sein kön­nen, im Ver­gleich zu an­de­ren, er­folg­rei­che­ren Vertreter:innen ih­rer Art. Sie ha­ben sich wohl zu we­nig an­ge­strengt in ih­rem Be­mü­hen ge­sund zu le­ben. Hät­ten sie mal den Ge­sund­heits­tra­cker ge­habt und mehr Sport ge­trie­ben, we­ni­ger Ni­ko­tin, Kof­fe­in, Al­ko­hol, Fett und der­glei­chen mehr kon­su­miert, dann wür­den sie heu­te noch quietsch­fi­del le­ben! Und wer im Al­ter nicht mehr so kann, na, der hat doch frü­her was falsch ge­macht! Er­folg ist schließ­lich be­re­chen­bar! Sonst wär’s ja auch nicht die er­wart­ba­re Fol­ge von ir­gend­was, bei­läu­fig an­ge­merkt.

Ein lan­ges Le­ben ist nicht das Pro­dukt ir­gend­ei­ner Leis­tung. Es ist vor al­len Din­gen: Glück. Oder Pech, wenn man sich vor Schmer­zen win­det, da­hin­siecht und schon wünscht, zu ster­ben. Weil man es sich bes­ser vor­stellt als zu lei­den. Frei­lich wird da au­ßer Acht ge­las­sen, dass nach dem Stand un­se­res all­ge­mei­nen wis­sen­schaft­li­chen Ver­ständ­nis­ses, nach dem Tod nichts mehr da ist, dass lei­den oder nicht lei­den könn­te. Doch das ist ja nun auch An­sichts­sa­che. Man­che er­fül­len sich mit der Vor­stel­lung ei­nes Pa­ra­die­ses den Wunsch nach ei­ner un­end­lich lan­gen, im­mer­wäh­ren­den, nie ver­ge­hen­den, voll­kom­men leid­lo­sen Exis­tenz. Was für ei­ne Leis­tung! Gibt’s frei­lich nur für die Bes­ten un­ter den Bes­ten! Nur die Har­ten kom­men in den Gar­ten! Nun … die Wei­chen stel­len die Wei­chen.

Mes­sen wir doch nicht die Le­bens­span­ne aus und be­wer­ten sie, wie wir die Ar­beit ei­nes Sport­lers mit Stopp­uhr und Maß­band ver­mes­sen. Ein Le­ben dau­ert so lan­ge, wie ein Le­ben dau­ert. Ge­sund le­ben­de Men­schen kön­nen früh ster­ben, un­ge­sund le­ben­de lan­ge le­ben, und um­ge­kehrt ist es ge­nau­so gut. Für Letz­te­res ist Alt­bun­des­kanz­ler und ver­gan­ge­ne ehr­wür­di­ge In­stanz als Ver­nunft der Na­ti­on Hel­mut Schmidt ein Bei­spiel; für’s Ers­te­re gibt’s ver­mut­lich auch Bei­spie­le zu­hauf, Pro­mi­nen­te wie Normalverbraucher:innen.

Wes­halb oder wo­zu das so ist, mit dem Ster­ben und dem gan­zen Rest, weiß wohl nie­mand und ich mei­ne: Das kann nie­mand wis­sen. (Au­ßer dem, der die Ab­sicht hat, ei­ne Mau­er zu er­rich­ten, frei­lich.) Muss auch kei­ner wis­sen. Das ver­gällt ei­nem am End’ nur die Le­bens­freu­de. Hin­dert dar­an, be­hin­dert uns, ein gu­tes Le­ben zu füh­ren, das Le­ben gut zu füh­ren. Und ein Le­ben, das 30 Jah­re währ­te und vol­ler Freu­de, Lust und Aben­teu­er war, ist für ei­ni­ge nun mal ei­nem 90 Jah­re wäh­ren­dem, mit Leid und Qual und Schmerz, vor­zu­zie­hen. An­de­re wie­der ma­chen ein Hel­den­tum dar­aus, die­ses Leid, das mit ei­nem ho­hen Al­ter ein­her­ge­hen kann und kei­nes­wegs muss, sto­isch zu er­tra­gen. Viel­leicht auch: gläu­big hin­zu­neh­men. Nur mal um das Ter­rain der Mög­lich­kei­ten kurz zu um­gren­zen.

