Jaspers Geist

Karl Jaspers: Vom europäischen Geist. Über Achtung und Freundschaft.

Ein gu­ter Freund hat mir die ge­druck­te Ver­si­on – ein merk­wür­di­ges Ge­fühl, ein Büch­lein in der Hand zu hal­ten, das 1947 in Nörd­lin­gen ge­druckt und in Mün­chen her­aus­ge­ge­ben wur­de; als hiel­te man Ge­schich­te in den Hän­den – ei­nes Vor­tra­ges von Karl Jaspers im Jahr 1946 zu­kom­men las­sen: »Vom eu­ro­päi­schen Geist«. Ein ge­halt­vol­ler Text, den Jaspers da ge­setzt hat. Sehr be­den­kens- und mehr­ma­li­ger Lek­tü­re wert, und sei­en es nur ein­zel­ne Ka­pi­tel. Da ist so man­ches zu le­sen und das nun aus ei­ner Per­spek­ti­ve, die die An­nah­men, die dort ge­macht wur­den, prü­fen kann. Sehr auf­schluss­reich, wie ich fin­de.

Vor dem ers­ten Welt­krieg galt die Ge­mein­schaft der eu­ro­päi­schen Na­tio­nen, die Ein­heit Eu­ro­pas als selbst­ver­ständ­lich. Es er­scheint uns wie ei­ne pa­ra­die­si­sche Zeit, als man oh­ne Paß aus Deutsch­land nach Rom fuhr und nur die Merk­wür­dig­keit fest­stell­te, daß, wenn man nach St. Pe­ters­burg fah­ren woll­te, man ei­nen Paß brau­che. (S. 5)

Die­se Be­trach­tung hier be­schäf­tigt sich nicht mit die­sem In­halt son­dern gibt ei­nen Ge­dan­ken wie­der, der bei der Lek­tü­re auf­tauch­te, und be­ginnt mit ei­nem „Al­ler­dings“: Die gro­ße Hür­de mei­nes Zu­gangs zu Jaspers sind des­sen Re­den von Gott, sein für mich et­was sehr un­durch­sich­ti­ges Ver­hält­nis zum Chris­ten­tum, und sei­ne Idee vom „lie­ben­den Kampf“. Es mag ein span­nungs­rei­ches Oxy­mo­ron sein, gut ge­meint, dem Men­schen in Sum­ma ge­recht wer­dend. Doch mir ge­fällt es nicht; ich den­ke: Wie kann man Krieg in ei­nen sol­chen Eu­phe­mis­mus set­zen? Ist das nicht et­was na­iv? Oder, in An­be­tracht der Jah­res­zahl des Druck­werks: Aus­druck ei­ner Ver­zweif­lung? Ein Ver­such das Gu­te im und des Men­schen ret­ten zu wol­len, und das im An­ge­sicht der phy­si­schen wie psy­chi­schen Trüm­mer­hau­fen?

Statt ei­nes Got­tes — wo­mit ich ei­nen hö­he­ren Wil­len im­pli­ziert se­he — ver­langt mir nach et­was wie „hei­li­ge Of­fen­heit“. Statt „lie­ben­den Kampf“ möch­te ich so et­was wie ein „wohl­wol­len­des, ver­bin­den­des Spiel“ se­hen. Und statt der „Lie­be“ – ein von Jaspers auch ger­ne ge­brauch­tes Wort, wie mich dünkt – schließ­lich, je­ner so schreck­lich über­la­de­nen Be­griff­lich­keit, die eben des­halb nicht mehr zu ver­ste­hen ist und in sei­ner Viel­deu­tig­keit nichts­sa­gend wird, wä­re mir die Re­de von „ach­ten­der Freund­schaft“ wün­schens­wert. Was ein Pleo­nas­mus wä­re, der da dem Oxy­mo­ron ent­ge­gen­ge­stellt wird.

