Denkzettel 118

Viel­leicht soll­te in der Phi­lo­so­phie zwi­schen der Philosophie als Wis­sen­schaft, ei­nem ver­stan­des­ge­trie­be­nen, ra­tio­nal-dis­kur­si­ven „Re­den über“ und der Philosophie als Le­bens­art, ei­nem ver­nunft­ge­tra­ge­nen, re­la­tio­nal-nar­ra­ti­ven „Re­den von“, un­ter­schie­den wer­den.

Bei­de äu­ßern sich zur in­tel­li­gi­blen Wirk­lich­keit, die wir mit un­se­ren Wahr­hei­ten zu­sam­men( )bau­en.

(Es ist klar, dass die Philosophie als Le­bens­art mehr (auf)zeigt denn die Philosophie als Wis­sen­schaft (aus)sagen kann. »non vi­tae sed scho­lae di­sci­mus« — nicht für die Wis­sen­schaft, für das Le­ben soll­ten wir phi­lo­so­phie­ren. Gleich­wohl: die Wis­sen­schaft ist Teil des Le­bens.)

Wahrheit & Wirklichkeit

Über Kultur & Natur, Verstand & Vernunft, Erkenntnis & Einsicht. Über den Menschen. Als Tier.

Inwie­weit kann über das Le­ben phi­lo­so­phiert wer­den im Sin­ne: ei­ne ‚Wahr­heit‘, (ob­jek­ti­ve) ‚Er­kennt­nis­se‘, ‚Wis­sen‘ zu (er)finden?

In­wie­weit fin­det sich die Philosophie des Le­bens dar­in: es ein­fach zu le­ben, das je ei­ge­ne Le­ben, wie es sich für ein In­di­vi­du­um er­gibt, er­ge­ben mag, er­ge­ben will?

Dar­in, das je ei­ge­ne Le­ben für sich zu be­ja­hen, in al­ler Kon­se­quenz — und über so ge­won­ne­ne ‚An­sich­ten‘, (sub­jek­ti­ve) ‚Ein­sich­ten‘, ‚Weis­heit‘ sich, durch­aus sich selbst und ge­gen­sei­tig kri­tisch hin­ter­fra­gend, aus­zu­tau­schen, den ei­ge­nen Ho­ri­zont so al­so er­wei­ternd.

In­wie­weit wä­re ei­ne Philosophie des Le­bens al­so we­ni­ger er­kennt­nis­theo­re­tisch zu fun­die­ren und ist mehr in der ver­ste­tig­ten Übung ei­ner Ein­sichts­pra­xis zu be­grün­den? In­wie­weit soll sie al­so nicht ‚Wis­sen‘ der ‚Wahr­heit‘ zum Ziel ha­ben („Macht“), son­dern ‚Mut‘ zur ‚Wirk­lich­keit‘ („Ver­mö­gen“) ver­mit­teln?

In­wie­fern wä­re ein Aus­tausch von, al­so Han­del mit, Ein­sich­ten ei­nem An­grei­fen und Ver­tei­di­gen, ei­nem Krieg der Er­kennt­nis­se, vor­zu­zie­hen?

Ist denn ein Kampf um die Wahr­heit wirk­lich so er­stre­bens­wert? Soll­te nicht das Au­gen­merk auf das Ver­hält­nis zur Wirk­lich­keit ge­rich­tet sein — auch und ge­ra­de in der Philosophie? Führt sich denn ein Le­ben gut, lässt es sich gut füh­ren, wenn es sich al­lein auf Er­kennt­nis­se des Ver­stan­des stützt?

Ist Wahr­heit denn nicht: ein Kon­strukt un­se­rer Wirk­lich­keit, un­se­rer Ver­wirk­li­chung als Men­schen? Tie­re ken­nen kei­ne Wahr­heit, nur Wirk­lich­keit. Was nutzt uns Men­schen denn die­se Wahr­heit, ei­gent­lich?

