Sterben in Zeiten einer Pandemie.
Viel wird da jetzt gegen Boris Palmer gewettert, gegen Wolfgang Schäuble nicht, zumindest soweit ich die Medienlandschaft verfolge. Obwohl beide im Grunde das Gleiche sagten. Der eine in jugendlichen, unerfahrenen Leichtsinn, der andere mit dem Gewicht der höheren Lebenserfahrung. Allein der Jahre wegen, doch ohne Schwermut.
„Sie müssen sterben!“ hallt es durch die Gesellschaft.
Machen wir uns doch mal ehrlich, wagen wir es einmal: „Aber natürlich müssen sie sterben.“
Und natürlich erschrecken wir angesichts der hohen Zahl an Toten in Italien und erschrecken, wenn wir uns Bilder aus New York in Erinnerung rufen. „So viele Tote! Eine schreckliche Pandemie!“
Mit einem nüchternen wie ernüchternden statistischem Blick, wie wir ihn aus dem Wetterbericht z.B. gewohnt sind, in dem von durchschnittlichen Regenmengen und Sonnenscheindauern die Rede ist und wie viel noch nachzuholen oder wie viel im Übermaß zum statistischen Mittel, über Monate, Jahre, Jahrzehnte, gefallen ist, erscheint die Sache in einem anderen Licht. Ist es mit dem Sterben viel anders? Können wir denn nicht erwarten, all unserer Erfahrung nach, dass dem Hoch ein Tief folgt? Weiten wir nur unseren Blick genug, ziehen ihn über eine Dauer. Wir versuchen durch Abstandhalten die Kurve abzuflachen, den Berg nicht zu steil zu machen, damit er für uns übersteigbar bleibt. Auch für jene, die keine Reinhold Messners sind, metaphorisch gesprochen. Doch der Berg, der verschwindet nicht. Der steht da. Mitten im Weg. Flacher können wir ihn machen; nicht aber abtragen, zum Verschwinden bringen. Wir können nicht so tun, als wäre der nicht da.
Neben der hohen Sterblichkeit zur einen Zeit gibt es eine niedrige zu einer anderen. Wir können ein Mittel ermitteln zwischen dem höchsten Punkt der Kurve und dem niedrigsten und sehen, wie sich das oberhalb und unterhalb ausgleicht. Viele Wandernde machen sich so zunächst ein Bild über die Lage, über die Anstrengung, die wohl aufzubringen sein wird, um eine Strecke zu meistern. Denn sie haben Karten mit Höhenlinien. Vorausgesetzt ist freilich, dass sie diese lesen können.
Vielleicht nicht in einer Zeitspanne von einer Woche, vielleicht auch nicht in einem Monat oder dreien kann das ausgleichende Moment der Zeit beobachtet werden. Ziehen wir die Dauer eines Jahres heran, wird es schon balancierter. Und je weiter wir den Blick wagen, desto waagrechter wird die Mittellinie – perfekter Ausgleich, Gleichgewicht. Es wird nicht mehr und nicht weniger gestorben. Die Mittellinie steigt nicht und fällt nicht. Es wird einfach gestorben.
Mit Geburten, beiläufig, können wir das Gleiche machen. Und wenn wir alle Wanderungen unseres Lebens exakt protokolliert hätten, würden wir vielleicht erstaunt feststellen können, dass wir weder höher noch niedriger sind als wir es am Beginn unserer Lebenswanderschaft waren.
Eine hohe Sterblichkeit jetzt bedeutet so eine niedrige davor oder danach. So kann der Blick ausgerichtet werden. Zur Zeit, schauen wir in die Zukunft, wird früher gestorben. Wenden wir den Blick in die Vergangenheit, stellen wir womöglich fest, dass jetzt später gestorben wird. Die Sterblichkeit der letzten, mal einfach so einen Rahmen gesetzt, zehn Jahre also recht niedrig war, relativ zu einer Mittellinie. Und so betrachtet – der Mensch ist ja gerne, es kann schon gesagt werden, allein der Augen wegen: natürlicherweise, nach vorne gerichtet und kann so nur das Leben leben, welches er jedoch nur rückwärts verstehen kann – wird früher gestorben in diesen Zeiten.
