Über Kultur & Natur, Verstand & Vernunft, Erkenntnis & Einsicht. Über den Menschen. Als Tier.
Inwieweit kann über das Leben philosophiert werden im Sinne: eine ‚Wahrheit‘, (objektive) ‚Erkenntnisse‘, ‚Wissen‘ zu (er)finden?
Inwieweit findet sich die Philosophie des Lebens darin: es einfach zu leben, das je eigene Leben, wie es sich für ein Individuum ergibt, ergeben mag, ergeben will?
Darin, das je eigene Leben für sich zu bejahen, in aller Konsequenz — und über so gewonnene ‚Ansichten‘, (subjektive) ‚Einsichten‘, ‚Weisheit‘ sich, durchaus sich selbst und gegenseitig kritisch hinterfragend, auszutauschen, den eigenen Horizont so also erweiternd.
Inwieweit wäre eine Philosophie des Lebens also weniger erkenntnistheoretisch zu fundieren und ist mehr in der verstetigten Übung einer Einsichtspraxis zu begründen? Inwieweit soll sie also nicht ‚Wissen‘ der ‚Wahrheit‘ zum Ziel haben („Macht“), sondern ‚Mut‘ zur ‚Wirklichkeit‘ („Vermögen“) vermitteln?
Inwiefern wäre ein Austausch von, also Handel mit, Einsichten einem Angreifen und Verteidigen, einem Krieg der Erkenntnisse, vorzuziehen?
Ist denn ein Kampf um die Wahrheit wirklich so erstrebenswert? Sollte nicht das Augenmerk auf das Verhältnis zur Wirklichkeit gerichtet sein — auch und gerade in der Philosophie? Führt sich denn ein Leben gut, lässt es sich gut führen, wenn es sich allein auf Erkenntnisse des Verstandes stützt?
Ist Wahrheit denn nicht: ein Konstrukt unserer Wirklichkeit, unserer Verwirklichung als Menschen? Tiere kennen keine Wahrheit, nur Wirklichkeit. Was nutzt uns Menschen denn diese Wahrheit, eigentlich?
Vielleicht dient sie letztlich nur dazu, uns nicht gegenseitig zu vernichten. Und doch kann sie auch gedacht werden als Antreiber genau dieser Selbstvernichtung. Die Kriege auf dem Gebiet der zur Religion überhöhten Weltanschauungen singen da ja ein lautes Lied. Ein Klagelied, wohl.
Der Verstand, der die Wahrheit sucht, gar: braucht, mag ein hilfreicher Geselle sein. Doch wenn wir einen Gesellen zum König küren, gibt es da nicht ein Qualitätsproblem? Versagt denn da nicht unsere Vernunft? Geht das nicht an der Wirklichkeit vorbei?
Die Wahrheit ist ein Konstrukt unseres Geistes. Um zu leben, brauchen wir keine Wahrheit. Sie ist eine Architektin unserer Kultur, kein Arzt unserer Natur. Wir werden auch immer Tiere bleiben. Tiere die Hunger haben und Durst. Tiere, die sich vermehren wollen. Tiere, die ihr Revier verteidigen. Tiere, die kämpfen. Tiere, die überleben wollen. Dieses Tier geht nicht weg, es ist immer da. Unsere Kultur ist ein natürlicher Überbau. Und von dem aus haben wir das Tier im Menschen festzustellen, zu konstatieren. Kein Weg führt daran vorbei. Diese Sicht ist vernünftig, auch wenn der Verstand sich gegen diese Wahrheit wehrt. So Manche wollen das nicht wahrhaben, das Tier im Menschen fürchtend.
Ob dieses Tier ein Wolf oder ein Lamm ist, ein Wal oder Haifisch, ein Orka oder Walhai, das liegt in der Macht des Menschen. Und kein Mensch ist seinem Tier ausgeliefert, prinzipiell. Wir sind die Dompteure unseres Tiers in uns. Da sind die Krieger: gezüchtete Haifische. Da sind die Kämpfer: gezüchtete Gnus. Und da sind eben die friedlichen und unfriedlichen: gezüchtete Tiere. Abgerichtet.
Wer es nicht schafft, seinen „Willen zur Macht“ für sich selbst zu nutzen, wird ein Sklavenleben führen müssen. Ja? Nein! Sie kann genauso ein Herrenleben führen. Doch die Macht über die Macht, die hat nicht, wer sich nicht darauf versteht, seinen „Willen zur Macht“ für sich nutzbar zu machen. Er wie sie werden ein Herdentier sein. Auch Leithammel und ‑löwinnen sind: Herdentiere. Mag eine Herde auch als Rudel daherkommen.
Der vernünftige Mensch sucht doch die Freiheit, die Wahl. Die Verantwortung damit, auch. Das ist die Wirklichkeit des Menschen, in eben dieser Freiheit zu stehen. Was heißt: zu suchen braucht er sie nicht, er hat sie schon. Nur sie auch zu leben, das traut er sich noch nicht. In 10000 Jahren wird die Welt anders aussehen.
Er misstraut seiner Natur. Sieht sie als Dunkles, Bedrohliches, Unbeherrschbares. Schafft Wahrheiten, um das Dunkel zu beherrschen. Und ist von seinem eigenen Licht geblendet. Sieht nicht, versteht nicht, dass er nur sich selbst beleuchtet — doch erklärt so die ganze Welt.
Das Monster des Menschen steckt doch in seiner Kulturfähigkeit, die Kultur ist das Monster, das er fürchten sollte. Seiner Natur nach ist der Mensch vernünftig — und seine Natur hat sich bisher immer durchgesetzt. Noch ist die Menschheit nicht durch eine Apokalypse von der Bildfläche des Universums verschwunden. Doch Hochkulturen verschwinden irgendwann, da reicht ein vernünftiger Blick in die Geschichte völlig aus.