De­ren dia­lek­ti­sches Ge­gen­stück mit­nich­ten die „ver­ach­ten­de Feind­schaft“ ist, son­dern hier mir ei­ne „gleich­gül­ti­ge Zu­ge­wandt­heit“ er­stre­bens­wert scheint und un­ter Men­schen – man kann ja nicht al­le mö­gen und von al­len ge­mocht wer­den – wohl un­aus­weich­lich. Ein Mensch, der nicht ge­ach­tet wird, wird so nicht ver­ach­tet, wenn er nicht be­ach­tet wird. Er soll, aus gu­ten per­sön­li­chen und pri­va­ten Grün­den wün­schens­wert, halt nur für’s ei­ge­ne Da­sein kei­ne Rol­le spie­len.

Zu­wei­len ein sehr schwie­rig zu rea­li­sie­ren­der An­spruch.

Ver­ach­tung und Feind­schaft sind da­ge­gen sim­pel, die Lie­be al­ler­dings hal­te ich da für ver­lo­gen.

Der An­spruch der Frei­heit ist da­her, nicht aus Will­kür, nicht aus blin­dem Ge­hor­sam, nicht aus äu­ße­rem Zwang zu han­deln, son­dern aus ei­ge­ner Ver­ge­wis­se­rung, aus Ein­sicht. Da­her der An­spruch, selbst zu er­fah­ren, ge­gen­wär­tig zu ver­wirk­li­chen, aus ei­ge­nem Ur­sprung zu wol­len durch Su­chen des An­kers im Ur­sprung al­ler Din­ge. (S. 10)

Wer sich dem Selbst­sein (ganz un­iro­nisch sei schon hier, dem nächs­ten Zi­tat vor­grei­fend, dar­auf hin­ge­wie­sen, dass in „Kom­mu­ni­ka­ti­on“ „Uni­kat“ steckt) ver­wei­gert (al­so: sei­nem Lei­den und des­sen Über­win­dung, d. i. Exis­tenz), und so (es hie­ße, sich sei­ner Exis­tenz be­rau­ben zu müs­sen) das Lei­den ver­nich­ten will (z. B. durch Preis­ga­be des in­di­vi­du­el­len Selbst in ei­ne Her­de Unselbst(ändiger)iger, Un­mün­di­ger, an­ge­führt von ei­nem ir­rea­len, ideo­lo­gi­schen, kol­lek­ti­schen, über­grif­fig al­les ver­ein­nah­men wol­len­den „Über­selbst“, das al­le Schuld für’s je ei­ge­ne Lei­den auf all je­ne An­de­ren lädt, die sich ei­ner sol­cher Ideo­lo­gie nicht un­ter­stel­len wol­len, ihr nicht die­nen wol­len, die, die sich der Ver­skla­vung durch eit­le Dumm­heit wi­der­set­zen), kann von mei­ner Sei­te her nichts Bes­se­res er­war­ten als mür­ri­sche In­dif­fe­renz, im Schlech­tes­ten ent­nerv­te Ab­ge­wandt­heit. Das Übel nur: Die­se Ges­ten wer­den von je­nen – für mich letzt­lich: eben auch, nicht nur, selbst­ver­schul­det Elen­den, Mi­se­ra­blen – nicht ver­stan­den. Denn, oh ihr blin­den Que­ren, ihr ver­blen­de­ten Ver­schwö­rungs­gläu­bi­gen und al­le de­ren An­ver­wand­te, al­so all ihr Fröm­meln­den, gleich wel­chen Glau­bens: Ihr schafft euch selbst die Welt, die ihr nicht wollt. Die ihr ver­ach­tet. Doch ihr seid of­fen­bar der­art da­mit be­schäf­tigt, eu­er per­sön­li­ches Lei­den zu ver­nich­ten, dass ihr den Blick auf je­ne, die euch be­nut­zen für ih­re ei­ge­ne Ver­nich­tung ih­res per­sön­li­chen Lei­des, mit ei­ner ro­sa­ro­ten Bril­le ver­klärt, zu Wis­sen­den er­hebt und so blind in eu­er selbst ge­schaf­fe­nes Un­glück lauft. Frei­lich be­rauscht vom Mor­phi­um des Glücks­ge­fühls, nun end­lich was zu gel­ten in die­ser Welt, Be­scheid zu wis­sen, be­ach­tet zu wer­den, wenn auch nur ver­ach­tend. Der Ka­ter wird furcht­bar, ihr wer­det es wohl selbst in Er­fah­rung brin­gen — wol­len.

