Christian Bermes: Meinungskrise und Meinungsbildung. Ein Lektüreeindruck.
Mit wachsender Begeisterung las ich den, bereits in zweiter Auflage erschienenen, Essay von Christian Bermes, Philosophie-Professor an der RPTU, Campus Landau. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil ich viele meiner eigenen Gedanken zu „Meinung“ dort wiederfand — durchaus eine Bestätigung. Das erfreut einen ja stets, die eigenen Gedanken bei fremden Geistern wiederzuentdecken.
Das Buch konnte ich keinesfalls als eines lesen, das mir sagt, was ich meinen soll oder wie ich meinen soll. Für mich war es eher exemplarisch für „wie gedacht werden kann“, dabei nun eben eine Weise – neben anderen, die da bestimmt existieren – darstellend.
„Exemplarisch“ ist denn auch eines der Schlüsselworte meiner Lektüre. Ein Satz, der in verschiedenen Variationen immer wieder in Erscheinung tritt und sich zu Recht wie ein roter Faden durch den Text zieht, lautet:
Eine Meinung als Meinung verstehen heißt, mit Exemplarischen als In-Szene-setzen unter den Bedingungen einer teilnehmenden Erprobung von Aspektivität umzugehen.
Ein recht theoretischer Satz, doch der Autor lässt das Prinzip des Exemplarischen auch in seinem Text walten. Immer wieder, ein zweiter roter Faden, werden die stilistisch sicher gesetzten Worte der Theorie durch Beispiele erläutert („Katzen wachsen nicht auf Bäumen.“) und so auch den Unbehauchteren von akademischer Philosophie ein Zugang zum Gedanken verschafft. Was schert es auch einen Gedanken, welche Kleider er trägt? Sichtbar will er werden, ob nun in königlicher Robe der Theorie oder in den Lumpen des Exempels. Unter beiden Kleidern steckt der gleiche Gedanke, um den es geht. Meiner Lektüre nach: Dieser Akt auf das Wesen des Gedankens zu verweisen ist auch gelungen.
Freilich merkte ich dem Text schon auch an, es mit einem Professor der Philosophie zu tun zu haben, da wird beiläufig ein Verständnisrahmen zur Phänomenologie und Philosophischen Anthropologie vermittelt. Nicht zu tief, freilich, gerade das für’s Verständnis des Textes erforderliche Quantum, doch dabei eben auch nicht seicht. Der Text stellt schon auch Ansprüche an die Leserschaft. Doch Professor*n sind nun mal eben auch, und so soll es ja wohl auch sein und der Job bringt es halt mit sich, Lehrende — und nicht nur beamtet beatmete Wissensverschaffer*n.
Doch Befürchtungen einer philosophisch unakademisierten Leserschaft, am Text zu scheitern, sind schwerlich auszumachen, auch wenn der Titel als philosophischer und nicht als Wald-&-Wiesen-Essay firmiert. Das nun freilich ein gewagter Zug im akademischen Spiel, sich mit literarischer Philosophie – nennen wir mal das Genre, unter der diese Form der Essayistik wohl einordbar ist, so – in die Niederungen des profanen Denkens zu begeben. Doch nicht aus Versehen gelangte der Titel auf die Shortlist des tractatus-Preises 2022, neben Titeln von Peter Sloterdijk und Jörg Scheller. Der tractatus Preis steht nach eigenen Bekunden des „Philosophicum Lech“ für eine als Text verfasste Philosophie, die sich am Rapunzelhaar allgemeiner Verständlichkeit vom Elfenbeinturm herablässt und sich unter’s Volk mischt, um mit ihm zu denken. Durchaus alltagstauglich. Herr Wittgenstein lässt schön grüßen, wohl.
Meine Lektüre vermisste eine mich befriedigende Erläuterung zum Wort „Doxa“, diese rezensionale Kritik sei erlaubt, dabei nicht ausschließend, bei der einmaligen Lektüre etwas überlesen zu haben. Bei Hanna Arendt konnte ich fündig werden und zur Vokabel „scheinen“ gelangen, was der Meinung wohl auch ihren zweifelhaften Ruf bescherte als „Schall-und-Rauch-Äußerung“ und es so von einem aufklärerischen Geist, dem es nach Wissen dürstet, auf dass er die Welt vorhersagen könne, gerne in eine Schmuddelecke gleich neben dem Glauben gestellt wurde. Doch „scheinen“ im Sinn der Doxa erscheint mir nun als ein ganz wesentliches Moment im Umgang mit „Meinung“. Womit nun, mit meinen Augen betrachtet, try to walk in my shoes, auf eine zweite zentrale Wendung hingewiesen werden kann: »Entschiedene Unentschiedenheit«. Diese Haltung, die eine Meinung eben als etwas Schwebendes auffasst, Unentschieden eben, auf Probe, Aspekte wägend, und stets in der Mühewaltung, diese Schwebe zu halten. Letztlich: Urteilsenthaltung. Durchaus ein zentraler Begriff der phänomenologischen Methode. Und aus dieser Urteilsenthaltung heraus eben das Geviert eines Themas erschließend. Meinen, der Explorator des Ge- wie Vermeinten.