Viel­leicht dient sie letzt­lich nur da­zu, uns nicht ge­gen­sei­tig zu ver­nich­ten. Und doch kann sie auch ge­dacht wer­den als An­trei­ber ge­nau die­ser Selbst­ver­nich­tung. Die Krie­ge auf dem Ge­biet der zur Re­li­gi­on über­höh­ten Welt­an­schau­un­gen sin­gen da ja ein lau­tes Lied. Ein Kla­ge­lied, wohl.

Der Ver­stand, der die Wahr­heit sucht, gar: braucht, mag ein hilf­rei­cher Ge­sel­le sein. Doch wenn wir ei­nen Ge­sel­len zum Kö­nig kü­ren, gibt es da nicht ein Qua­li­täts­pro­blem? Ver­sagt denn da nicht un­se­re Ver­nunft? Geht das nicht an der Wirk­lich­keit vor­bei?

Die Wahr­heit ist ein Kon­strukt un­se­res Geis­tes. Um zu le­ben, brau­chen wir kei­ne Wahr­heit. Sie ist ei­ne Ar­chi­tek­tin un­se­rer Kul­tur, kein Arzt un­se­rer Na­tur. Wir wer­den auch im­mer Tie­re blei­ben. Tie­re die Hun­ger ha­ben und Durst. Tie­re, die sich ver­meh­ren wol­len. Tie­re, die ihr Re­vier ver­tei­di­gen. Tie­re, die kämp­fen. Tie­re, die über­le­ben wol­len. Die­ses Tier geht nicht weg, es ist im­mer da. Un­se­re Kul­tur ist ein na­tür­li­cher Über­bau. Und von dem aus ha­ben wir das Tier im Men­schen fest­zu­stel­len, zu kon­sta­tie­ren. Kein Weg führt dar­an vor­bei. Die­se Sicht ist ver­nünf­tig, auch wenn der Ver­stand sich ge­gen die­se Wahr­heit wehrt. So Man­che wol­len das nicht wahr­ha­ben, das Tier im Men­schen fürch­tend.

Ob die­ses Tier ein Wolf oder ein Lamm ist, ein Wal oder Hai­fisch, ein Or­ka oder Wal­hai, das liegt in der Macht des Men­schen. Und kein Mensch ist sei­nem Tier aus­ge­lie­fert, prin­zi­pi­ell. Wir sind die Domp­teu­re un­se­res Tiers in uns. Da sind die Krie­ger: ge­züch­te­te Hai­fi­sche. Da sind die Kämp­fer: ge­züch­te­te Gnus. Und da sind eben die fried­li­chen und un­fried­li­chen: ge­züch­te­te Tie­re. Ab­ge­rich­tet.

Wer es nicht schafft, sei­nen „Wil­len zur Macht“ für sich selbst zu nut­zen, wird ein Skla­ven­le­ben füh­ren müs­sen. Ja? Nein! Sie kann ge­nau­so ein Her­ren­le­ben füh­ren. Doch die Macht über die Macht, die hat nicht, wer sich nicht dar­auf ver­steht, sei­nen „Wil­len zur Macht“ für sich nutz­bar zu ma­chen. Er wie sie wer­den ein Her­den­tier sein. Auch Leit­ham­mel und ‑lö­win­nen sind: Her­den­tie­re. Mag ei­ne Her­de auch als Ru­del da­her­kom­men.

Der ver­nünf­ti­ge Mensch sucht doch die Frei­heit, die Wahl. Die Ver­ant­wor­tung da­mit, auch. Das ist die Wirk­lich­keit des Men­schen, in eben die­ser Frei­heit zu ste­hen. Was heißt: zu su­chen braucht er sie nicht, er hat sie schon. Nur sie auch zu le­ben, das traut er sich noch nicht. In 10000 Jah­ren wird die Welt an­ders aus­se­hen.

Er miss­traut sei­ner Na­tur. Sieht sie als Dunk­les, Be­droh­li­ches, Un­be­herrsch­ba­res. Schafft Wahr­hei­ten, um das Dun­kel zu be­herr­schen. Und ist von sei­nem ei­ge­nen Licht ge­blen­det. Sieht nicht, ver­steht nicht, dass er nur sich selbst be­leuch­tet — doch er­klärt so die gan­ze Welt.