Doch gestorben wird immer. Mir scheint – wirklich zum Staunen bringt es mich jedoch nicht – diesen Aspekt des „Gestorben wird immer.“ verdrängen wir, wollen ihn nicht wahrhaben.
Und mich deucht, wenn ich mir die Diskussion um das Sterben in SARS-CoV-2-Zeiten so anschaue, ein sich mir zeigendes Bild in der Medienlandschaft also studiere, ein langes Leben wird wie eine Leistung angesehen. „Ohhh, hundert Jahre! Was für eine Leistung! Glückwunsch!“ Und wer früher stirbt, ist halt nicht nur länger tot, er oder sie war halt nicht so leistungsfähig wie sie hätten sein können, im Vergleich zu anderen, erfolgreicheren Vertreter:innen ihrer Art. Sie haben sich wohl zu wenig angestrengt in ihrem Bemühen gesund zu leben. Hätten sie mal den Gesundheitstracker gehabt und mehr Sport getrieben, weniger Nikotin, Koffein, Alkohol, Fett und dergleichen mehr konsumiert, dann würden sie heute noch quietschfidel leben! Und wer im Alter nicht mehr so kann, na, der hat doch früher was falsch gemacht! Erfolg ist schließlich berechenbar! Sonst wär’s ja auch nicht die erwartbare Folge von irgendwas, beiläufig angemerkt.
Ein langes Leben ist nicht das Produkt irgendeiner Leistung. Es ist vor allen Dingen: Glück. Oder Pech, wenn man sich vor Schmerzen windet, dahinsiecht und schon wünscht, zu sterben. Weil man es sich besser vorstellt als zu leiden. Freilich wird da außer Acht gelassen, dass nach dem Stand unseres allgemeinen wissenschaftlichen Verständnisses, nach dem Tod nichts mehr da ist, dass leiden oder nicht leiden könnte. Doch das ist ja nun auch Ansichtssache. Manche erfüllen sich mit der Vorstellung eines Paradieses den Wunsch nach einer unendlich langen, immerwährenden, nie vergehenden, vollkommen leidlosen Existenz. Was für eine Leistung! Gibt’s freilich nur für die Besten unter den Besten! Nur die Harten kommen in den Garten! Nun … die Weichen stellen die Weichen.
Messen wir doch nicht die Lebensspanne aus und bewerten sie, wie wir die Arbeit eines Sportlers mit Stoppuhr und Maßband vermessen. Ein Leben dauert so lange, wie ein Leben dauert. Gesund lebende Menschen können früh sterben, ungesund lebende lange leben, und umgekehrt ist es genauso gut. Für Letzteres ist Altbundeskanzler und vergangene ehrwürdige Instanz als Vernunft der Nation Helmut Schmidt ein Beispiel; für’s Erstere gibt’s vermutlich auch Beispiele zuhauf, Prominente wie Normalverbraucher:innen.
Weshalb oder wozu das so ist, mit dem Sterben und dem ganzen Rest, weiß wohl niemand und ich meine: Das kann niemand wissen. (Außer dem, der die Absicht hat, eine Mauer zu errichten, freilich.) Muss auch keiner wissen. Das vergällt einem am End’ nur die Lebensfreude. Hindert daran, behindert uns, ein gutes Leben zu führen, das Leben gut zu führen. Und ein Leben, das 30 Jahre währte und voller Freude, Lust und Abenteuer war, ist für einige nun mal einem 90 Jahre währendem, mit Leid und Qual und Schmerz, vorzuziehen. Andere wieder machen ein Heldentum daraus, dieses Leid, das mit einem hohen Alter einhergehen kann und keineswegs muss, stoisch zu ertragen. Vielleicht auch: gläubig hinzunehmen. Nur mal um das Terrain der Möglichkeiten kurz zu umgrenzen.