Weil der Mensch nur frei sein kann, wenn sei­ne Mit­men­schen frei sind, muß er die sich iso­lie­ren­de, kom­mu­ni­ka­ti­ons­lo­se Frei­heit ver­wer­fen. Über­all, und auch in Eu­ro­pa, gab es das Aus­bre­chen der ein­zel­nen als Ere­mi­ten, Phi­lo­so­phen, Hei­li­ge, die, von der Welt nicht mehr be­trof­fen, ei­ne ho­he, be­wun­de­rungs­wür­di­ge per­sön­li­che Sou­ve­rä­ni­tät er­ran­gen. Aber kon­kre­te Frei­heit er­wächst nur im Mit­ein­an­der als Ver­wand­lung des Men­schen mit sei­ner Welt. (S. 14)

Doch wie ge­sagt: An­spruchs­voll. Stets lockt der ein­fa­che Weg der Ver­ach­tung. Dies letzt­lich die Spie­ge­lung des­sen, was mir da – wo­mög­lich aus nach­voll­zieh­ba­ren Grün­den und den­noch nicht ak­zep­ta­bel und to­le­rier­bar – ent­ge­gen­ge­bracht wird von sol­cher­lei mir un­er­wünsch­ten Cha­rak­te­ren: die „dunk­le Sei­te der Macht“.

Der phi­lo­so­phisch erns­te Eu­ro­pä­er steht heu­te vor der Ent­schei­dung zwi­schen ent­ge­gen­ge­setz­ten phi­lo­so­phi­schen Mög­lich­kei­ten. Will er in die Be­schrän­kung fi­xier­ter Wahr­heit, der am En­de nur zu ge­hor­chen ist — oder will er in die gren­zen­los of­fe­ne Wahr­heit? (S. 30)

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Denkzettel 132

Iden­ti­täts­po­li­tik ist der wohl im­mer zum Schei­tern ver­ur­teil­te Ver­such, es Je­dem und Je­der recht ma­chen zu wol­len. Und ei­gent­lich ist das Wort Un­sinn: ei­ne Iden­ti­tät, ei­ne Un­ver­wech­sel­bar­keit, die Ein­zig­ar­tig­keit er­gibt sich aus der in­di­vi­du­el­len Kom­bi­na­ti­on vie­ler dis­kri­mi­nier­ba­rer Merk­ma­le. Ei­ne sol­che Po­li­tik wä­re ei­ne Po­li­tik für jede/n Einzelne/n. Al­so gar kei­ne Po­li­tik, son­dern die Be­frie­di­gung der Egos, „Ego­tik“, so­zu­sa­gen. Das Wort soll­te lau­ten: Ideo­lo­gie­po­li­tik. (Was als Pleo­nas­mus an­ge­se­hen wer­den könn­te.)

(Was al­les nicht ver­dun­keln soll, dass es je­de Men­ge Min­der­hei­ten gibt, die sich nicht ge­se­hen füh­len und mit Recht auf sich auf­merk­sam zu ma­chen su­chen. Denn im Grun­de be­steht die Welt ja aus Min­der­hei­ten — sie sind in der Mehr­heit.)

Wahrheit & Wirklichkeit

Über Kultur & Natur, Verstand & Vernunft, Erkenntnis & Einsicht. Über den Menschen. Als Tier.

Inwie­weit kann über das Le­ben phi­lo­so­phiert wer­den im Sin­ne: ei­ne ‚Wahr­heit‘, (ob­jek­ti­ve) ‚Er­kennt­nis­se‘, ‚Wis­sen‘ zu (er)finden?

In­wie­weit fin­det sich die Philosophie des Le­bens dar­in: es ein­fach zu le­ben, das je ei­ge­ne Le­ben, wie es sich für ein In­di­vi­du­um er­gibt, er­ge­ben mag, er­ge­ben will?

Dar­in, das je ei­ge­ne Le­ben für sich zu be­ja­hen, in al­ler Kon­se­quenz — und über so ge­won­ne­ne ‚An­sich­ten‘, (sub­jek­ti­ve) ‚Ein­sich­ten‘, ‚Weis­heit‘ sich, durch­aus sich selbst und ge­gen­sei­tig kri­tisch hin­ter­fra­gend, aus­zu­tau­schen, den ei­ge­nen Ho­ri­zont so al­so er­wei­ternd.