Das Mons­ter des Men­schen steckt doch in sei­ner Kul­tur­fä­hig­keit, die Kul­tur ist das Mons­ter, das er fürch­ten soll­te. Sei­ner Na­tur nach ist der Mensch ver­nünf­tig — und sei­ne Na­tur hat sich bis­her im­mer durch­ge­setzt. Noch ist die Mensch­heit nicht durch ei­ne Apo­ka­lyp­se von der Bild­flä­che des Uni­ver­sums ver­schwun­den. Doch Hoch­kul­tu­ren ver­schwin­den ir­gend­wann, da reicht ein ver­nünf­ti­ger Blick in die Ge­schich­te völ­lig aus.

Und die­se Kul­tur­fä­hig­keit — ge­hört zu sei­ner Na­tur. Sie ist das Tier, das es zu bän­di­gen gilt. Die Ver­nunft, die Na­tur des Men­schen, ist Herr über den Ver­stand, die Kul­tur des Men­schen. Der Ver­stand ist ein Knecht, kein Herr. Und im Grun­de ist der Mensch: Chao­tisch. Ver­nünf­tig. Doch das schmeckt sei­nem Ver­stand nicht, der das Cha­os fürch­tet. Weil es ihn des­ori­en­tiert, wenn er kei­ne Re­gel ent­de­cken kann, nichts vor­her­sa­gen kann. Der Mensch fürch­tet sich, wenn er nicht wis­sen kann, was ihn er­war­tet. Zu­min­dest ver­un­si­chert es ihn, wes­halb ihm der Ver­stand mit auf den Weg ge­ge­ben wur­de. Oder, dar­wi­nis­ti­scher for­mu­liert: Sich evo­lu­tiert hat. Da­mit er sich nicht so fürch­tet.

Der Ver­stand des Men­schen (zer)stört das Kli­ma, der Ver­stand des Men­schen be­grün­det ei­nen Ge­no­zid, der Ver­stand des Men­schen lässt ihn Krie­ge füh­ren — al­les im Na­men der Wahr­heit.

Die Kunst ist kein Pro­dukt der Kul­tur des Men­schen, sei­nes Ver­stan­des — es ist ein Ge­wächs sei­ner Na­tur, des Tie­res in ihm, sei­ner Ver­nunft. Es ist die Kunst, die den Men­schen aus den Mi­se­ren, die er mit sei­ner Kul­tur selbst ge­schaf­fen hat, ret­tet.

»Der Mensch ist dem Men­schen ein Wolf« mein­te Hob­bes. Nietz­sche könn­te, viel­leicht, sa­gen: Der Mensch ist dem Men­schen (s)eine Kul­tur.

Phi­lo­so­phie soll­te Kunst sein, nicht Wis­sen­schaft. Ver­nunft, nicht Ver­stand. Na­tur, nicht Kul­tur. Der Mensch ist ein na­tür­lich phi­lo­so­phi­sches We­sen und nur kul­tür­lich ein wis­sen­schaft­li­ches.

Bis hier­hin al­les schön schwarz-weiß, dem Ver­stan­de leicht ver­dau­lich. Las­sen wir nun Ver­nunft wal­ten, be­ge­ben wir uns al­so jen­seits von wahr oder falsch, Dis­junk­ti­on und Kon­junk­ti­on. Be­tre­ten wir das Reich der Ver­nunft. Den Ver­stand, das Drän­gen nach Er­kennt­nis, nach Wahr­heit, wahr sein, hin­ter uns las­send, die Ein­sicht vor uns. Wen­den wir uns dem Cha­os zu. Se­hen wir nach vor­ne.

Der ver­nünf­ti­ge Mensch ist ganz Na­tur. Ker­nig, erd­ver­bun­den, un­auf­ge­regt. Be­schei­den. Hät­te der Mensch kei­ne Kul­tur, die­ser Pla­net wä­re der fried­lichs­te Ort mit der bes­ten Luft und den güns­tigs­ten Ha­bi­tat­be­din­gun­gen für den Men­schen, die sich nur den­ken las­sen. Ein: Pa­ra­dies.