Doch im Hintergrund, für uns vielleicht unbemerkt, schwingt möglicherweise immer ein Gedanke mit, ein echter Hintergedanke also. Unbemerkt, doch nicht wirkungslos. Ein Hintergedanke in den wir, zumindest ist das wohl für die Jüngeren richtig, hineingeboren wurden, mit dem wir aufgewachsen sind, den wir wenig reflektieren, weil er uns so vertraut ist: „Was für eine Leistung!“
Machen wir uns ehrlich: Kann das glücklich machen? Manche, ja. Doch eben nicht alle. Und nur weil es für manche hinnehmbar ist, muss es für alle gelten? Das Leistungsprinzip ist eine Form der Lebensführung, der Lebensgestaltung, der Weltanschauung. Nicht mehr, nicht weniger. Und nur weil vielleicht viele diesem Prinzip folgen, und man insgesamt damit vielleicht sogar erfolgreich ist, muss es deshalb noch lange nicht richtig sein. Eine Pandemie mit ihrem Streben nach Sterben kann das in Szene setzen, skizzieren. Wir können uns ein Bild davon machen. Und uns daran erinnern, das wir stets im Angesicht des Todes unser Leben leben. Er ist unvermeidbar. Ein Berg, den wir nicht übersteigen können, auch wenn er nur als ganz flaches Hügelchen daherkommt. Niemand wird den Gipfel überqueren. Keine und Keiner. Niemand kann besser sein als der Tod.
Tja, wir haben uns Sisyphos eben als glücklichen Menschen vorzustellen. Denn er erlebte die Vergeblichkeit eines unmöglichen Unterfangens Stunde um Stunde, erfuhr es am eigenen Leib, war befreit von jedem Zweifel darüber. Dann können wir auch sterben. Fürchten uns nicht, na, ehrlich: weniger davor, auch wenn’s nach wie vor eine unangenehme Vorstellung ist, die wir gerne ins hinterste Kämmerchen unseres Wesens, Denkens, Sprechens, Handelns, Vorstellens verdrängen.
Und wenn wir das schaffen, dem Tod ins Auge sehen können, dann führen wir unser Leben gut. Sofern, das sei einschränkend dazu gesetzt, dieser Blick auf den Tod nicht mit einem verachtenden Hintergedanken wie »Hunde, wollt ihr ewig leben?« einhergeht. Und wir werden feststellen, dass es keine bessere oder schlechtere Weise gibt, dem Tod ins Gesicht zu schauen. Denn sein oder ihr Blick auf uns ist stets derselbe. Völlig egal, ob ein Helmut Schmidt mit 97 oder Lise Müller mit 28 vor ihm steht. Ein gutes Leben führt und wird geführt gehabt haben, wer den Anblick ohne Lob und Tadel erwidern kann.
Das zu üben, dafür haben wir ein ganzes Leben lang Zeit. Und, das zeigt SARS-CoV‑2 und Covid-19, auch immer wieder Gelegenheit dazu. Mal mehr, mal weniger. Im Moment mehr. Doch über und unter dem Strich…
Nur das auch zu wagen, dass haben wir beizutragen. Das ist unser Beitrag zu einem guten Leben. Vom Rest haben wir nur wenig in der Hand. Auch wenn uns das gerne anders erscheinen mag. Weil wir Menschen sind. Und den Tod fürchten. Wozu wir allerdings nicht verdammt sind. Denn wir haben der Furcht vor dem Tod, der Befürchtung des nicht-Seins, etwas entgegenzubringen. Nicht als Widerstand, sondern als eigentümlich zwanglos zwingend besseres
Argument: Lebensmut.
Und so kann der Titel dieses Beitrages dann verkürzt werden: Lebe und wachse.