Nietzsches »Jenseits von Gut und Böse«, nur anders.
Das „Jenseits von“ dieser Betrachtung ist das Jenseits von Mythos und Logos und will nun überhaupt keine Theologie als Grammatik verstehen (Wittgenstein/Luther) oder andere Tricks einsetzen, um über etwas zu reden, wovon notwendigerweise nur geschwiegen werden kann. Dies Jenseits ist gefasst in Sprachlosigkeit, über die gesprochen werden soll, auch wenn sie eben nicht direkt ausgesprochen werden kann. Denn in dieser Sprachlosigkeit verschwindet der Mensch ja nicht. Er bleibt ja da — nun eben als Natur‑, nicht als Kulturwesen. Seine Lebenswelt mag da seine Grenze finden, seine natürliche Weltlich- und Wirklichkeit nicht.
Und was ist er nun als solches Naturwesen? Eine „blonde Bestie“ wie ihn Nietzsche terminierte? Oder doch letztlich ein Geistwesen, wie es Esoteriker/innen wohl andenken? Oder ein geistliches, vergeistigtes Wesen, wie sie in Kirchen durchaus anzutreffen sind?
‚Geist‘ sei hier als zur Natur des Menschen gehörend und ihn zur Kultur befähigend gedacht. Doch dieser ‚Geist‘ scheint weder Gott noch Wille, noch sonstiger jenseitiger, ‚höherer‘, übersinnlicher Art und Weise zu sein; noch scheint er rational begreifbar, noch vernünftig erfassbar zu sein. Er ist einfach ‚da‘. Es ist wirklich: „da sein“ (Heidegger). Er ist Teil unserer Natur, entsteht in unserem Körper, der dann eben als ‚beseelt‘ erscheint, unserer Selbstwahrnehmung wie der Wahrnehmung anderer nach. Und so manche glauben daran, dies käme eben von einem wie auch immer gearteten ‚Oben‘. Doch wir können den ‚Geist‘ nicht fassen – wie das Geister ja so an sich haben sollen –, weder begrifflich noch empfindend und er wird wohl auch nicht direkt vermessbar sein. An der Kultur bemerken wir ihn, da manifestiert er sich, wird ‚sichtbar‘, doch eben nur als Epiphänomen, nicht als Phänomen an sich. Der ‚Geist‘ an sich ist für uns nicht erreichbar (Kant). Vielleicht, weil er eben stets ‚im Begriff ist zu sein‘ und so kein positives Sein hat, also: immateriell bleibt. Negativ.
Und ich bleibe dabei: dieser ‚Geist‘ hat keinen Willen; ist reines Medium, purer Vermittler. Vermittelt zwischen biologischem Körper und natürlicher Welt, i.F. „Naturwelt“, zwischen Denken und Handeln, Vorstellen und Wille (Schopenhauer). Und (v)erschafft als ‚Zwischen‘ Lebenswelt.
Und manche, weil sie Nicht-wissen-können nicht ertragen können, geben diesem ‚Geist‘ eine Gestalt: Gott. Natur. Kultur. Und einen Willen, ein Gesetz, ein letztendliches Ziel bekommt diese Gestalt gleich mit. Und all dies sind jedoch eben nur ‚Henkel‘ (Figal), mit denen sich unser Rechnen der Welt habhaft macht. Stellen wir dieses Rechnen ein, beschränken uns völlig auf das Denken, also das Vernehmen dessen, was ist, verschwindet die Lebenswelt zur Gänze. Da(s) ist die Natur des Menschen: Reg- und tatenlos, also willenlos, absichtslos, sitzt er da, ‚im Begriff zu sein‘, also: im Werden. Wenn er nichts tut, wird er so sterben. Das ist, wie Nietzsches „Wille zur Macht“ ‚gelesen‘ werden kann — also Sinn ‚zwischen den Zeilen‘ herausgepickt wie einst die Beeren im Weinberg: der Mensch muss etwas tun, um zu überleben. Er kann dieses Tun unterlassen, doch dann stirbt er. Der Mensch muss etwas tun, machen, mächtig, tätig sein, um zu überleben. Von allein geht da gar nichts. Anders eben als beim Tier, welches über einen solchen bremsenden, will meinen: werdenden ‚Geist‘, nicht verfügt. Für sich immer schon ist, und ohne selbigen eben weitaus unangestrengter überleben und sich fortpflanzen kann. Man könnte fast meinen, der Mensch hat sich als Tier, welches er einmal war, als völlig ungeeignet erwiesen. Bis ‚Geist‘ in ihm entstand. Ohne jenen wären wir verschwunden wie die Dinosaurier.
Ist der Mensch also nur ein Mängelwesen (Gehlen), so betrachtet? Eher nicht, sondern vielmehr im Gegenteil: Er ist mit ‚Geist‘ überfüllt. Dieser ‚Geist‘, Ausbremser des Lebens, weil er den Menschen im ‚im Begriff sein‘ festhält. So gesehen hält der ‚Geist‘ den Menschen fest: ein festgestelltes, angenageltes Tier.