In­wie­weit wä­re ei­ne Philosophie des Le­bens al­so we­ni­ger er­kennt­nis­theo­re­tisch zu fun­die­ren und ist mehr in der ver­ste­tig­ten Übung ei­ner Ein­sichts­pra­xis zu be­grün­den? In­wie­weit soll sie al­so nicht ‚Wis­sen‘ der ‚Wahr­heit‘ zum Ziel ha­ben („Macht“), son­dern ‚Mut‘ zur ‚Wirk­lich­keit‘ („Ver­mö­gen“) ver­mit­teln?

In­wie­fern wä­re ein Aus­tausch von, al­so Han­del mit, Ein­sich­ten ei­nem An­grei­fen und Ver­tei­di­gen, ei­nem Krieg der Er­kennt­nis­se, vor­zu­zie­hen?

Ist denn ein Kampf um die Wahr­heit wirk­lich so er­stre­bens­wert? Soll­te nicht das Au­gen­merk auf das Ver­hält­nis zur Wirk­lich­keit ge­rich­tet sein — auch und ge­ra­de in der Philosophie? Führt sich denn ein Le­ben gut, lässt es sich gut füh­ren, wenn es sich al­lein auf Er­kennt­nis­se des Ver­stan­des stützt?

Ist Wahr­heit denn nicht: ein Kon­strukt un­se­rer Wirk­lich­keit, un­se­rer Ver­wirk­li­chung als Men­schen? Tie­re ken­nen kei­ne Wahr­heit, nur Wirk­lich­keit. Was nutzt uns Men­schen denn die­se Wahr­heit, ei­gent­lich?

Viel­leicht dient sie letzt­lich nur da­zu, uns nicht ge­gen­sei­tig zu ver­nich­ten. Und doch kann sie auch ge­dacht wer­den als An­trei­ber ge­nau die­ser Selbst­ver­nich­tung. Die Krie­ge auf dem Ge­biet der zur Re­li­gi­on über­höh­ten Welt­an­schau­un­gen sin­gen da ja ein lau­tes Lied. Ein Kla­ge­lied, wohl.

Der Ver­stand, der die Wahr­heit sucht, gar: braucht, mag ein hilf­rei­cher Ge­sel­le sein. Doch wenn wir ei­nen Ge­sel­len zum Kö­nig kü­ren, gibt es da nicht ein Qua­li­täts­pro­blem? Ver­sagt denn da nicht un­se­re Ver­nunft? Geht das nicht an der Wirk­lich­keit vor­bei?

Die Wahr­heit ist ein Kon­strukt un­se­res Geis­tes. Um zu le­ben, brau­chen wir kei­ne Wahr­heit. Sie ist ei­ne Ar­chi­tek­tin un­se­rer Kul­tur, kein Arzt un­se­rer Na­tur. Wir wer­den auch im­mer Tie­re blei­ben. Tie­re die Hun­ger ha­ben und Durst. Tie­re, die sich ver­meh­ren wol­len. Tie­re, die ihr Re­vier ver­tei­di­gen. Tie­re, die kämp­fen. Tie­re, die über­le­ben wol­len. Die­ses Tier geht nicht weg, es ist im­mer da. Un­se­re Kul­tur ist ein na­tür­li­cher Über­bau. Und von dem aus ha­ben wir das Tier im Men­schen fest­zu­stel­len, zu kon­sta­tie­ren. Kein Weg führt dar­an vor­bei. Die­se Sicht ist ver­nünf­tig, auch wenn der Ver­stand sich ge­gen die­se Wahr­heit wehrt. So Man­che wol­len das nicht wahr­ha­ben, das Tier im Men­schen fürch­tend.