Doch im Hin­ter­grund, für uns viel­leicht un­be­merkt, schwingt mög­li­cher­wei­se im­mer ein Ge­dan­ke mit, ein ech­ter Hin­ter­ge­dan­ke al­so. Un­be­merkt, doch nicht wir­kungs­los. Ein Hin­ter­ge­dan­ke in den wir, zu­min­dest ist das wohl für die Jün­ge­ren rich­tig, hin­ein­ge­bo­ren wur­den, mit dem wir auf­ge­wach­sen sind, den wir we­nig re­flek­tie­ren, weil er uns so ver­traut ist: „Was für ei­ne Leis­tung!“

Ma­chen wir uns ehr­lich: Kann das glück­lich ma­chen? Man­che, ja. Doch eben nicht al­le. Und nur weil es für man­che hin­nehm­bar ist, muss es für al­le gel­ten? Das Leis­tungs­prin­zip ist ei­ne Form der Le­bens­füh­rung, der Le­bens­ge­stal­tung, der Welt­an­schau­ung. Nicht mehr, nicht we­ni­ger. Und nur weil viel­leicht vie­le die­sem Prin­zip fol­gen, und man ins­ge­samt da­mit viel­leicht so­gar er­folg­reich ist, muss es des­halb noch lan­ge nicht rich­tig sein. Ei­ne Pan­de­mie mit ih­rem Stre­ben nach Ster­ben kann das in Sze­ne set­zen, skiz­zie­ren. Wir kön­nen uns ein Bild da­von ma­chen. Und uns dar­an er­in­nern, das wir stets im An­ge­sicht des To­des un­ser Le­ben le­ben. Er ist un­ver­meid­bar. Ein Berg, den wir nicht über­stei­gen kön­nen, auch wenn er nur als ganz fla­ches Hü­gel­chen da­her­kommt. Nie­mand wird den Gip­fel über­que­ren. Kei­ne und Kei­ner. Nie­mand kann bes­ser sein als der Tod.

Tja, wir ha­ben uns Si­sy­phos eben als glück­li­chen Men­schen vor­zu­stel­len. Denn er er­leb­te die Ver­geb­lich­keit ei­nes un­mög­li­chen Un­ter­fan­gens Stun­de um Stun­de, er­fuhr es am ei­ge­nen Leib, war be­freit von je­dem Zwei­fel dar­über. Dann kön­nen wir auch ster­ben. Fürch­ten uns nicht, na, ehr­lich: we­ni­ger da­vor, auch wenn’s nach wie vor ei­ne un­an­ge­neh­me Vor­stel­lung ist, die wir ger­ne ins hin­ters­te Käm­mer­chen un­se­res We­sens, Den­kens, Spre­chens, Han­delns, Vor­stel­lens ver­drän­gen.

Und wenn wir das schaf­fen, dem Tod ins Au­ge se­hen kön­nen, dann füh­ren wir un­ser Le­ben gut. So­fern, das sei ein­schrän­kend da­zu ge­setzt, die­ser Blick auf den Tod nicht mit ei­nem ver­ach­ten­den Hin­ter­ge­dan­ken wie »Hun­de, wollt ihr ewig le­ben?« ein­her­geht. Und wir wer­den fest­stel­len, dass es kei­ne bes­se­re oder schlech­te­re Wei­se gibt, dem Tod ins Ge­sicht zu schau­en. Denn sein oder ihr Blick auf uns ist stets der­sel­be. Völ­lig egal, ob ein Hel­mut Schmidt mit 97 oder Li­se Mül­ler mit 28 vor ihm steht. Ein gu­tes Le­ben führt und wird ge­führt ge­habt ha­ben, wer den An­blick oh­ne Lob und Ta­del er­wi­dern kann.

Das zu üben, da­für ha­ben wir ein gan­zes Le­ben lang Zeit. Und, das zeigt SARS-Co­V‑2 und Co­vid-19, auch im­mer wie­der Ge­le­gen­heit da­zu. Mal mehr, mal we­ni­ger. Im Mo­ment mehr. Doch über und un­ter dem Strich…

Nur das auch zu wa­gen, dass ha­ben wir bei­zu­tra­gen. Das ist un­ser Bei­trag zu ei­nem gu­ten Le­ben. Vom Rest ha­ben wir nur we­nig in der Hand. Auch wenn uns das ger­ne an­ders er­schei­nen mag. Weil wir Men­schen sind. Und den Tod fürch­ten. Wo­zu wir al­ler­dings nicht ver­dammt sind. Denn wir ha­ben der Furcht vor dem Tod, der Be­fürch­tung des nicht-Seins, et­was ent­ge­gen­zu­brin­gen. Nicht als Wi­der­stand, son­dern als ei­gen­tüm­lich zwang­los zwin­gend bes­se­res
Ar­gu­ment: Le­bens­mut.

Und so kann der Ti­tel die­ses Bei­tra­ges dann ver­kürzt wer­den: Le­be und wach­se.

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