Wenn da nicht die Mü­hen der Jagd wä­ren. Und der be­eng­te Raum. Und die Neu­gier, die Gier über­haupt. Und dann die­ser Win­ter. Und der Som­mer erst, je nach Ge­gend. Nein, die­ses Ha­bi­tat er­scheint dem Ver­stand, dem Be­quem­lich­keit su­chen­den Hirn, des En­er­gie­spa­rens we­gen, gar nicht so ge­müt­lich. Das Ha­bi­tat will kul­ti­viert sein, wohn­lich hat es zu sein!

Da ist’s dann auch schon wie­der vor­bei mit der Ver­nunft, der gie­ri­ge Schlund der Kul­tur öff­net sich und ver­leibt sich das Ha­bi­tat ein. Die Ver­nunft für sich al­lein scheint al­so nicht be­son­ders stark zu sein.

Um nun al­so als Men­schen uns selbst das Was­ser nicht ab­zu­gra­ben vor lau­ter Kul­tur­drang und Na­tur­ver­ach­tung, bleibt wohl doch nur die Flucht nach vor­ne: sich jen­seits von gut & bö­se, wahr und falsch, Cha­os und Kos­mos, Ver­nunft und Ver­stand zu be­ge­ben. Ein Land, das wir uns gar nicht vor­stel­len kön­nen. Und das es viel­leicht – des­halb? – nicht gibt.

Und doch gibt es ei­nen Ort jen­seits von: Das Zwi­schen. Das Zwi­schen von Na­tur und Kul­tur. Das Zwi­schen von Ver­nunft und Ver­stand. Da, wo der Mensch noch Mensch sein darf: Na­tur mit Kul­tur, Kul­tur mit Na­tur. Ver­nunft mit Ver­stand, Ver­stand mit Ver­nunft. Cha­os mit Kos­mos, Kos­mos mit Cha­os. Ein un­mög­li­cher Ort, ei­ne Uto­pie, weil in sich wi­der­sprüch­lich? Nein! Die­se Er­kennt­nis der Wi­der­sprüch­lich­keit ist ein Wi­der­spruch des Ver­stan­des, wie der ver­nünf­ti­ge Mensch so­fort ein­se­hen kann. In die­sem „mit“ liegt der Schlüs­sel zur Glück­se­lig­keit. Es ver­mit­telt die Ge­gen­sät­ze ver­nünf­tig, die der Ver­stand ge­schaf­fen hat.

Cha­os hat auch die Be­deu­tung je­ner Dunst­schicht zwi­schen Him­mel und Meer. Ur­sprung der bei­den, so zu­min­dest dach­ten sich das wohl man­che in der An­ti­ke in Grie­chen­land. Und so kön­nen wir auch den Men­schen in eben die­sem Cha­os, in die­ser Un­be­stimmt­heit, Un­be­stimm­bar­keit, in die­ser Gren­ze, die nur als Über­gang, als An­gren­zung und nicht Ab­gren­zung in den Blick kommt, ver­or­ten. So an­ge­se­hen, kann der Mensch als Schöp­fer von oben und un­ten, von Him­mel und Meer, von Apoll und Dio­ny­sos, auf­ge­fasst wer­den — sich selbst je­doch nicht er­rei­chend, im Cha­os ver­schwin­dend. Ein sol­ches An­se­hen des Men­schen durch den Men­schen selbst kann nun – viel­leicht – eben als ein Akt des ver­nünf­ti­gen Ver­stan­des, der ver­stän­di­gen Ver­nunft in­ter­pre­tiert wer­den. Es ist Ein­sicht wie Er­kennt­nis: er­ken­nen­de Ein­sicht, ein­sich­ti­ge Er­kennt­nis.

Der Mensch: Ein Zwi­schen. Ein In­ter-es­se, ein „da, zwi­schen“, „in Mit­ten“ sein.