Ob die­ses Tier ein Wolf oder ein Lamm ist, ein Wal oder Hai­fisch, ein Or­ka oder Wal­hai, das liegt in der Macht des Men­schen. Und kein Mensch ist sei­nem Tier aus­ge­lie­fert, prin­zi­pi­ell. Wir sind die Domp­teu­re un­se­res Tiers in uns. Da sind die Krie­ger: ge­züch­te­te Hai­fi­sche. Da sind die Kämp­fer: ge­züch­te­te Gnus. Und da sind eben die fried­li­chen und un­fried­li­chen: ge­züch­te­te Tie­re. Ab­ge­rich­tet.

Wer es nicht schafft, sei­nen „Wil­len zur Macht“ für sich selbst zu nut­zen, wird ein Skla­ven­le­ben füh­ren müs­sen. Ja? Nein! Sie kann ge­nau­so ein Her­ren­le­ben füh­ren. Doch die Macht über die Macht, die hat nicht, wer sich nicht dar­auf ver­steht, sei­nen „Wil­len zur Macht“ für sich nutz­bar zu ma­chen. Er wie sie wer­den ein Her­den­tier sein. Auch Leit­ham­mel und ‑lö­win­nen sind: Her­den­tie­re. Mag ei­ne Her­de auch als Ru­del da­her­kom­men.

Der ver­nünf­ti­ge Mensch sucht doch die Frei­heit, die Wahl. Die Ver­ant­wor­tung da­mit, auch. Das ist die Wirk­lich­keit des Men­schen, in eben die­ser Frei­heit zu ste­hen. Was heißt: zu su­chen braucht er sie nicht, er hat sie schon. Nur sie auch zu le­ben, das traut er sich noch nicht. In 10000 Jah­ren wird die Welt an­ders aus­se­hen.

Er miss­traut sei­ner Na­tur. Sieht sie als Dunk­les, Be­droh­li­ches, Un­be­herrsch­ba­res. Schafft Wahr­hei­ten, um das Dun­kel zu be­herr­schen. Und ist von sei­nem ei­ge­nen Licht ge­blen­det. Sieht nicht, ver­steht nicht, dass er nur sich selbst be­leuch­tet — doch er­klärt so die gan­ze Welt.

Das Mons­ter des Men­schen steckt doch in sei­ner Kul­tur­fä­hig­keit, die Kul­tur ist das Mons­ter, das er fürch­ten soll­te. Sei­ner Na­tur nach ist der Mensch ver­nünf­tig — und sei­ne Na­tur hat sich bis­her im­mer durch­ge­setzt. Noch ist die Mensch­heit nicht durch ei­ne Apo­ka­lyp­se von der Bild­flä­che des Uni­ver­sums ver­schwun­den. Doch Hoch­kul­tu­ren ver­schwin­den ir­gend­wann, da reicht ein ver­nünf­ti­ger Blick in die Ge­schich­te völ­lig aus.

Und die­se Kul­tur­fä­hig­keit — ge­hört zu sei­ner Na­tur. Sie ist das Tier, das es zu bän­di­gen gilt. Die Ver­nunft, die Na­tur des Men­schen, ist Herr über den Ver­stand, die Kul­tur des Men­schen. Der Ver­stand ist ein Knecht, kein Herr. Und im Grun­de ist der Mensch: Chao­tisch. Ver­nünf­tig. Doch das schmeckt sei­nem Ver­stand nicht, der das Cha­os fürch­tet. Weil es ihn des­ori­en­tiert, wenn er kei­ne Re­gel ent­de­cken kann, nichts vor­her­sa­gen kann. Der Mensch fürch­tet sich, wenn er nicht wis­sen kann, was ihn er­war­tet. Zu­min­dest ver­un­si­chert es ihn, wes­halb ihm der Ver­stand mit auf den Weg ge­ge­ben wur­de. Oder, dar­wi­nis­ti­scher for­mu­liert: Sich evo­lu­tiert hat. Da­mit er sich nicht so fürch­tet.

Der Ver­stand des Men­schen (zer)stört das Kli­ma, der Ver­stand des Men­schen be­grün­det ei­nen Ge­no­zid, der Ver­stand des Men­schen lässt ihn Krie­ge füh­ren — al­les im Na­men der Wahr­heit.

Die Kunst ist kein Pro­dukt der Kul­tur des Men­schen, sei­nes Ver­stan­des — es ist ein Ge­wächs sei­ner Na­tur, des Tie­res in ihm, sei­ner Ver­nunft. Es ist die Kunst, die den Men­schen aus den Mi­se­ren, die er mit sei­ner Kul­tur selbst ge­schaf­fen hat, ret­tet.