Ein weiterer Clou ist das Wort „Stellung“:
›Leben‹ ist, wie Plessner es prononciert ausführt, sicherlich das erlösende Wort im Übergang zum 20. Jahrhundert für die Philosophische Anthropologie, vielleicht sogar auch noch heute. Die Schlüsselwörter dieser Disziplin sind jedoch ›Stellung‹ und ›Stellungnahme‹ bzw. ›Stellungnehmen‹. Will man die Philosophische Anthropologie nicht mit allen möglichen Vorannahmen von außen überfrachten – und die Frage nach dem Menschen bietet sich dafür wie keine andere an –, dann ist es ratsam, das Vorhaben weniger von außen zu bewerten als aus dem Maschinenraum der Philosophischen Anthropologie heraus zu begreifen. Und hier zeigt sich, dass die Philosophische Anthropologie zuvörderst als eine Philosophie des Stellungnehmens verstanden werden kann.
Und das Meinen so dann flugs als grundlegende Disziplin des Menschseins in kultureller und politischer Hinsicht aufgefasst, denn stets sind wir zu den Dingen relationiert, die uns umgeben, sei’s als Sache, sei’s als Ansicht. Wir sind zum Stellung einnehmen verdammt – der militaristische Anklang sei nicht verhehlt, wie oft laufen Debatten als Gefechte, als ginge es um einen Sieg, der zu erringen und der Andere als „Gegner“ zu eliminieren sei. Aufeinander bezogen sein, als conditio humana verstanden, weswegen es nicht gelehrt werden kann, sondern zu üben ist. Meint jedenfalls der Verfasser dieser Zeilen hier.
Und, hier sei auf ein erfrischendes Leseerlebnis hingewiesen, wie leicht für ein assoziierfreudiges, ästhetisches Gemüt es mit dem Text möglich ist, „In-Szene-setzen“ und „Stellung“ zu verknüpfen. Und um das nun recht einzuordnen, sei auf den Unterschied zur Inszenierung hingewiesen. Instagramm ist Inszenierung, BeReal In-Szene-sein — zumindest wohl den Ideen dieser Akteure „sozialer Medien“ (Beiläufig: Welches Medium ist denn nicht sozial?) nach. Im Text wird Bezug genommen auf einen Autor, Wolfram Hogrebe, der zur szenischen Verfasstheit des Menschen einiges zu sagen hat.
Weiteres bemerkenswertes Lemma für den hier über das Buch sinnierenden Text ist „Reziprozität“. Kommt wieder recht akademisch daher – doch wie gesagt: schon auch, wenn auch bewältigbarer, Anspruch an die Leserschaft – und der Duden erklärt: »Gegen‑, Wechselseitigkeit, Wechselbezüglichkeit«. Dies nun, man staune, ein zentrales Moment manch’ buddhistischer Philosophie und Praxis. Weshalb nun dieser interkulturelle Hinweis? Zum einen, weil es lohnt darauf hinzuweisen, dass der Autor des Essays Berührungspunkte mit China hat und ich als interkulturell beschlagener Leser doch hin und wieder den Blick über den eigenen Kulturrand im Text meinte bemerken zu können, zwischenzeilig. Und weil der kulturell-transzendente Fingerzeig dem hier Sinnierenden als wertvoll erscheint, denn „Meinen“, so kann aus dem Text ‚gelesen‘ werden wie die Trauben im Weinberg, ist etwas, das sich zwischen Menschen ereignet. So gesehen bekommt der Schreiber dieser Zeilen urplötzlich Schwierigkeiten, noch von „meiner Meinung nach“ vernünftig reden zu können. Wenn Meinen etwas ist, das zwischen Menschen entsteht und die Beteiligten so je ihre Meinung bilden können — dann sollte man dieses Meinen schauen und es unter das Dach der Theorie stellen, wenn auch vielleicht irgendwo eher am Rand. Meinen als Theoretisieren mit zumindest intersubjektiven Anspruch? Da staunt die Laienschaft und der Fachmenschheit wundert sich!
Und für diese Reziprozität ist es nun für alle Seiten unerlässlich, zum Anderen Distanz einzunehmen. Nicht zu nah, man will ja niemanden auf die Pelle rücken, nicht zu weit, man will ja niemandem indifferent übersehen. So findet der Text des Buches das schöne Wort „Halbdistanz“, um der für das gemeinsame Meinen unerlässlichen Achtung Ausdruck und Raum zu geben. Ein Zwischenreich, ein Metaxy, das sich da den Willigen eröffnet.
Über das Buch in sachlicher und fachlicher Hinsicht zu urteilen, überlasse ich getrost jenen, die sich dazu berufen fühlen. Dem Sinnierenden hier ging es um die Schaffung eines Henkels, der zur eigenen Lektüre anregt und den Text „anfassbar“ macht. Mich hat der Text dann auch dazu angeregt, mir Gedanken zu machen zum Meinen, vor allem freilich zum eigenen Anteil an diesem, letztlich politischen, also zwischenmenschlichen Akt. Und es hat sich für mich mit dieser reflektierenden Lektürehaltung gezeigt, wie wichtig das gut geübte Meinen, die Kultur und Kunst der Doxa, ist, um in Wirklichkeiten, deren Komplexität – wie vermutlich immer schon – Zuwachs erfährt in vielerlei Hinsicht, auch ohne Wissen und Glauben orientiert sein zu können.
Das Meinen, so mein auf wenige Worte eingedampftes Resümee für diesen m. E. n. wirklich lesenswerten Essay, ist ein unterschätzter Kompass.
Bermes, Christian:
Meinungskrise und Meinungbildung.
Eine Philosophie der Doxa.
Meiner, Blaue Reihe, Hamburg, ²2022.
126 S., kartoniert, 14,90€
e_book: 9,99€
Linksammlung | 22.2.23:
Website von Christian Bermes
tractatus-Shortlist 2022
Der tractatus-Preis
Hannah Arendt zur „Doxa“
Wikipedia: Instagramm
Wikipedia: BeReal