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Denkzettel 71

Die Fra­ge ist doch, ob die Fra­ge nach dem Sinn des ei­ge­nen Le­bens über­haupt be­ant­wor­tet wer­den kann, be­vor man ge­lebt hat.
Gleich­wohl kann ich mei­nem Le­ben ei­nen Sinn ge­ben.
Oder aber (zu)schauen, wel­cher sich, für mich, er­gibt.
Das Er­geb­nis kann das Sel­be sein. Dann hat­te man viel Glück.
Un­glück­lich ist wohl, wer dem sich Er­ge­ben­den sei­nen Sinn nicht las­sen kann.

Lebe lang und erfolgreich!

Sterben in Zeiten einer Pandemie.

Viel wird da jetzt ge­gen Boris Palmer ge­wet­tert, ge­gen Wolfgang Schäuble nicht, zu­min­dest so­weit ich die Me­di­en­land­schaft ver­fol­ge. Ob­wohl bei­de im Grun­de das Glei­che sag­ten. Der ei­ne in ju­gend­li­chen, un­er­fah­re­nen Leicht­sinn, der an­de­re mit dem Ge­wicht der hö­he­ren Le­bens­er­fah­rung. Al­lein der Jah­re we­gen, doch oh­ne Schwer­mut.

„Sie müs­sen ster­ben!“ hallt es durch die Ge­sell­schaft.

Ma­chen wir uns doch mal ehr­lich, wa­gen wir es ein­mal: „Aber na­tür­lich müs­sen sie ster­ben.“

Und na­tür­lich er­schre­cken wir an­ge­sichts der ho­hen Zahl an To­ten in Ita­li­en und er­schre­cken, wenn wir uns Bil­der aus New York in Er­in­ne­rung ru­fen. „So vie­le To­te! Ei­ne schreck­li­che Pan­de­mie!“

Mit ei­nem nüch­ter­nen wie er­nüch­tern­den sta­tis­ti­schem Blick, wie wir ihn aus dem Wet­ter­be­richt z.B. ge­wohnt sind, in dem von durch­schnitt­li­chen Re­gen­men­gen und Son­nen­schein­dau­ern die Re­de ist und wie viel noch nach­zu­ho­len oder wie viel im Über­maß zum sta­tis­ti­schen Mit­tel, über Mo­na­te, Jah­re, Jahr­zehn­te, ge­fal­len ist, er­scheint die Sa­che in ei­nem an­de­ren Licht. Ist es mit dem Ster­ben viel an­ders? Kön­nen wir denn nicht er­war­ten, all un­se­rer Er­fah­rung nach, dass dem Hoch ein Tief folgt? Wei­ten wir nur un­se­ren Blick ge­nug, zie­hen ihn über ei­ne Dau­er. Wir ver­su­chen durch Ab­stand­hal­ten die Kur­ve ab­zu­fla­chen, den Berg nicht zu steil zu ma­chen, da­mit er für uns über­steig­bar bleibt. Auch für je­ne, die kei­ne Rein­hold Mess­ners sind, me­ta­pho­risch ge­spro­chen. Doch der Berg, der ver­schwin­det nicht. Der steht da. Mit­ten im Weg. Fla­cher kön­nen wir ihn ma­chen; nicht aber ab­tra­gen, zum Ver­schwin­den brin­gen. Wir kön­nen nicht so tun, als wä­re der nicht da.

Ne­ben der ho­hen Sterb­lich­keit zur ei­nen Zeit gibt es ei­ne nied­ri­ge zu ei­ner an­de­ren. Wir kön­nen ein Mit­tel er­mit­teln zwi­schen dem höchs­ten Punkt der Kur­ve und dem nied­rigs­ten und se­hen, wie sich das ober­halb und un­ter­halb aus­gleicht. Vie­le Wan­dern­de ma­chen sich so zu­nächst ein Bild über die La­ge, über die An­stren­gung, die wohl auf­zu­brin­gen sein wird, um ei­ne Stre­cke zu meis­tern. Denn sie ha­ben Kar­ten mit Hö­hen­li­ni­en. Vor­aus­ge­setzt ist frei­lich, dass sie die­se le­sen kön­nen.