Und es ist eben der Wille, für uns vernehmbar als Wollen, der den Menschen aus der Untätigkeit holt und ihn Kleider machen lässt, Fleisch jagen und kochen lässt, Hütten bauen lässt, etc. pp., ihn der Feststellung enthebt. Der Wille, z. B. als Hunger vernommen, und das Wollen, welches ihn die nächste Pommes-Bude ansteuern lässt. Genauer: mittels dessen er diese ansteuert, Wahl ist Wahl, da beißt die Maus keinen Faden ab. Der Wille, metaphorisch, vielleicht buddhistisch, gesprochen: der Durst, ist es, der den Menschen aus seinem ‚im Begriff sein‘ herausholt, ihn in Bewegung setzt, aus seiner Untätigkeit, Unmächtigkeit, zu dem ihn dieser vermaledeite ‚Geist‘ mit seinem ‚im Begriff sein‘ verdonnert. Der Mensch muss sich gegen seinen ‚Geist‘ durchsetzen, will er überleben. Er braucht den Durst, sein ‚Geist‘ käme nie auf die Idee, etwas zu trinken. Wozu auch? Er ist ja „eh da“.
Und dieser Durst ist eben eine Angelegenheit des Körpers, nichts nicht-Körperliches, ‚Geistiges‘. Der ‚Geist‘ ist die Bremse des Motors, der Antagonist des Willens. Und ohne diese Bremse, ein „geistloser Mensch“ also, wäre ein Mensch, der sich selbst verzehren würde, in unersättlicher Gier. Allein der ‚Geist‘ mit seiner Manifestation des Denkens, des Vernünftig seins, des Gewahr werden könnens was ist, hält ihn davon ab, die Erde, sein Habitat, bis zum letzten Tropfen auszutrinken, auszubeuten — zu zerstören.
Moment! Da stimmt doch was nicht! Mensch macht doch genau das! Zumindest ist er, Klimawandel nur als ein Beispiel, auf dem besten Wege das Tier in ihm mehr und mehr zu entfesseln, zu befreien, zu entfalten – das Tier, es ist noch nicht festgestellt, der Hund noch nicht an der Leine. Er entgeistet sich, sein Wille bricht sich in ungezügeltem Wollen Bahn. Die Vernunft versagt, das gierige Tier bricht hervor, wie ein Leitwolf stürzt es sich auf sein Lamm um es zu vertilgen, vom Hunger – Neugeborene haben Hunger, der gestillt sein will, nicht Durst, der zu löschen wäre – getrieben.
Eine Manifestation dieses Wollens ist der Verstand. Immer ausgeklügeltere Techniken verschafft sich der Mensch mit ihm, um die Erde, ach was: das Universum! sich Untertan zu machen, um Herr zu sein in der Naturwelt — wenn seine Lebenswelt schon auf’s Sprachliche begrenzt ist. Und da wird dann eben nicht mehr nach irgendwelcher Moral gefragt, sondern allein der Nutzen ist der Maßstab. Da steht er dann, im Jenseits von Gut und Böse. Meint er. Tatsächlich: Mittendrin.
Will Mensch zu seiner Natur finden, kann er mehr ‚Geist‘ wagen. Nicht in Form dogmatischer Kirchen oder entfesselter Kunst noch sonstiger konstruierter Ethiken und Ästhetiken, die ja letztlich auch nur Techniken sind. Nein, in diesem stillen, ohne Absicht seiendem Dasitzen, Dasein, ‚im Begriff sein‘, diesem … moralisch sein, indem er sich so außerhalb der Ethik von Gut und Böse hinstellt, sich außerhalb des Widerspruchs begibt, da(s) ist seine natürliche Korrektur — es braucht keinen Gott mehr, der kann tot sein. Der entfesselte Verstand hingegen gehört nicht zu seiner Natur, er ist ein kulturelles Gut. Die Evolution hat einen vernünftigen Menschen hervorgebracht — doch er missversteht sich als verständiges Wesen. Und da er sich mittels des Verstandes mit den Regeln der Rationalität, des Nutzens, des Rationellen immer wieder auf’s Neue vor sich selbst rechtfertigen kann, wird sein „Wille zur Macht“ schließlich das Universum besiegen. Und die Logik gibt ihm Recht. Und reicht die nicht, ist’s die Grammatik, die ihn dazu befähigt. Passt auch das nicht, wird’s eben eine Theologie oder das reine Glauben. Gottgegeben, zu Recht verfertigt.
Ob zu seinem Wohl, bleibt freilich dahingestellt. Denn es ist leicht sich vorzustellen, wohin dieser Siegeswille – der aus nichts anderem geboren wird als aus der puren Furcht vor dem nichttätigen, unmächtigen Dasein, weil dies für ihn den Tod bedeutete – radikal zu Ende gedacht, führen wird: Zur Selbstbeherrschung. Doch diese ist dann eben eine Selbstvernichtung.
„So ist die Natur des Menschen, er ist sich selbst ein Wolf, Homo homini lupus!“ (Hobbes).
Nein. So ist seine Kultur. Das verwirklichte Märchen vom bösen Wolf und den sieben Geißelein. Oder jenes vom Rotkäppchen und dem bösen Wolf. Nur den Jäger (w/d/m), der den Menschen aus dem Bauch seines Wolfseins befreit, den gibt es nicht. Das müsste ja ein ‚Übermensch‘ sein, von ‚Oben‘ kommen. Und so wird dieses realisierte Märchen dann kein gutes Ende finden. Im Gegensatz zu dem, welches er erfunden hat. Ironie des Schicksals.
Außer (je)der Mensch entdeckt in sich den Jäger. Seinen ‚Geist‘.