Und diese Kulturfähigkeit — gehört zu seiner Natur. Sie ist das Tier, das es zu bändigen gilt. Die Vernunft, die Natur des Menschen, ist Herr über den Verstand, die Kultur des Menschen. Der Verstand ist ein Knecht, kein Herr. Und im Grunde ist der Mensch: Chaotisch. Vernünftig. Doch das schmeckt seinem Verstand nicht, der das Chaos fürchtet. Weil es ihn desorientiert, wenn er keine Regel entdecken kann, nichts vorhersagen kann. Der Mensch fürchtet sich, wenn er nicht wissen kann, was ihn erwartet. Zumindest verunsichert es ihn, weshalb ihm der Verstand mit auf den Weg gegeben wurde. Oder, darwinistischer formuliert: Sich evolutiert hat. Damit er sich nicht so fürchtet.
Der Verstand des Menschen (zer)stört das Klima, der Verstand des Menschen begründet einen Genozid, der Verstand des Menschen lässt ihn Kriege führen — alles im Namen der Wahrheit.
Die Kunst ist kein Produkt der Kultur des Menschen, seines Verstandes — es ist ein Gewächs seiner Natur, des Tieres in ihm, seiner Vernunft. Es ist die Kunst, die den Menschen aus den Miseren, die er mit seiner Kultur selbst geschaffen hat, rettet.
»Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf« meinte Hobbes. Nietzsche könnte, vielleicht, sagen: Der Mensch ist dem Menschen (s)eine Kultur.
Philosophie sollte Kunst sein, nicht Wissenschaft. Vernunft, nicht Verstand. Natur, nicht Kultur. Der Mensch ist ein natürlich philosophisches Wesen und nur kultürlich ein wissenschaftliches.
Bis hierhin alles schön schwarz-weiß, dem Verstande leicht verdaulich. Lassen wir nun Vernunft walten, begeben wir uns also jenseits von wahr oder falsch, Disjunktion und Konjunktion. Betreten wir das Reich der Vernunft. Den Verstand, das Drängen nach Erkenntnis, nach Wahrheit, wahr sein, hinter uns lassend, die Einsicht vor uns. Wenden wir uns dem Chaos zu. Sehen wir nach vorne.
Der vernünftige Mensch ist ganz Natur. Kernig, erdverbunden, unaufgeregt. Bescheiden. Hätte der Mensch keine Kultur, dieser Planet wäre der friedlichste Ort mit der besten Luft und den günstigsten Habitatbedingungen für den Menschen, die sich nur denken lassen. Ein: Paradies.
Wenn da nicht die Mühen der Jagd wären. Und der beengte Raum. Und die Neugier, die Gier überhaupt. Und dann dieser Winter. Und der Sommer erst, je nach Gegend. Nein, dieses Habitat erscheint dem Verstand, dem Bequemlichkeit suchenden Hirn, des Energiesparens wegen, gar nicht so gemütlich. Das Habitat will kultiviert sein, wohnlich hat es zu sein!
Da ist’s dann auch schon wieder vorbei mit der Vernunft, der gierige Schlund der Kultur öffnet sich und verleibt sich das Habitat ein. Die Vernunft für sich allein scheint also nicht besonders stark zu sein.
Um nun also als Menschen uns selbst das Wasser nicht abzugraben vor lauter Kulturdrang und Naturverachtung, bleibt wohl doch nur die Flucht nach vorne: sich jenseits von gut & böse, wahr und falsch, Chaos und Kosmos, Vernunft und Verstand zu begeben. Ein Land, das wir uns gar nicht vorstellen können. Und das es vielleicht – deshalb? – nicht gibt.
Und doch gibt es einen Ort jenseits von: Das Zwischen. Das Zwischen von Natur und Kultur. Das Zwischen von Vernunft und Verstand. Da, wo der Mensch noch Mensch sein darf: Natur mit Kultur, Kultur mit Natur. Vernunft mit Verstand, Verstand mit Vernunft. Chaos mit Kosmos, Kosmos mit Chaos. Ein unmöglicher Ort, eine Utopie, weil in sich widersprüchlich? Nein! Diese Erkenntnis der Widersprüchlichkeit ist ein Widerspruch des Verstandes, wie der vernünftige Mensch sofort einsehen kann. In diesem „mit“ liegt der Schlüssel zur Glückseligkeit. Es vermittelt die Gegensätze vernünftig, die der Verstand geschaffen hat.
Chaos hat auch die Bedeutung jener Dunstschicht zwischen Himmel und Meer. Ursprung der beiden, so zumindest dachten sich das wohl manche in der Antike in Griechenland. Und so können wir auch den Menschen in eben diesem Chaos, in dieser Unbestimmtheit, Unbestimmbarkeit, in dieser Grenze, die nur als Übergang, als Angrenzung und nicht Abgrenzung in den Blick kommt, verorten. So angesehen, kann der Mensch als Schöpfer von oben und unten, von Himmel und Meer, von Apoll und Dionysos, aufgefasst werden — sich selbst jedoch nicht erreichend, im Chaos verschwindend. Ein solches Ansehen des Menschen durch den Menschen selbst kann nun – vielleicht – eben als ein Akt des vernünftigen Verstandes, der verständigen Vernunft interpretiert werden. Es ist Einsicht wie Erkenntnis: erkennende Einsicht, einsichtige Erkenntnis.
Der Mensch: Ein Zwischen. Ein Inter-esse, ein „da, zwischen“, „in Mitten“ sein.