Viel­leicht nicht in ei­ner Zeit­span­ne von ei­ner Wo­che, viel­leicht auch nicht in ei­nem Mo­nat oder drei­en kann das aus­glei­chen­de Mo­ment der Zeit be­ob­ach­tet wer­den. Zie­hen wir die Dau­er ei­nes Jah­res her­an, wird es schon ba­lan­cier­ter. Und je wei­ter wir den Blick wa­gen, des­to waag­rech­ter wird die Mit­tel­li­nie – per­fek­ter Aus­gleich, Gleich­ge­wicht. Es wird nicht mehr und nicht we­ni­ger ge­stor­ben. Die Mit­tel­li­nie steigt nicht und fällt nicht. Es wird ein­fach ge­stor­ben.

Mit Ge­bur­ten, bei­läu­fig, kön­nen wir das Glei­che ma­chen. Und wenn wir al­le Wan­de­run­gen un­se­res Le­bens ex­akt pro­to­kol­liert hät­ten, wür­den wir viel­leicht er­staunt fest­stel­len kön­nen, dass wir we­der hö­her noch nied­ri­ger sind als wir es am Be­ginn un­se­rer Le­bens­wan­der­schaft wa­ren.

Ei­ne ho­he Sterb­lich­keit jetzt be­deu­tet so ei­ne nied­ri­ge da­vor oder da­nach. So kann der Blick aus­ge­rich­tet wer­den. Zur Zeit, schau­en wir in die Zu­kunft, wird frü­her ge­stor­ben. Wen­den wir den Blick in die Ver­gan­gen­heit, stel­len wir wo­mög­lich fest, dass jetzt spä­ter ge­stor­ben wird. Die Sterb­lich­keit der letz­ten, mal ein­fach so ei­nen Rah­men ge­setzt, zehn Jah­re al­so recht nied­rig war, re­la­tiv zu ei­ner Mit­tel­li­nie. Und so be­trach­tet – der Mensch ist ja ger­ne, es kann schon ge­sagt wer­den, al­lein der Au­gen we­gen: na­tür­li­cher­wei­se, nach vor­ne ge­rich­tet und kann so nur das Le­ben le­ben, wel­ches er je­doch nur rück­wärts ver­ste­hen kann – wird frü­her ge­stor­ben in die­sen Zei­ten.

Doch ge­stor­ben wird im­mer. Mir scheint – wirk­lich zum Stau­nen bringt es mich je­doch nicht – die­sen Aspekt des „Ge­stor­ben wird im­mer.“ ver­drän­gen wir, wol­len ihn nicht wahr­ha­ben.

Und mich deucht, wenn ich mir die Dis­kus­si­on um das Ster­ben in SARS-CoV-2-Zei­ten so an­schaue, ein sich mir zei­gen­des Bild in der Me­di­en­land­schaft al­so stu­die­re, ein lan­ges Le­ben wird wie ei­ne Leis­tung an­ge­se­hen. „Ohhh, hun­dert Jah­re! Was für ei­ne Leis­tung! Glück­wunsch!“ Und wer frü­her stirbt, ist halt nicht nur län­ger tot, er oder sie war halt nicht so leis­tungs­fä­hig wie sie hät­ten sein kön­nen, im Ver­gleich zu an­de­ren, er­folg­rei­che­ren Vertreter:innen ih­rer Art. Sie ha­ben sich wohl zu we­nig an­ge­strengt in ih­rem Be­mü­hen ge­sund zu le­ben. Hät­ten sie mal den Ge­sund­heits­tra­cker ge­habt und mehr Sport ge­trie­ben, we­ni­ger Ni­ko­tin, Kof­fe­in, Al­ko­hol, Fett und der­glei­chen mehr kon­su­miert, dann wür­den sie heu­te noch quietsch­fi­del le­ben! Und wer im Al­ter nicht mehr so kann, na, der hat doch frü­her was falsch ge­macht! Er­folg ist schließ­lich be­re­chen­bar! Sonst wär’s ja auch nicht die er­wart­ba­re Fol­ge von ir­gend­was, bei­läu­fig an­ge­merkt.