»Der Mensch ist dem Men­schen ein Wolf« mein­te Hob­bes. Nietz­sche könn­te, viel­leicht, sa­gen: Der Mensch ist dem Men­schen (s)eine Kul­tur.

Phi­lo­so­phie soll­te Kunst sein, nicht Wis­sen­schaft. Ver­nunft, nicht Ver­stand. Na­tur, nicht Kul­tur. Der Mensch ist ein na­tür­lich phi­lo­so­phi­sches We­sen und nur kul­tür­lich ein wis­sen­schaft­li­ches.

Bis hier­hin al­les schön schwarz-weiß, dem Ver­stan­de leicht ver­dau­lich. Las­sen wir nun Ver­nunft wal­ten, be­ge­ben wir uns al­so jen­seits von wahr oder falsch, Dis­junk­ti­on und Kon­junk­ti­on. Be­tre­ten wir das Reich der Ver­nunft. Den Ver­stand, das Drän­gen nach Er­kennt­nis, nach Wahr­heit, wahr sein, hin­ter uns las­send, die Ein­sicht vor uns. Wen­den wir uns dem Cha­os zu. Se­hen wir nach vor­ne.

Der ver­nünf­ti­ge Mensch ist ganz Na­tur. Ker­nig, erd­ver­bun­den, un­auf­ge­regt. Be­schei­den. Hät­te der Mensch kei­ne Kul­tur, die­ser Pla­net wä­re der fried­lichs­te Ort mit der bes­ten Luft und den güns­tigs­ten Ha­bi­tat­be­din­gun­gen für den Men­schen, die sich nur den­ken las­sen. Ein: Pa­ra­dies.

Wenn da nicht die Mü­hen der Jagd wä­ren. Und der be­eng­te Raum. Und die Neu­gier, die Gier über­haupt. Und dann die­ser Win­ter. Und der Som­mer erst, je nach Ge­gend. Nein, die­ses Ha­bi­tat er­scheint dem Ver­stand, dem Be­quem­lich­keit su­chen­den Hirn, des En­er­gie­spa­rens we­gen, gar nicht so ge­müt­lich. Das Ha­bi­tat will kul­ti­viert sein, wohn­lich hat es zu sein!

Da ist’s dann auch schon wie­der vor­bei mit der Ver­nunft, der gie­ri­ge Schlund der Kul­tur öff­net sich und ver­leibt sich das Ha­bi­tat ein. Die Ver­nunft für sich al­lein scheint al­so nicht be­son­ders stark zu sein.

Um nun al­so als Men­schen uns selbst das Was­ser nicht ab­zu­gra­ben vor lau­ter Kul­tur­drang und Na­tur­ver­ach­tung, bleibt wohl doch nur die Flucht nach vor­ne: sich jen­seits von gut & bö­se, wahr und falsch, Cha­os und Kos­mos, Ver­nunft und Ver­stand zu be­ge­ben. Ein Land, das wir uns gar nicht vor­stel­len kön­nen. Und das es viel­leicht – des­halb? – nicht gibt.

Und doch gibt es ei­nen Ort jen­seits von: Das Zwi­schen. Das Zwi­schen von Na­tur und Kul­tur. Das Zwi­schen von Ver­nunft und Ver­stand. Da, wo der Mensch noch Mensch sein darf: Na­tur mit Kul­tur, Kul­tur mit Na­tur. Ver­nunft mit Ver­stand, Ver­stand mit Ver­nunft. Cha­os mit Kos­mos, Kos­mos mit Cha­os. Ein un­mög­li­cher Ort, ei­ne Uto­pie, weil in sich wi­der­sprüch­lich? Nein! Die­se Er­kennt­nis der Wi­der­sprüch­lich­keit ist ein Wi­der­spruch des Ver­stan­des, wie der ver­nünf­ti­ge Mensch so­fort ein­se­hen kann. In die­sem „mit“ liegt der Schlüs­sel zur Glück­se­lig­keit. Es ver­mit­telt die Ge­gen­sät­ze ver­nünf­tig, die der Ver­stand ge­schaf­fen hat.

Cha­os hat auch die Be­deu­tung je­ner Dunst­schicht zwi­schen Him­mel und Meer. Ur­sprung der bei­den, so zu­min­dest dach­ten sich das wohl man­che in der An­ti­ke in Grie­chen­land. Und so kön­nen wir auch den Men­schen in eben die­sem Cha­os, in die­ser Un­be­stimmt­heit, Un­be­stimm­bar­keit, in die­ser Gren­ze, die nur als Über­gang, als An­gren­zung und nicht Ab­gren­zung in den Blick kommt, ver­or­ten. So an­ge­se­hen, kann der Mensch als Schöp­fer von oben und un­ten, von Him­mel und Meer, von Apoll und Dio­ny­sos, auf­ge­fasst wer­den — sich selbst je­doch nicht er­rei­chend, im Cha­os ver­schwin­dend. Ein sol­ches An­se­hen des Men­schen durch den Men­schen selbst kann nun – viel­leicht – eben als ein Akt des ver­nünf­ti­gen Ver­stan­des, der ver­stän­di­gen Ver­nunft in­ter­pre­tiert wer­den. Es ist Ein­sicht wie Er­kennt­nis: er­ken­nen­de Ein­sicht, ein­sich­ti­ge Er­kennt­nis.

Der Mensch: Ein Zwi­schen. Ein In­ter-es­se, ein „da, zwi­schen“, „in Mit­ten“ sein.

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Denkzettel 108

Wah­re, wirk­li­che In­di­vi­du­en ge­lan­gen ob frü­her oder spä­ter an den Punkt, an und mit dem sie ih­re Un­voll­kom­men­heit zu spü­ren be­kom­men. Dann wer­den sie nicht aus ge­setz­ten mo­ra­li­schen Grün­den, son­dern aus Not­wen­dig­keit so­zi­al, in wel­cher Form auch im­mer. Die­se For­men kön­nen ka­pi­ta­lis­tisch, so­zia­lis­tisch, li­be­ral, kom­mu­nis­tisch, na­tio­nal, dik­ta­to­risch, de­mo­kra­tisch,… sein, auf Zwei­sam­keit und Mehr­sam­keit, auf Ge­mein­sinn oder Ge­mein­schaft ba­sie­rend sein oder in wel­chen For­men sonst noch sich ar­ti­ku­lie­ren, for­ma­tie­ren, in de­nen selbst­be­stimm­te Fremd­be­stimmt­heit ge­lebt wer­den kann.

Fremd­be­stimm­te Selbst­be­stimmt­heit ist ein Ge­gen­teil von In­di­vi­du­um: das Di­vi­du­um.
(Men­schen sind von Ge­burt an In­di­vi­du­en.)

Denkzettel 106

Mit ei­ner Er­war­tung ist die Schuld schon in die Welt ge­bracht, mit­hin: ei­ne Mo­ral — Er­war­tun­gen schaf­fen Wer­te. („Prin­zip Hoff­nung“: die Welt der Gläubige{n|r}.)

Wird die Schuld be­gli­chen, ist die Rech­nung be­rei­nigt, der Schuld ge­recht ge­wor­den, ge­nü­ge ge­tan. Mit der Be­glei­chung ei­ner Schuld ent­steht Ge­rech­tig­keit. Gleich­heit.

Ei­ne Welt oh­ne Er­war­tun­gen wä­re ei­ne un­schul­di­ge Welt. Ei­ne ‚wert­lo­se‘ Welt. Ei­ne wert­freie. Viel­leicht dann ei­ne Welt vol­ler Ach­tung für die ‚Wert­lo­sig­keit‘, für die Frei­heit der Wer­te? (Statt de­ren Ein­ker­ke­rung in ei­nen Schuld­turm.)

Ei­ne Welt der: Ach­tungs­mo­ral? Ei­ne Welt der an­er­kann­ten und an­er­ken­nen­den, un­glei­chen Selbst­zwe­cke — und nicht ei­ne der durch Schuld und de­ren Be­glei­chung ge­schaf­fe­nen blo­ßen Mit­tel?