Ein lan­ges Le­ben ist nicht das Pro­dukt ir­gend­ei­ner Leis­tung. Es ist vor al­len Din­gen: Glück. Oder Pech, wenn man sich vor Schmer­zen win­det, da­hin­siecht und schon wünscht, zu ster­ben. Weil man es sich bes­ser vor­stellt als zu lei­den. Frei­lich wird da au­ßer Acht ge­las­sen, dass nach dem Stand un­se­res all­ge­mei­nen wis­sen­schaft­li­chen Ver­ständ­nis­ses, nach dem Tod nichts mehr da ist, dass lei­den oder nicht lei­den könn­te. Doch das ist ja nun auch An­sichts­sa­che. Man­che er­fül­len sich mit der Vor­stel­lung ei­nes Pa­ra­die­ses den Wunsch nach ei­ner un­end­lich lan­gen, im­mer­wäh­ren­den, nie ver­ge­hen­den, voll­kom­men leid­lo­sen Exis­tenz. Was für ei­ne Leis­tung! Gibt’s frei­lich nur für die Bes­ten un­ter den Bes­ten! Nur die Har­ten kom­men in den Gar­ten! Nun … die Wei­chen stel­len die Wei­chen.

Mes­sen wir doch nicht die Le­bens­span­ne aus und be­wer­ten sie, wie wir die Ar­beit ei­nes Sport­lers mit Stopp­uhr und Maß­band ver­mes­sen. Ein Le­ben dau­ert so lan­ge, wie ein Le­ben dau­ert. Ge­sund le­ben­de Men­schen kön­nen früh ster­ben, un­ge­sund le­ben­de lan­ge le­ben, und um­ge­kehrt ist es ge­nau­so gut. Für Letz­te­res ist Alt­bun­des­kanz­ler und ver­gan­ge­ne ehr­wür­di­ge In­stanz als Ver­nunft der Na­ti­on Hel­mut Schmidt ein Bei­spiel; für’s Ers­te­re gibt’s ver­mut­lich auch Bei­spie­le zu­hauf, Pro­mi­nen­te wie Normalverbraucher:innen.

Wes­halb oder wo­zu das so ist, mit dem Ster­ben und dem gan­zen Rest, weiß wohl nie­mand und ich mei­ne: Das kann nie­mand wis­sen. (Au­ßer dem, der die Ab­sicht hat, ei­ne Mau­er zu er­rich­ten, frei­lich.) Muss auch kei­ner wis­sen. Das ver­gällt ei­nem am End’ nur die Le­bens­freu­de. Hin­dert dar­an, be­hin­dert uns, ein gu­tes Le­ben zu füh­ren, das Le­ben gut zu füh­ren. Und ein Le­ben, das 30 Jah­re währ­te und vol­ler Freu­de, Lust und Aben­teu­er war, ist für ei­ni­ge nun mal ei­nem 90 Jah­re wäh­ren­dem, mit Leid und Qual und Schmerz, vor­zu­zie­hen. An­de­re wie­der ma­chen ein Hel­den­tum dar­aus, die­ses Leid, das mit ei­nem ho­hen Al­ter ein­her­ge­hen kann und kei­nes­wegs muss, sto­isch zu er­tra­gen. Viel­leicht auch: gläu­big hin­zu­neh­men. Nur mal um das Ter­rain der Mög­lich­kei­ten kurz zu um­gren­zen.

Doch im Hin­ter­grund, für uns viel­leicht un­be­merkt, schwingt mög­li­cher­wei­se im­mer ein Ge­dan­ke mit, ein ech­ter Hin­ter­ge­dan­ke al­so. Un­be­merkt, doch nicht wir­kungs­los. Ein Hin­ter­ge­dan­ke in den wir, zu­min­dest ist das wohl für die Jün­ge­ren rich­tig, hin­ein­ge­bo­ren wur­den, mit dem wir auf­ge­wach­sen sind, den wir we­nig re­flek­tie­ren, weil er uns so ver­traut ist: „Was für ei­ne Leis­tung!“

Ma­chen wir uns ehr­lich: Kann das glück­lich ma­chen? Man­che, ja. Doch eben nicht al­le. Und nur weil es für man­che hin­nehm­bar ist, muss es für al­le gel­ten? Das Leis­tungs­prin­zip ist ei­ne Form der Le­bens­füh­rung, der Le­bens­ge­stal­tung, der Welt­an­schau­ung. Nicht mehr, nicht we­ni­ger. Und nur weil viel­leicht vie­le die­sem Prin­zip fol­gen, und man ins­ge­samt da­mit viel­leicht so­gar er­folg­reich ist, muss es des­halb noch lan­ge nicht rich­tig sein. Ei­ne Pan­de­mie mit ih­rem Stre­ben nach Ster­ben kann das in Sze­ne set­zen, skiz­zie­ren. Wir kön­nen uns ein Bild da­von ma­chen. Und uns dar­an er­in­nern, das wir stets im An­ge­sicht des To­des un­ser Le­ben le­ben. Er ist un­ver­meid­bar. Ein Berg, den wir nicht über­stei­gen kön­nen, auch wenn er nur als ganz fla­ches Hü­gel­chen da­her­kommt. Nie­mand wird den Gip­fel über­que­ren. Kei­ne und Kei­ner. Nie­mand kann bes­ser sein als der Tod.

Tja, wir ha­ben uns Si­sy­phos eben als glück­li­chen Men­schen vor­zu­stel­len. Denn er er­leb­te die Ver­geb­lich­keit ei­nes un­mög­li­chen Un­ter­fan­gens Stun­de um Stun­de, er­fuhr es am ei­ge­nen Leib, war be­freit von je­dem Zwei­fel dar­über. Dann kön­nen wir auch ster­ben. Fürch­ten uns nicht, na, ehr­lich: we­ni­ger da­vor, auch wenn’s nach wie vor ei­ne un­an­ge­neh­me Vor­stel­lung ist, die wir ger­ne ins hin­ters­te Käm­mer­chen un­se­res We­sens, Den­kens, Spre­chens, Han­delns, Vor­stel­lens ver­drän­gen.

Und wenn wir das schaf­fen, dem Tod ins Au­ge se­hen kön­nen, dann füh­ren wir un­ser Le­ben gut. So­fern, das sei ein­schrän­kend da­zu ge­setzt, die­ser Blick auf den Tod nicht mit ei­nem ver­ach­ten­den Hin­ter­ge­dan­ken wie »Hun­de, wollt ihr ewig le­ben?« ein­her­geht. Und wir wer­den fest­stel­len, dass es kei­ne bes­se­re oder schlech­te­re Wei­se gibt, dem Tod ins Ge­sicht zu schau­en. Denn sein oder ihr Blick auf uns ist stets der­sel­be. Völ­lig egal, ob ein Hel­mut Schmidt mit 97 oder Li­se Mül­ler mit 28 vor ihm steht. Ein gu­tes Le­ben führt und wird ge­führt ge­habt ha­ben, wer den An­blick oh­ne Lob und Ta­del er­wi­dern kann.

Das zu üben, da­für ha­ben wir ein gan­zes Le­ben lang Zeit. Und, das zeigt SARS-Co­V‑2 und Co­vid-19, auch im­mer wie­der Ge­le­gen­heit da­zu. Mal mehr, mal we­ni­ger. Im Mo­ment mehr. Doch über und un­ter dem Strich…

Nur das auch zu wa­gen, dass ha­ben wir bei­zu­tra­gen. Das ist un­ser Bei­trag zu ei­nem gu­ten Le­ben. Vom Rest ha­ben wir nur we­nig in der Hand. Auch wenn uns das ger­ne an­ders er­schei­nen mag. Weil wir Men­schen sind. Und den Tod fürch­ten. Wo­zu wir al­ler­dings nicht ver­dammt sind. Denn wir ha­ben der Furcht vor dem Tod, der Be­fürch­tung des nicht-Seins, et­was ent­ge­gen­zu­brin­gen. Nicht als Wi­der­stand, son­dern als ei­gen­tüm­lich zwang­los zwin­gend bes­se­res
Ar­gu­ment: Le­bens­mut.

Und so kann der Ti­tel die­ses Bei­tra­ges dann ver­kürzt wer­den: Le­be und wach­se.

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